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Verein für mecklenburgische Geschichte und
Altertumskunde

 
 

Mecklenburgische

   

Jahrbücher

 
 
   

Gegründet von Friedrich Lisch,
fortgesetzt von Friedrich Wigger und
Hermann Grotefend

 
 
   

95. Jahrgang 1931

 
   

Herausgegeben von
Staatsarchivdirektor Dr. F. Stuhr
als 1. Sekretär des Vereins

 

Schwerin i. M.

Druck und Vertrieb der Bärensprungschen Hofbuchdruckerei
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Inhalt des Jahrbuchs.

  Seite
Hermann Grotefend zum Gedächtnis. Mit Bildtafel. Von Staatsarchivdirektor Dr. Friedrich Stuhr - Schwerin I-XII
I. Die Wehrmachtsverhältnisse der Stadt Rostock im Mittelalter. Von Studienreferendar Dr. Walter Freynhagen - Schwerin 1
II. Leonhard Christian Sturms religiöse und kirchliche Stellung. Von Pfarrer D Dr. Theodor Wotschke - Pratau 103
III. Unbekannte Werke des Georg David Matthieu. Mit zwei Bildtafeln. Von Museumsrat Dr. Heinrich Reifferscheid - Schwerin 143
IV. Zur Geschichte des Mönchshofes Kotze. Von Staatsarchivrat Dr. Gottfried Wentz - Magdeburg 147
V. Cornelius Krommeny und sein Rühner Altar. Mit Bildtafel. Von Museumsdirektor Prof. Dr. Walter Josephi - Schwerin 153
VI. Briefe Blüchers an den Großherzog Friedrich Franz I. Von Staatsarchivrat Dr. Werner Strecker - Schwerin 163
VII. Hacke aus Hirschgeweih, gefunden am Conventer See bei RethwischVon Museumsrat Dr. Heinrich Reifferscheid - Schwerin 171
VIII. Streitaxt aus Feldstein, gefunden in PenzlinVon Museumsrat Dr. Heinrich Reifferscheid - Schwerin 175
IX. Denkmalschutz in Mecklenburg-Schwerin 1930-1931. Von Ministerialrat Dr. Otto Schult - Schwerin 179
(I) Denkmale der Vor- und FrühgeschichteVon Museumsrat Dr. Heinrich Reifferscheid - Schwerin 182
(II) Die Baudenkmale. Von Oberbaurat Lorenz - Schwerin 184
(III) Denkmale der Kunst und des Kunstgewerbes. Von Museumsdirektor Prof. Dr. Josephi 199
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   X. Bücherbesprechungen Seite
Staatsminister i. R. D Dr. Adolf Langfeld, Mein Leben. Erinnerungen. Schwerin (Bärensprung) 1930. (Friedrich Stuhr) 203
Dmitrij Nik. Jegorov, Die Kolonisation Mecklenburgs im 13. Jahrhundert. Bd. I und II: Breslau, (Priebatsch) 1930. (Werner Strecker) 204
Gerd Dettmann, Johann Joachim Busch, der Baumeister von Ludwigslust. Mecklenburgische Monographien, Rostock [1929]. (Johann Friedrich Pries) 209
Walter Paatz, Die Lübecker Steinskulptur der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Veröffentlichungen des Lübecker Staats-Archivs, Bd. 9. Lübeck 1929. (Johann Friedrich Pries) 210
Oskar Eggert, Die Wendenzüge Waldemars I. und Knuts VI. von Dänemark nach Pommern und Mecklenburg. - Dänisch-wendische Kämpfe in Pommern und Mecklenburg. Baltische Studien, N.F. Bd. XXIX (1927) und XXX, 2 (1928). (Werner Strecker) 213
Walter Neumann, Die Große Stadtschule zu Rostock in 3 1/2 Jahrhunderten. Rostock 1930. (Werner Strecker) 213
Karl Oldenburg, Aus Bismarcks Bundesrat. Berlin (Hobbing) 1929. (Friedrich Stuhr) 214
Dr. Friedrich Techen, Geschichte der Seestadt Wismar. Wismar (Eberhardtsche Hof- und Ratsbuchdruckerei).1929. (Paul Steinmann) 215
R. Lunderstedt, Festschrift zur 500-Jahrfeier der Schola Fridlandensis. Friedland 1929. (Paul Steinmann) 218
Jahresbericht (mit Anlagen A und B) 221
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Hermann Grotefend

zum Gedächtnis

von

Friedrich Stuhr.

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Dr. Hermann Grotefend
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A m Abend des 26. Mai 1931 ist in Schwerin unser langjähriger Erster Vereinssekretär, der Staatsarchivdirektor a. D. Geheimer Archivrat Dr. Hermann Grotefend im 87. Lebensjahre entschlafen. Wenn wir ihm nun an dieser Stelle Worte der Erinnerung widmen, so geschieht es im Gefühle der Dankbarkeit für das, was er dem Lande und insbesondere unserm Geschichtsverein gewesen ist.

Grotefend war im besten Sinne eine Persönlichkeit. Ausgestattet mit großer Willensstärke und Tatkraft, hat er in den 34 Jahren seiner Schweriner Amtstätigkeit bleibende Werte für unser Archiv geschaffen. Wie frisch ging er an seine Aufgaben heran und wie gründlich löste er sie. Immer wieder kamen ihm neue Pläne, die Archivbestände zu vermehren, zu ordnen und für dienstliche und wissenschaftliche Zwecke zu erschließen. Seinen Vorarbeiten verdanken wir das neue Archivgebäude. Wie verstand er es, jüngere Beamte in ihren Beruf einzuführen und für ihre Arbeit zu begeistern, wie ging er den Archivbenutzern mit Rat und Tat zur Hand. Nichts war ihm verhaßter als Kleinlichkeitskrämerei, und solche Leute, die das Wichtige von dem Unwichtigen nicht zu unterscheiden wußten, pflegte er mit wenig schmeichelhaften Bemerkungen zu bedenken. Ein fröhlicher, zuweilen etwas derber Humor war ihm eigen. Aber selbst wenn sich hie und da jemand getroffen fühlte, übelnehmen konnte ihm niemand etwas. Dafür war alles doch zu sehr in Liebenswürdigkeit und Wohlwollen eingewickelt, wie überhaupt Wohlwollen ein hervortretender Charakterzug bei ihm war.

Weit über die Grenzen Deutschlands hinaus sind seine wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiete der Chronologie, das er besonders liebte und pflegte, bekannt geworden. Es gibt jetzt wohl keinen Historiker, der ohne sein Taschenbuch der Zeitrechnung der Deutschen Mittelalters und der Neuzeit auskommt. Dieses Taschenbuch ist die reife Frucht jahrzehntelanger und bis an sein Ende fortgesetzter Arbeiten und hat noch zu seinen Lebzeiten sechs Auflagen erlebt.

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Im Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine und auf den damit zusammenhängenden Archivtagungen nahm Grotefend eine angesehene Stellung ein. Solange der Geh. Archivrat Dr. Bailleu und später der Geh. Regierungsrat Dr. Wolfram in ihrer geschickten Art den Gesamtverein leiteten, stand Grotefend ihnen helfend und ratend zur Seite. Er war es immer wieder, der auf diesen großen Versammlungen die Teilnehmer trotz ihrer verschiedenen Interessen zusammenhielt. Prallten die Meinungen einmal heftig aufeinander oder stockten die Verhandlungen, so war es nicht selten Grotefend, der mit scharfem Blick das Richtige fand und formulierte. Als nach dem Tode Bailleus der zu seinem Nachfolger ausersehene Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Wolfram nicht sogleich sein Amt antreten konnte, sprang Grotefend in die Bresche und hat den Gesamtverein von 1922-1924 geleitet. Die gemeinsamen Fahrten, die Grotefend und ich viele Jahre hindurch zu den Tagungen des Gesamtvereins unternahmen, haben uns in fast alle Gaue Deutschlands geführt und gehören zu meinen schönsten Lebenserinnerungen. In der Regel vertrat dabei Grotefend die Regierung und ich den Geschichtsverein.

Auch in unserm Geschichtsverein war Grotefend die treibende Kraft, solange er das Erste Sekretariat innehatte, und das war von 1887-1921. Unsere Jahrbücher hat er von Band 53-84 (1888-1919) und unser Urkundenbuch von Band 15 bis in den 22. Band hinein (1890-1907) redigiert und fortgeführt. Er richtete 1891 die Wintervorträge ein, die zuerst im Hotel Luisenhof, später im Saale des neuen Archivs stattfanden und sich wachsender Beliebtheit erfreuten und noch erfreuen. Stofflich hielten die Vorträge sich zunächst eng an die Geschichte der mecklenburgischen Heimat. Als sich dann aber infolge der großen Zeitereignisse das allgemeine Interesse mehr den Fragen der großen deutschen Geschichte zuwandte, da wurde dem Rechnung getragen und daneben die Kultur- und Kunstgeschichte berücksichtigt. Auch Grotefend hat häufig in unseren Versammlungen gesprochen. Seine Vorträge zeichneten sich durch klare Gedankenentwicklung aus und brachten den Hörern stets einen Gewinn, wenn ihnen auch vielleicht etwas die phantasievolle Gestaltung fehlte, die mit sich fortreißt. Die alljährlich im Sommer unternommenen Ausflüge verliefen unter seiner Leitung harmonisch und anregend.

Hannover, Breslau, Aurich, Frankfurt a. M. und Schwerin

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sind die Hauptstationen seines Lebensweges. Grotefend gehört der dritten Generation einer Gelehrtenfamilie an. Er ist am 18. Januar 1845 in Hannover als Sohn des Lehrers am Lyzeum, späteren Geh. Archivrats Dr. Karl Grotefend geboren. Sein Großvater war der um die Entzifferung der Keilschrift verdiente Lyzealdirektor Georg Grotefend in Hannover. So lag es nahe, daß auch der Sohn und Enkel sich den Wissenschaften zuwandte. Seine Studien in Göttingen und Berlin zeitigten 1869 eine Erstlingsarbeit über Sphragistik und schlossen mit einer Dissertation über die Gesta Friderici imperatoris des Bischofs Otto von Freising ab, auf Grund der er am 15. März 1870 in Göttingen promovierte.

Am 1. April desselben Jahres trat er als Archivaspirant beim Kgl. Staatsarchiv in Breslau ein. Dort erhielt er unter C. Grünhagens Leitung seine praktische Ausbildung, die ihm leicht wurde, weil er vom Elternhause schon viele Kenntnisse für seinen Beruf mitbrachte. Seine in Breslau ausgearbeiteten und 1875 in erster Auflage erschienenen Stammtafeln der schlesischen Fürsten aus dem Hause der Piasten sind für die Genealogie dieser Fürsten grundlegend geworden und sind noch heute ein brauchbares Hilfsmittel für den Forscher.

Am 1. Januar 1872 zum Archivsekretär ernannt, erhielt Grotefend schon am 1. Oktober 1874 als kommissarischer Vorsteher die selbständige Verwaltung des, wenn auch nur kleinen, Kgl. Staatsarchivs zu Aurich. Gewiß ein Beweis für die Tüchtigkeit des jungen Beamten. Doch hielt es ihn nicht lange in Aurich. Er sehnte sich nach einer umfassenderen Tätigkeit, und so folgte er zum 1. Februar 1876 einem Ruf nach Frankfurt a. M. auf die städtische Archivarstelle, um die er sich beworben hatte. Dort konnte sich sein Organisationstalent so recht auswirken. Die Archivalien lagerten an verschiedenen Stellen in der Stadt, ihre wissenschaftliche Erschließung durch Archivbenutzer lag in den Anfängen. Grotefend hat die Bestände in dem neuen Archivgebäude, das bei seiner Ankunft bereits im Bau war und auf dessen Lage und Größe er leider keinen Einfluß mehr hatte, zusammengezogen, in großen Gruppen geordnet und vor allem auch für die Wissenschaft erschlossen. Sein Verdienst ist es auch, daß das Frankfurter Archiv als eines der ersten in Deutschland seine Inventare herausgab, deren ersten, 1888 erschienenen Band er noch selbst bearbeitet hat.

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Damit haben wir bereits die Schwelle seiner Schweriner Amtszeit überschritten. Als Grotefend, von Großherzog Friedrich Franz III. auf Empfehlung seines Bruders, des Herzogs Johann Albrecht, berufen, am 1. Oktober 1887 die Leitung des Geheimen und Haupt-Archivs übernahm, fand er eine Behörde vor, in der es sich lohnte zu arbeiten. Seine beiden Vorgänger, der geniale Friedrich Lisch und der gelehrte Friedrich Wigger, hatten das Archiv in den vorausgehenden 50 Jahren bereits auf eine beachtliche Höhe gebracht. Anstatt daß sich die Regierung früher vielfach nur die Akten vorlegen ließ, war es längst üblich geworden, daß das Archiv aus seinem Material Berichte, zumeist aus den Gebieten des Privatrechts und des öffentlichen Rechts, erstattete, die, wie es 1886 ein Ministerialreferent als weiterhin unausbleiblich und als wünschenswert erklärte, aus den aufgefundenen Beweismitteln und erforschten Tatsachen die nötigen Schlüsse zogen und danach ein eigenes definitives Urteil enthielten. Weiter hatte das Archiv längst die Fesseln abgestreift, die ein übertriebener und uns heute kaum noch verständlicher Bürokratismus in früheren Jahrhunderten um dasselbe gelegt hatte. Die Wissenschaft war darin heimisch geworden. Archiv und Geschichtsverein hatten sich die Jahrbücher und Urkundenbücher geschaffen und sie in enger Zusammenarbeit mit ihren Forschungen erfüllt. Schlechter stand es um die Archivbestände. Nach der Reichsgründung hatte die Reichsgesetzgebung auch auf Mecklenburg stark eingewirkt und die Aufhebung oder Neuorganisation mancher Behörden und Institute veranlaßt. Infolgedessen waren in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts große, für den täglichen Gebrauch entbehrlich gewordene Aktenmassen dem Archiv zugeströmt. Diesem plötzlichen Aktenandrang, der die Zahl der belegten Aktenräume von etwa 4000 im Jahre 1835 auf 9000 im Jahre 1887 anwachsen ließ, war das Archiv weder mit seinen Arbeitskräften noch mit seinen Räumen gewachsen. Die neuen Akten konnten zunächst nur oberflächlich gesichtet werden und beengten das Archiv unerträglich. Ihre Verschmelzung mit den alten Beständen gelang erst allmählich und war 1887 noch nicht beendet. So machte die Entwicklung des Archivs, kurz bevor Grotefend die Leitung übernahm, eine gewisse Krise durch. Er, der Mann der Praxis, kam gerade zur rechten Zeit.

Da der Aktenandrang nach 1887 noch weiter zunahm und die Zahl der belegten Aktenräume sich bis 1907 auf über

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18 000 Aktenräume erhöhte, war es Grotefends ständige Aufgabe, für neuen Platz zu sorgen. 1888-89 gewann er durch bessere Anordnung des Repositoriennetzes in den beiden Erdgeschossen des alten Regierungsgebäudes und durch Verlegen der Handbücherei in den Urkundensaal Raum. 1892 kamen bei Übersiedelung des Hypothekendepartements in das neue Regierungsgebäude drei Räume, darunter das langgestreckte Zimmer im Ausbau, hinzu. Aber bald genügte auch das nicht und mußte er sein Augenmerk auf Räume außerhalb des alten Regierungsgebäudes richten. 1902-4 erhielt das Archiv Räume im Erdgeschoß und auf dem Boden des neuen Regierungsgebäudes. 1906 erwog man, eins der kleinen Großherzoglichen Häuser in der Ritter- oder Theaterstraße hinzuzunehmen. Allmählich sah man jedoch ein, daß sich dem Ausdehnungsbedürfnis des Archivs auf längere Zeit nur durch ein geräumiges neues Gebäude abhelfen ließ, worauf Grotefend immer wieder hinwies. Nachdem er 1907 nochmals in einer Denkschrift die Erfordernisse des Archivs auf Grund längerer Studien in anderen Archiven dargelegt hatte, wurde der Neubau in der Beaugencystraße beschlossen und bis 1911 von dem späteren Ministerialdirektor Ehmig ausgeführt. Die ganze zweckmäßige Inneneinrichtung, soweit sie nicht rein baulicher Art ist, beruht aber im wesentlichen auf Grotefends Vorarbeiten.

Entworfen hat Grotefend 1888 eine Benutzungs- und Gebührenordnung, 1892 eine Dienstordnung, dazu ein Regulativ über die Ordnung und Verzeichnung des Archivs, die den Geschäftsbetrieb auf eine neue Grundlage stellten. Das alte Prinzip des Einordnens aller Akten nach dem System, das der Schweriner Archivarius Evers d. ä. 1762 aufgestellt hatte, gab man nun auf und ersetzte es für alle neu hinzukommenden durch das sogen. Provenienzprinzip. Danach blieben die Bestände so beisammen, wie sie entstanden waren, und reihten sich gleichwertig aneinander.

In Regierungskreisen war Grotefend geschätzt. Besonders hat der verstorbene Ministerialdirektor Schmidt vom Innenministerium gern in Angelegenheiten des Archivs und der Kommission zur Erhaltung der Denkmäler, deren Mitglied Grotefend war, mit ihm zusammen gearbeitet. Für Grotefends wissenschaftliche Betätigung, die auch in Schwerin anhielt, sei auf die Übersicht seiner Schriften verwiesen. Die Benutzung

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des Archivs durch Wissenschaftler und Familienforscher hat unter seiner Leitung auch in Schwerin einen starken Aufschwung genommen. Eine planmäßig ausgebaute Handbibliothek hat sie noch erleichtert.

An Ordensauszeichnungen hat Grotefend erhalten: 1892 das Ritterkreuz 1. Kl. des Braunschweigischen Ordens Heinrichs des Löwen, 1894 das Ritterkreuz des Mecklenburgischen Hausordens der Wendischen Krone, 1898 das Komturkreuz 2. Kl. des Norwegischen St. Olafs-Ordens, 1912 das Ehrenkreuz des Bayrischen Verdienstordens vom Heil. Michael und 1913 das Komturkreuz des Dänischen Danebrogs-Ordens.

Am 9. April 1899 ward er Geh. Archivrat, am 1. April 1920 erhielt er bei der damaligen Umänderung der Amtsbezeichnungen die eines Archivdirektors und nach seiner Pensionierung unter Angleichung an die Preußischen Verhältnisse am 1. April 1926 die Amtsbezeichnung eines Staatsarchivdirektors a. D.

Nach 51jähriger Dienstleistung ist Grotefend, 76 Jahre alt, am 1. Juli 1921 in den Ruhestand getreten. Wahrlich, ein reich gesegnetes Wirken ist ihm beschieden gewesen. Aber auch nach seiner Pensionierung ist er zunächst noch regelmäßig ins Archiv gekommen und hat aus den Kirchenbüchern nützliche Zusammenstellungen der Pächter, Holländer, Schäfer und Müller (bis 1799) angefertigt, die wegen ihrer geringen Seßhaftigkeit dem Familienforscher so viele Schwierigkeiten bereiten. Von Ende 1926 an ist er seltener gekommen und schließlich ganz fortgeblieben. Er war doch müde geworden. Aber die Verbindung mit ihm blieb. Grotefend hat sich noch gern am Korrekturlesen beteiligt. Er wohnte damals schon bei seinem Schwiegersohn, dem Präsidenten der Oberpostdirektion Möller. Morgens saß er, meist lesend oder das Treiben auf der Straße beobachtend, am Fenster. Gegen Abend besuchte er im Winter noch ziemlich regelmäßig seinen Stammtisch bei Klemann, wenn auch nur auf kurze Zeit. Auch dort sind wir noch mehrfach zusammen gewesen. Die schönen Sommertage genoß er in den letzten Jahren monatelang in dem von ihm besonders geliebten Ostseebad Brunshaupten. Auch 1931 plante er wieder eine Reise dorthin. Bevor er diese aber antreten konnte, hat ihn am 26. Mai ein sanfter Tod hinweggenommen. Am 29. Mai 1931 haben wir ihn von der Kapelle des Krematoriums zu Grabe geleitet.

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So hat Grotefend gelebt und gearbeitet und so wird er in unserm Gedächtnis fortleben.

An Bildern aus der Schweriner Zeit sind von ihm, neben einer großen Anzahl von Liebhaberaufnahmen, hauptsächlich erhalten:

  1. Ölgemälde, sitzend, 1902 von Ferdinand Meyer gemalt (im Direktorzimmer des Archivs).
  2. Photographie, im alten Archiv am Arbeitstisch sitzend, 1912 zum 25jährigen Jubiläum als Erster Vereinssekretär aufgen. (Jahrb. 78; Mecklb. Ztg. vom 29. Sept. 1912).
  3. Photographie, Brustbild, 1918 aufgen. (Halbmonatsschrift "Lug ins Land" 1919/20, Nr. 12).
  4. Photographie, im neuen Archiv am Arbeitstisch sitzend, umgeben von seinen Kollegen, am 4. März 1920 aufgen. Dieses Bild halten wir für das beste aus seiner letzten Zeit. Wir bringen es im Ausschnitt zu diesem Nachruf.

Schriftenverzeichnis. 1 )

I. Selbständige Schriften.

  1. Über Sphragistik. Hannover (Fr. Culemann) 1869.
  2. Der Werth der Gesta Friderici imperatoris des Bischofs Otto von Freising f. d. Gesch. des Reichs unter Friedrich I. Hannover (Hahnsche Hofbuchh.) 1870. Dissertation.
  3. Handbuch der historischen Chronologie des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. Hannover (Hahnsche Hofbuchh.) 1872.
  4. Über Sphragistik. Beiträge z. Aufbau der Urkundenwissenschaft. Breslau (Joseph Max) 1875.
  5. Stammtafeln der schlesischen Fürsten bis zum Jahre 1740. Breslau (Joseph Max). 1. Aufl. 1875, 2. 1889.
  6. Christian Egenolff, der erste ständige Buchdrucker zu Frankfurt a. M. und seine Vorläufer. Frankfurt a. M. (K. Th. Völcker) 1881.
  7. Urkundenbuch der Familie von Heimbruch. I. 1142-1500. II. 1502-1603. Stammtafeln 1142-Neuzeit. Frankf. a. M. (Kumpf & Reis) 1882. 1886. 1887.
  8. Cronberg, Burg, Stadt und Geschlecht. Frankf. a. M. (Theod. Wentz) 1884.
  9. Die Familie von Eschborn u. ihr Zusammenhang mit d. Fam. von Cronberg von Fr. Ritsert u. H. Grotefend. Frankf. a. M. (K. Th. Völcker) 1884.

1) Dem Verzeichnis liegen eigenhändige Aufzeichnungen Grotefends zugrunde.
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  1. Die Bestätigungsurkunde des Domstifts zu Frankfurt a. M. von 882 u. ihre Bedeutung für das Stift. Frankf. a. M. (K. Th. Völcker) 1884. 2. Abdr. 1886.
  2. Verzeichnis von Abhandlungen u. Notizen zur Gesch. Frankfurts aus Zeitschriften u. Sammelwerken. Frankf. a. M. (K. Th. Völcker) 1885.
  3. Gesch. d. Geschlechts von Oeynhausen. 4. Teil: Stammtafeln. Frankf. a. M. (Rommel) 1889.
  4. Mittheilungen über die Fam. Grotefend. Für den Familienverband. 11 Hefte. Schwerin 1890-1909.
  5. Zeitrechnung des deutschen Mittelalters u. der Neuzeit. I: Glossar u. Tafeln. II, 1: Kalender der Diöcesen Deutschlands, der Schweiz u. Skandinaviens. II, 2: Ordenskalender, Heiligenverzeichnis, Nachträge z. Glossar. Hannover (Hahnsche Buchh.) 1891. 1892. 1898.
  6. Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. Sechs Auflagen. Hannover u. Leipzig (Hahnsche Buchh.) 1898. 1905. 1910. 1915. 1922. 1928.
  7. Die Vorfahren und Nachkommen von Johann Christian Grotefend († 1813). Schwerin 1901.
  8. Der Königsleutnant Graf Thoranc in Frankf. a. M. Aktenstücke über die Besetzung der Stadt durch die Franzosen 1759 bis 1762. Frankf. a. M. (K. Th. Völcker) 1904.
  9. Abriß der Chronologie des deutschen Mittelalters u. der Neuzeit. (Grundriß der Gesch. Wissensch., hrgb. von Aloys Meister I [1], 1; I [2], 3). Zwei Aufl. Leipzig 1906. 1912.

II. Redaktionstätigkeit und Herausgabe von Schriften anderer.

  1. Mittheilungen d. Ver. f. Gesch. u. Alt.-Kunde in Frankf. a. M. Bd. V, 4-VII, 6. Frankf. (K. Th. Völcker) 1879-1885.
  2. Neujahrsblatt des obigen Vereins. 1878-1885.
  3. Archiv f. Frankfurts Gesch. u. Kunst. N. F. Bd. VII-XI. Frankf. (K. Th. Völcker) 1881-1884.
  4. Geschichte von Frankfurt a. M. von A. Horne. 2. Aufl. unter Mitwirkung von H. Grotefend. Frankf. (Jügel) 1882.
  5. Quellen zur Frankf. Geschichte. Bd. I, II. Frankf. (Jügel) 1884. 1888.
  6. Führer durch den Taunus. Frankf. (Ravenstein) 1885.
  7. Inventare des Frankfurter Stadtarchivs. Bd. I. Frankf. (Völcker) 1888.
  8. Jahrbücher d. Ver. f. Mecklb. Gesch. u. Alt.kunde. Bd. 53-84. Schwerin (Stiller, dann Bärensprung) 1888-1919.
  9. Geschichte des Geschlechts von Oeynhausen, bearb. von Julius Graf v. O. Bd. III. Frankf. (Rommel) 1889.
  10. Begrüßungsschrift zur Gen. Verf. des Gesamtvereins der deutschen Gesch.- u. Alt.-Vereine in Schwerin 7. bis 10.9.1890. Schwerin (Bärensprung) 1890.
  11. Mecklenburgisches Urkundenbuch Bd. 15, ab Bogen 35, - Bd. 22. Bogen 39. Schwerin (Stiller, dann Bärensprung) 1890-1907.
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III. Aufsätze in Zeitschriften.

Mecklenburgisches:

  1. Jahrb. d. Ver. f. Mecklb. Gesch. u. Alt.-Kunde:
    (1) Mecklenburger auf d. Univ. Bologna, Bd. 53.
    (2) Bem. z. d. Brücknerschen Aufsatz: Rethra lag auf der Fischerinsel in der Tollense, Bd. 54.
    (3) Weitere Bem. dazu. - Feuer in d. Kirche zu Gr.-Methling. - Aus d. Jugend des Schauspieldirektors Conrad Ernst Ackermann - Bd. 55.
    (4) Mein letztes Wort in d. Rethrafrage. - Münzfund zu Mölln bei Krakow. - Vornamen in Mecklb. - Das erste Velociped in Mecklb. -, Bd. 56.
    (5) Das ehem. Kirchspiel Poverstorf. - Nachtr. zu "Untergegangene Dörfer". - Das Erlöschen d. Fam. v. Bellin. - Bruchstück des Rolandliedes -, Bd. 57.
    (6) Die goldenen Freitage, Bd. 59.
    (7) Neun Frauenbriefe aus d. Wende des 16. u. 17. Jh., Bd. 60.
    (8) Werlesche Forschungen, Bd. 64.
    (9) Die Grenzen des Bistums Kammin, Bd. 66.
    (10) Die Grenzen des Bistums Schwerin gegen Kammin, Bd. 68.
    (11) Über Stammtafeln (Fam. Wachenhusen), Bd. 70.
    (12) Werlesche Forschungen, Zusatz. - Werden u. Wachsen d. Fleckens Dargun (Überarbeitung des Beyerschen Aufsatzes) -, Bd. 74.
    (13) Die Schweriner Goldschmiede bis 1830. - Die Schweriner Zinngießer bis 1800 -, Bd. 77.
    (14) Francesco Borno u. Juan dei Regaci, die ersten welschen Bauleute des Herzogs Joh. Albrecht. - Nachtr. zu d. Schweriner Goldschmieden -, Bd. 81.
  2. Korrespondenzblatt d. Gesamtvereins d. deutschen Gesch.- u. Alt.-Vereine:
    Die Fürsorge für d. Altertümer des Landes u. die Ziele der Denkmälerkommission in Mecklb., Jg. 1890.
  3. Protokoll der 2. Generalvers. der Baugewerksmeister für Mecklb.-Schwerin:
    Der Dom zu Schwerin.

Nicht Mecklenburgisches:

  1. Serapeum. Zeitschr. f. Bibl. Wiss., Jg. 1870: Kalender.
  2. Anzeiger für Kunde deutscher Vorzeit, Jg. 1870, 71: Laurea sanctorum u. Cisiojanus.
  3. Der deutsche Herold, 5. Jg. (1874): Über Maltha (Bezeichnung eines Siegelstoffes).
  4. Abh. d. Schlesischen Ges. f. vaterländ. Cultur, Jg. 1872/73: Breslauer Piasten.
  5. Zeitschr. d. Ver. f. Gesch. u. Altertum Schlesiens, Bd. 10: Schweidnitz-Jauerscher Adel; Bd. 11: Sgl. Boleslaws II. von Schlesien; Bd. 12: Landeshauptleute der Fürstentümer Schweidnitz u. Jauer. U. a.
  6. Zeitschr. d. hist. Ver. f. Niedersachsen, Jg. 1868, 71, 94: Kl. urk. Mitt.
  7. Ostfriesische Monatsschr., Jg. 1875: Ostfr. Bauernrechte; Jg. 1878: Ostfr. Glockenkunde.
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  1. Mitt. d. Ver. f. Gesch. u. Alt.kunde zu Frankfurt a. M., Bd. V (1879): Zur ält. Gesch. d. Klosters Patershausen. U. a.; Bd. 17 (1881): Zunft d. Glasmaler u. Glaser in Frankf., Entstehung d. Stadtbibliothek zu Frankf., Zur Gesch. der Fam. Goethe (mit Stammbaum), Die Gemälde im städt. hist. Museum. U. a.: Bd. VII (1885): Das Frankf. Stadtwappen vor dem Richterstuhle der Heraldik. U. a.
  2. Archiv f. Frankfurter Gesch. u. Kunst, z. F., Bd. 1 (1888): Diarium des Officier-Corps des XI. Stadtquartiers von 1797 bis 1812. U. a.; Bd. 4 (1893): Der Prorector u. d. Frankf. Gymn. am Ende d. vor. Jhs.
  3. Berichte d. freien deutschen Hochstiftes zu Frankf. a. M., Jg. 1881/82: Die Textor-Clauersche Grabstelle; Jg. 1882/83: Die deutschen Monatsnamen, Gregorianische Kalenderreform, Mitt. über Königslt. Grafen Thoranc. U. a.; Jg. 1888: Chronologische Analekten.
  4. Hansische Geschichtsblätter, Bd. 15 (1886): Zur Eroberung Gotlands durch d. Deutschen Orden 1398.
  5. Korr. Bl. d. Gesamtver. d. deutschen Gesch. u. Alt.Vereine, Jg. 1895: Dänemarks Kirchenbücher; Jg. 1911: Die Handwerksnamen. - U. a. in den Jg. 1894, 1909, 1919.
  6. Deutsche Zeitschr. f. Gesch. Wissenschaft, Jg. 1896: Der Kalenderstein von Sturzelbronn in Lothringen.
  7. Burschenschaftliche Blätter, Jg. 13 (1899): Zur Gesch. der Bursch. Teutonia in Halle.
  8. Schlesiens Vorzeit in Bild u. Schrift. N. F., Bd. 6: Niederdeutsche Teppiche des 16. Jhs.
  9. Mitt. d. Ver. f. d. Gesch. Berlins, Jg. 1911: Abmarsch des alten Dessauers vom Lustgarten u. Ankunft auf d. Wilhelmsplatze zu Berlin.

IV. Ausschließlich in Tagesblättern veröffentlichte Arbeiten.

Mecklenburgisches:

Tägliche Rundschau Jg. 1895, Nr. 58: Fritz Reuter in Dömitz.

Nicht Mecklenburgisches:

Frankfurter Nachrichten, Jg. 1877 Nr. 158: Frankf. Neutralitätsvertrag von 1796; Nr. 175, 181, 211: Frankf. Zunftgebräuche; Nr. 221-235: Die erste Reise des jüngeren Chronisten G. A. von Lersner. U. a. Nr. 234. - Jg. 1878, Nr. 78: Handwerksgebräuche d. Glaser in Frankf. U. a. Nr. 22. - Jg. 1879, S. 2687 ff.: Aus der Kindheit unsers Kalenders. - Jg. 1882, Nr. 256: Nachlaß der Frau Rath Goethe. - Jg. 1885, S. 4236 ff.: Zur Jubelfeier d. ersten Luftschiffahrt in Deutschland 1785. - Jg. 1886, S. 1035; 1887, S.1317 ff.: Versch. kleine Mitt. z. Frankf. Gesch.

Mecklb. Zeitung, Jg. 1900, Nr. 301: Festrede z. Feier des 500-jährigen Gutenberg-Jubiläums.

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I.

Die Wehrmachtsverhältnisse
der Stadt Rostock
im Mittelalter

von

Walter Freynhagen.

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Inhaltsangabe.

Kapitel I. Historischer Teil.

§ 1. Die Erwerbung der Militärhoheit durch die Stadt 5 - 11
§ 2. Rostocks Wehrmacht bis zum Aufkommen des Söldnerwesens 11 - 22
§ 3. Die Verwendung und Bedeutung der Soldtruppen und der Geschütze 22 - 30
§ 4. Das Verpflegungswesen 30 - 34
§ 5. Der städtische Marstall 34 - 36
§ 6. Die Heeresverwaltung und die Fürsorge des Ratskollegiums für die Wehrmacht; die Besetzung der militärischen Führerstellen durch Ratsmitglieder 36 - 46

Kapitel II. Systematischer Teil.

§ 1. Die Bürgerwehr 46 - 62
§ 2. Das Söldnerwesen 63 - 77
§ 3. Das Geschützwesen 77 - 92
§ 4. Das Befestigungswesen 92 - 102

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Abkürzungen.

1. Urkundensammlungen.

M.U.B. = Mecklenburgisches Urkundenbuch Bd. 1-24 (Schwerin 1863 ff.).
H.R. = Hanserezesse, herausgegeben durch die historische Kommission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften (Leipzig 1870 ff.).

2. Zeitschriften.

J.M.G. = Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte, Bd. 1 ff. (1836 ff.). [im Text benutzt M.J.B.]
B.G.R. = Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock, Bd. 1 ff. (1890 ff.).
H.G.B. = Hansische Geschichtsblätter, Bd. 1 ff. (1872 ff.).

3. Ungedrucktes Urkundenmaterial des Ratsarchivs.

K.R. = Kämmereirechnung.
G.R. = Gewettrechnung.
Sch.R. = Schoßrechnung.
W.R. = Weinrechnung.
Sch.Reg. = Schoßregister.
lib. arb. = liber arbitriorum civitatis Rozstock.
lib. proscr. = Proskriptionsbuch.
lib. comput. = liber computationum (Rechnungsbuch).
Wittschopsbok = Wirtschaftsbuch.
St.Fr. = Stadtbuchfragment.

4. Münzen.

mr. = Mark.
sol. oder ß = solidus (Schilling).
den. = denarius (Pfennig).


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Kapitel I.

Historischer Teil.

§ 1.

Die Erwerbung der militärischen Hoheitsrechte durch Rostocks Rat und Bürgerschaft.

Die Stadt Rostock bietet das charakteristische Bild einer mittelalterlichen Stadtgemeinde. Sie war vom Fürsten Borwin I. vor 1218 gegründet, auf landesherrlichem Grund und Boden angelegt. Schon im Laufe des 13. Jahrhunderts nutzte der städtische Rat politische und finanzielle Verlegenheiten der meist geldarmen Landesherren aus, um Freiheiten und weitgehendste Selbständigkeit von ihnen zu erlangen 1 ).

Der früh beginnende Kampf der Rostocker Bürgerschaft um Autonomie hatte das Ziel, vor allem auch die Militärgewalt dem Landesherrn zu entwinden und auf die aus ihren eigenen Bewohnern gebildete Ratsobrigkeit zu übertragen. Am besten können wir die Fortschritte der bürgerlichen Emanzipationsbewegung auf dem Gebiete des Befestigungswesens verfolgen. "Wie überall, so hat auch hier der Stadtherr anfänglich das alleinige Verfügungsrecht über die Stadtmauern" 2 ). Das Sinnbild landesherrlicher Militärhoheit übe


1) Vgl. K. Koppmann, Geschichte der Stadt Rostock, Rostock 1887, S. 14 ff.; P. Meyer, Die Rostocker Stadtverfassung bis zur Ausbildung der bürgerlichen Selbstverwaltung (um 1325), Rost. Diss. 1929, S. 21 ff.
2) E. Rütimeyer, Stadtherr und Stadtbürgerschaft in den rheinischen Bischofsstädten. Ihr Kampf um die Hoheitsrechte im Hochmittelalter, Stuttgart 1928, S. 126. - Vgl. E. Daenell, Die Blütezeit der deutschen Hanse. Berlin 1906, Bd. 2 S. 452 ff.
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rung der Stadt, auch in der Mittelstadt erbauen ließ, wie die noch heute "Burgwall" benannte Straße bezeugt 3 ).

Von grundlegender Wichtigkeit war es für Rat und Bürgerschaft, die Aufsicht und das Verfügungsrecht über die Wehranlagen an sich zu bringen und sie dem städtischen Interesse dienstbar zu machen.

Bezeichnend für die Energie, mit der die Stadtgemeinde den Kampf um ihre Selbständigkeit und Machterweiterung führte, ist die Tatsache, daß dem Landesherrn der Burgbau in der Neustadt versagt wurde: Die Stadtobrigkeit hielt es für eine Verletzung der privilegierten Freiheit Rostocks, als Borwin III. im Jahre 1266 vor dem Bramower Tor die Errichtung eines landesherrlichen Schlosses in Angriff nahm. Der "Burgwall" in der Mittelstadt ging schon um 1262 in städtischen Besitz über. Auf Beschwerden des Rates wurde der bereits begonnene Bau unterbrochen, und Borwins Sohn Waldemar mußte sogar einwilligen, daß das Fundament dieser letzten fürstlichen Burg niedergerissen wurde. Er mußte ausdrücklich versichern, daß weder von ihm noch von seinen Erben dort jemals wieder eine Burg erbaut würde 4 ). An Stelle der landesherrlichen Burgen, der wichtigsten militärischen Stützpunkte fürstlicher Gewalt, traten nunmehr offene Fürstenhäuser 5 ). Ebenso bestätigte Heinrich von Mecklenburg 1323 der Stadt: "Nulla etiam municio ... per nos et aliquos nostro nomine debet construi," und versprach gleichzeitig, der Bürgerschaft zu Hilfe zu kommen, falls sie von fremden Fürsten und Herren angegriffen würde 6 ). Bald nach der Vereinigung der drei ursprünglich selbständigen Stadtgemeinden (1262, 18. Juni 7 )) gelang es Rostocks Rat und Bürgerschaft endgültig, die landesherrliche Gewalt aus den Stadtmauern zu entfernen; die Stadtobrigkeit nahm seit dieser Zeit das wichtige Befestigungsrecht, das "ius murorum", für sich allein in Anspruch. Zur Wahrung desselben Rechtes wurde vom Rat ausbedungen, daß geistliche Körperschaften und fremde Ritter und Adlige, die innerhalb der Stadtmauern Grund und


3) L. Krause, Zur Rostocker Topographie (B.G.R. Bd. 13), S. 37 f.
4) M.U.B. 2 Nr. 1096 (1266, 27. Oktober).
5) Krause a. a. O. S. 37 ff., Anhang IV (Die Fürstenburgen und Fürstenhöfe in der Stadt).
6) M.U.B. 7 Nr. 4449 (1323, Juni 4).
7) Krause a. a. O. S. 34.
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Boden erwarben, keine befestigten Stadtburgen errichten dürften 8 ); alle baulichen Veränderungen, welche mit der Befestigung zusammenhingen (d. h. alle Bauten längs der Stadtmauer), durften seitdem nur noch mit Bewilligung des Rates ausgeführt werden und unterstanden dem Zwangsrecht des Rates. Er bot die Bürger zum Mauerbau auf oder bestimmte die Höhe der Ablösungssumme; das Ratskollegium setzte die Höhe des Strafgeldes fest, das wegen Beschädigungen der Befestigungsanlagen erhoben wurde; ihm allein wurden alle Beiträge und Geldbußen "ad murum" bezahlt 9 ).

Eine Machterweiterung bedeutete auch der Erwerb eines umfangreichen Landbesitzes durch die Stadt, der ausdrückliche Verzicht des Landesfürsten auf das Befestigungsrecht innerhalb des neu erworbenen Stadtgebietes und die gleichzeitige Erlaubnis, daß innerhalb eines bestimmten Umkreises des Stadtbezirkes nur von der Ratsobrigkeit selbst Wehr- und Sperranlagen errichtet werden durften. Die unmittelbar an der Warnow gelegene Hundsburg und die in Warnemünde errichtete Dänenburg mußten den nach Selbstregierung und militärischer Autonomie strebenden Bürgern ein Dorn im Auge sein, da beide Burgen im Kriegsfalle die gesamte Schiffahrt Rostocks lahmlegen konnten 10 ). Nicht eher ruhte das Ratskollegium, als bis die Hundsburg, das Symbol fürstlicher Gewalt, geschleift wurde. Bereits 1278 erwarb die kapitalkräftige Stadtgemeinde die feste Zwingburg durch Kauf und erreichte gleichzeitig in dieser Urkunde ein weiteres wichtiges Zugeständnis des Landesherrn: Fürst Waldemar mußte für sich und seine Nachkommen die Verpflichtung eingehen, nie wieder eine Sperrburg "längs der Warnow bis ans Meer" zu errichten, ohne mindestens eine Meile vom Flusse entfernt zu bleiben 11 ). Um auch in Zukunft den weiteren Umkreis der Stadt und vor allem die Warnow-Schiffahrt militärisch zu sichern, mußte


8) M.U.B. 6 Nr. 3743 (1315, Urkunde des Klosterhofes Klein-Doberan): "... edificia in ea erigendi habeant facultatem, que tamen probabiliter non cedant in periculum nostre civitatis manifestum." - M.U.B. 3 Nr. 1722 ähnlich. - Vgl. Krause a. a. O. S. 37.
9) Vgl. S. 60 f.
10) M.U.B. 2 Nr. 1152 (1268-70).
11) M.U.B. 2 Nr. 1474 (1278, 21. Dezember). Im Jahre 1325 27.7. erneuerte Fürst Heinrich von Mecklenburg das Privileg des Fürsten Waldemar (M.U.B. 7 Nr. 4647).
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das Kloster zum Heiligen Kreuz in einem 1307 mit dem Rat abgeschlossenen Kaufvertrag versprechen, keine neue Befestigung zu errichten. Für den Kriegsfall bedang sich die Stadtobrigkeit das "Öffnungs-" und Besatzungsrecht aus 12 ).

Auch bei dem Erwerb des Hafenortes Warnemünde können wir die Fortschritte städtischer Machterweiterung verfolgen. Nach erbitterten Kämpfen um die dortigen Sperranlagen im Laufe der beiden ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts gelang es Rat und Bürgerschaft, den Hafen Warnemünde im Jahre 1323 in festen Stadtbesitz zu bringen und die dortige Dänenburg zu brechen 13 ). Schon damals erwarb die Stadtobrigkeit wahrscheinlich das Recht, zum Schutze der Warnowmündung eigene Wehranlagen zu errichten. Eine Bestätigung für diese Annahme finden wir in einer allerdings späteren Urkunde vom Jahre 1354, worin die Dienstpflichten der Warnemünder Bewohner festgelegt wurden 14 ).

Bezeichnend für Rostocks selbständige politische Machtstellung ist es, daß die Stadt bereits im Jahre 1259, vor der Vereinigung von Alt-, Mittel- und Neustadt, unabhängig vom Landesherrn mit Lübeck und Wismar ein Bündnis abschloß 15 ). Im Rostocker Landfriedensbündnis (13. Juni 1283), das zwischen mehreren norddeutschen Fürsten auf der einen Seite und dem Kreis der wendischen Städte andererseits auf 10 Jahre abgeschlossen wurde, wird die Stadt Rostock neben ihrem Landesherrn als selbständiges Bundesgebiet genannt, das wie eine unabhängige Macht das festgesetzte Truppenkontingent zu stellen hat 16 ). Daß sich Rostocks Stadtobrigkeit bereits im 13. Jahrhundert nicht damit begnügte, auf diplomatischem Wege Schutz- und Trutzbündnisse abzuschließen oder durch handelspolitische Maßnahmen ihre Feinde zu treffen, sondern ihren diplomatischen Schritten auch durch Waffengewalt energischen Nachdruck verlieh, beweist der von Rostock und seinen verbündeten Städten gegen König Erik Magnussen von Nor-


12) M.U.B. 5 Nr. 3184 (1307, 27. August).
13) M.U.B. 7 Nr. 4424 (1323, 11. März). Vgl. Krause a. a. O. S. 43 f.
14) Vgl. S. 61 Anm. 213.
15) M.U.B. 2 Nr. 847 (1259, 6. September). Vgl. Dietrich Schäfer, Die Hansestädte und König Waldemar von Dänemark, S. 81, Jena 1879.
16) O. Fock, Rügensch-Pommersche Geschichten aus 7 Jahrhunderten, Teil 2 S. 184, Leipzig 1861.
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wegen geführte Krieg 17 ) (1283-85). "Wie jede andere Genossenschaft, welche das Waffenrecht hatte, so besaß der Rat bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts das Recht der Fehde" 18 ). In Übereinstimmung mit dieser Tatsache bezeugen uns die frühesten Nachrichten über die bürgerlichen Wehrmachtverhältnisse die Autonomie der Stadtobrigkeit. Die Kontrolle über den inneren Sicherheitsdienst lag in den Händen des Rates; wir sehen ihn die Bürgermiliz wie zum Mauerbau, so auch zur Bewachung der Befestigungsanlagen und zur auswärtigen Heeresfolge aufbieten; zu seinen Machtbefugnissen gehörte es, Söldner zu werben und in städtische Kriegsdienste zu stellen.

Die Befreiung von der landesherrlichen Heeresfolge scheint Rostock gleichfalls schon im ausgehenden 13. Jahrhundert erreicht zu haben. In welchem Jahre die Stadtobrigkeit die Militärhoheit, "die sich einmal in der Aufsicht über die Befestigungen, die Stadtmauern, sodann im Oberbefehl über die städtischen Kriegstruppen äußerte" 19 ), an sich brachte, wissen wir nicht. Es ist kein besonderes Privileg erhalten, in dem die Militärhoheit und die Befreiung von landesherrlicher Heeresfolge in aller Form der Stadt zugesichert wurde. Da jedoch Rostock bereits 1266 mit der Verleihung des alleinigen "Fortifikationsrechtes" in den rechtlichen Besitz eines wichtigen Bestandteiles der Militärhoheit gelangte und sich 1278 darüber hinaus die militärische Beherrschung der näheren Umgebung sicherte, dürfen wir wohl annehmen, daß bald nach der Verdrängung der landesherrlichen Gewalt aus der Stadt allmählich die Militärhoheit in ihrem gesamten Umfange auf die Ratsobrigkeit selbst überging. Bereits im ausgehenden 13. Jahrhundert wurden alle das städtische Kriegswesen betreffenden Angelegenheiten und Bestimmungen, die Ordnung des Verteidigungswesens, das Aufbieten der wehrfähigen Bürgerschaft sowie das Anwerben von Soldtruppen selbständig von der Ratsobrigkeit geregelt. Der Landesherr ist bei allen diesen militärischen Verordnungen ausgeschaltet. Kein Ratserlaß erwähnt seine früheren Befugnisse; nicht einmal von einem fürstlichen


17) Vgl. J. Harttung, Norwegen und die deutschen Seestädte bis zum Schluß des 13. Jahrhunderts, S. 40 f., Berlin 1877.
18) G. L. v. Maurer, Geschichte der Stadtverfassung in Deutschland, Bd. 1, S. 514, Erlangen 1869.
19) Rütimeyer a. a. O. S. 144.
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Mitaufsichtsrecht wissen die Urkunden der ältesten Stadtbuchfragmente etwas zu berichten 20 ). Ebenso tritt Rostocks autonome Stellung im Rostocker Landfriedensbündnis 1283 hervor, in dem die Stadt zum ersten Male ebenbürtig neben den Fürsten erscheint. Sie wird nicht nur auf gleicher Stufe mit ihrem eigenen Fürsten als Verbündete genannt, sondern es wurde auch ausdrücklich bestimmt, daß die Fürsten keinen Frieden ohne Einwilligung der Städte schließen sollten. Ja für den Fall, daß einer der Verbündeten sich säumig oder gar bundesbrüchig erweisen würde, sollte er von allen als Feind betrachtet werden, und zwar die Fürsten sogar von den eigenen Städten wie auch umgekehrt 21 ). Aus dieser Bestimmung des Rostocker Landfriedensbündnisses wie auch aus den Schutzbündnissen, die Rostock in den Jahren 1293 und 1296 mit vier Nachbarstädten abschloß, geht hervor, daß sich die Stadt nicht mehr verpflichtet fühlte, ihrem Landesherrn im Kriegsfall Heeresfolge zu leisten. In den beiden letztgenannten Bündnisverträgen war Rostock im Falle eines Konfliktes seines Stadtherrn mit den verbündeten Städten zwar von der Stellung von Mannschaften zur Kriegsrüstung gegen seinen Landesfürsten entbunden, wohl aber zu einer entsprechenden Geldleistung verpflichtet 22 ).

Als im Jahre 1301 Rostocks Landesherr Nicolaus von dem Dänenkönig Erich Menved und dessen Verbündeten angegriffen wurde, war die Ratsobrigkeit nicht verpflichtet, Nicolaus ein städtisches Truppenkontingent zu stellen oder ihn mit Geld oder sonstigen Kriegsleistungen zu unterstützen. Erhob die Bürgerschaft trotzdem die Waffen gegen Erich oder beteiligte sich die Stadt auch fernerhin im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts an Unternehmungen ihres Landesherrn, so geschah dies nicht mehr wie früher, weil sie ihm Heeresfolge schuldig war, sondern sie tat es aus freiem Willen und in ihrem eigenen Interesse, oder sie war durch ein Bündnis dazu verpflichtet, das sie mit ihrem Landesherrn ebenso wie mit jedem andern Fürsten als gleichberechtigte Macht abschließen konnte, wie es z. B. in den Jahren 1283 und 1330 tatsächlich geschah 23 ). Geriet die Stadt mit ihrem Landesherrn in Streit,


20) Vgl. Bürgerwehr S. 60.
21) O. Fock a. a. O., T. 2, S. 183.
22) M.U.B. 3 Nr. 2248 (1293), Nr. 2414 (1296).
23) H.R. I, 30, S. 16. Vgl. Anm. 22.
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wie es wiederholt der Fall war, so verweigerte sie ihm wie jedem anderen Feinde das Betreten städtischen Hoheitsgebietes und zögerte nicht, ihre Selbständigkeit mit Waffengewalt zu verteidigen. Stets knüpfte sie daher an den Huldigungseid die ausdrückliche Bestimmung, daß jeder neue Landesherr zuvor die Freiheiten und Gerechtsame Rostocks anerkennen müsse.

Die Stadt Rostock stand somit um 1300 selbständig ihrem schwächlichen Landsherrn Nicolaus gegenüber, der zwar der Inhaber der landesherrlichen Oberhoheit über die Stadt blieb; die reale Macht aber war ihm entglitten.

§ 2.

Rostocks Wehrmacht bis zum Aufkommen des Söldnerwesens.

Mit dem Recht der Selbstverteidigung fiel Rat und Bürgerschaft die Aufgabe zu, die zum Schutze der Stadt nötigen Befestigungsanlagen zu errichten sowie die Besatzungstruppen zu stellen.

Wie auch in anderen deutschen Stadtkommunen, war der Mauer- und Befestigungsbau der erste Zweck, für den von der Bürgerschaft Rostocks Steuern und Abgaben erhoben wurden: In den ältesten Stadtbuchfragmenten und Kämmereirechnungen des 13. Jahrhunderts, in denen wir städtische Steuern zuerst erwähnt finden, werden Beiträge "ad murum" gebucht 24 ).

Die ältesten Befestigungswerke, die in Anlehnung an die zum Schutze der Stadt errichteten fürstlichen Burgen erbaut wurden, waren sehr primitiver Art. Man begnügte sich anfangs mit einem einfachen Plankenzaun und einem davor liegenden Graben. Dieselbe Befestigungsart finden wir in frühester Zeit auch für andere norddeutsche Stadtkommunen bezeugt 25 ).

Nach der Vereinigung von Alt-, Mittel- und Neustadt um 1265 ging der Rat dazu über, die wenig widerstandsfähigen Holzplanken durch eine Ringmauer aus festem Steinmaterial


24) Vgl. S. 60 ff.
25) v. Maurer a. a. O. S. 112 ff.
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zu ersetzen. Da in den Quellen des ausgehenden 13. Jahrhunderts mehrfach die Bezeichnungen "murus" und "planca" nebeneinander belegt sind, liegt die Vermutung nahe, daß hölzerne und steinerne Umwallung in dieser Zeit nebeneinander bestanden haben.

Um 1300 war Rostock bereits rings mit einer festen Steinmauer umgeben. Schon damals trugen einzelne Tor- und Mauertürme zur Verstärkung der Stadtmauer bei und verliehen Rostock das charakteristische Aussehen der größeren mittelalterlichen Stadtkommunen. Besondere Sorgfalt wurde in den folgenden Jahrzehnten vor allem den Stadttoren zugewandt, die als die eigentlichen Kernpunkte der Befestigungsanlagen von großer Bedeutung für die Stadt waren. Zugänglich waren diese nur durch Zugbrücken; Schlagbäume, Fußangeln und Fallgatter trugen zur Sicherung der wichtigsten Zufahrtsstraßen bei.

Im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts wurde die Mauer durch weitere Türme und turmartige Wiekhäuser verstärkt. Diese wurden in fast gleichen Abständen von etwa 50 Metern errichtet.

In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts vollzog sich in dem Ausbau der städtischen Befestigungsanlagen ein wichtiger Fortschritt. Unter dem Einfluß der verbesserten Belagerungskunst ging die Ratsobrigkeit dazu über, im weiteren Umkreis des Stadtbezirkes noch einen zweiten Verteidigungsgürtel, den Zingelgraben, anzulegen. Zum Schutze der Zufahrtsstraßen wurden an den Durchlässen brückenkopfartige Sperranlagen errichtet, "propugnacula" oder "Zingeln", wie sie in den späteren Quellen genannt werden. Die militärische Bedeutung der weiter vorgeschobenen Wehren lag vor allem darin, daß sie es den Bürgern ermöglichten, den feindlichen Ansturm von dem eigentlichen Mauerring fernzuhalten. Aus diesem Grunde wurde im Anfang des 15. Jahrhunderts das schwere Abwehrgeschütz vornehmlich auf den Zingeln aufgestellt. Das wohlgeordnete Festungssystem wurde durch Errichtung von Stadtburgen und befestigten Außenforts um 1400 vervollkommnet. Zum Teil waren es Ritterburgen, die durch Kauf oder Pfand in Stadtbesitz übergingen, zum Teil wurden die an wichtigen Straßenkreuzungen gelegenen Stadtdörfer vom Rat zu Sperr- und Verteidigungsanlagen ausgebaut. Von unschätzbarer Bedeutung waren diese militärischen Stütz-

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punkte für die Kriegsmacht Rostocks; leicht konnte die Stadt von ihnen aus die Handelsstraßen gegen Wegelagerer und Raubritter schützen. Außerdem bildeten die Außenforts für den Kriegsfall eine sichere Zufluchtsstätte und geschützte Operationsbasis. Zur Erhöhung ihrer Widerstandskraft wurden die weit vorgeschobenen Stützpunkte mit Geschützen und Kriegsmaterial ausgerüstet. Ständige und fest besoldete Burgvögte, unter denen gelegentlich Ritter aus der Nachbarschaft genannt werden, führten das Oberkommando über die städtischen Besatzungstruppen.

Eine Sonderstellung unter den Stadtburgen nahm Warnemünde als Hafenort ein. Bei dem vornehmlich auf Seeverkehr gerichteten Handelsinteresse der Bürgerschaft ist es verständlich, daß der gesicherte Besitz des Hafens von entscheidender Bedeutung für Rostocks wirtschaftliche und politische Selbständigkeit war. Die heftigen Kämpfe um Warnemünde im 14. und 15. Jahrhundert, die wiederholte Zerstörung der dortigen Sperr- und Verteidigungsanlagen, ihre ständige Wiedereinrichtung durch die Stadt kennzeichnen die hohe militärische Bedeutung, die Warnemünde von Freund und Feind beigemessen wurde.

Die Besatzungstruppen und Verteidiger der städtischen Wehranlagen stellte die Bürgerschaft. Die Kriegsmacht Rostocks beruhte auf dem Grundsatz der allgemeinen Wehr- und Dienstpflicht. Die "Civitas" als Inbegriff der Bürgerschaft bildete zugleich die Bürgermiliz. "Die Stadtbürger ersetzten die stehenden Garnisonen der späteren Zeiten" 26 ). Es gehörte zu den Pflichten jedes nicht durch Alter oder Krankheit behinderten Bürgers, zur Bewachung und Verteidigung der Stadt die Waffen zu ergreifen und dem Rate Heeresfolge zu leisten.

Die Bewachung der Stadtmauern bildete einen wesentlichen Bestandteil der allgemeinen Wehrpflicht. Nach dem Wortlaut der ältesten Bursprake war grundsätzlich jeder dienstpflichtige Bürger zur persönlichen Ausübung des Wachtdienstes verpflichtet, so oft er von der Stadtobrigkeit dazu aufgeboten wurde. Um die Zahl der wachtpflichtigen Bürger zu erhöhen, bestimmte das Ratskollegium, daß fremde Ritter und geistliche Körperschaften, die sich auf städtischem Grund und Boden ansiedelten, gleichfalls dieser Bürgerpflicht genügen sollten.


26) v. Maurer a. a. O. S. 486.
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Es ist selbstverständlich, daß in Friedenszeiten nur ein geringer Teil der Bürgerschaft aufgeboten wurde. Zur gerechten Durchführung dieses Dienstes wurde bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein "notarius vigilum" vom Ratskollegium angestellt. Wachtvergehen wurden von der Stadtobrigkeit geahndet. Je nach der Schwere des Wachtvergehens wurden Sühnegelder in verschiedener Höhe festgesetzt.

Die Wachtpflicht blieb im Prinzip während des 14. und 15. Jahrhunderts eine persönliche Dienstleistung der gesamten Bürgerschaft; andererseits wurde schon früh Befreiung von der persönlichen Ausübung gewährt, den Geistlichen bereits am Ende des 13. Jahrhunderts. Denn nach der kanonischen Regel sollte die Geistlichkeit wie überhaupt auch das gesamte Kirchengut von weltlichen Lasten befreit sein.

Im Gegensatz zu diesen mehr "erzwungenen" Befreiungen geistlicher Körperschaften wurden fast gleichzeitig städtische Beamte von der Pflicht des Wachens entbunden.

War somit bereits um 1300 der Grundsatz persönlicher Dienstleistung durchbrochen, so blieb es nicht aus, daß diese einmal eingeschlagene Entwicklung weitere Kreise zog. Vor allem waren es natürlich die wohlhabenden Bürger, welche die sich ihnen bietende Gelegenheit des Loskaufes und der Stellvertretung ausnutzten. In der ältesten Bursprake um 1400 wird die Möglichkeit der Stellvertretung bereits vorausgesetzt. Zahlreiche von der Stadtobrigkeit in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ausgestellte Rentenbriefe bezeugen, daß sogar lebenslängliche Befreiung gegen Zahlung einer einmaligen Ablösungssumme möglich war.

Die Bürger mußten allzeit bewaffnet sein, da ihnen die Bewachung und Verteidigung der Stadt oblag. Sie waren verpflichtet, sich eigene Waffen zu halten und diese in gebrauchsfähigem Zustand bei sich im Hause zu haben. Strenge sah der Rat darauf, daß dieser Forderung entsprochen wurde, und hielt daher von Zeit zu Zeit Waffen- und Heeresmusterung ab. Das Ratskollegium setzte die Bewaffnungsart der einzelnen Wehrpflichtigen fest und bestimmte, wer Streitrosse auf eigene Kosten halten mußte. Durch besondere Verträge verpflichtete die Stadtobrigkeit noch einzelne Bürger zur Stellung von Reisigen. Zur Verstärkung der städtischen Reiterei trugen ferner die Bauern und Landbewohner der zahlreichen Stadt-

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dörfer bei, deren Rostock um 1400 über 40 besaß 27 ). Die Dienstpflicht der Bauern bestand zum großen Teil in der Stellung von Reit- und Wagenpferden.

Neben den persönlichen Dienstverpflichtungen der wehrfähigen Bürgerschaft wurden von Anfang an alle Einwohner zu pekuniären Leistungen, zum "Schossen" herangezogen. Zur Schoßzahlung wurden solche Bürger verpflichtet, die den persönlichen Dienstleistungen nicht nachkommen konnten, so vor allem Juden und Witwen 28 ). Die städtischen Abgaben und direkten Steuern waren wegen ihrer geringen Höhe während des 13. und im Anfang des 14. Jahrhunderts keine starke Belastung für den Einzelnen. Doch bereits im Laufe des 14. Jahrhunderts trat ein Wechsel ein: Als die Ablösungssummen, die anstatt persönlicher Dienste entrichtet wurden, anwuchsen, bildeten sie mit die wichtigste Einnahmequelle, von der die Ausgaben für die Wehrmacht bestritten wurden.

Den engen Zusammenhang zwischen persönlichen und pekuniären Lasten beweist ferner die Tatsache, daß ärmeren Bürgern die Möglichkeit gegeben war, sich von der Pflicht des Schosses durch persönliche Dienstleistungen zu befreien. Grundsätzlich waren im 14. und 15. Jahrhundert alle diejenigen Bürger vom Schossen befreit, die sich im Stadtdienst dem Kriegshandwerk widmeten und in festgeregeltem Sold- und Dienstverhältnis zur Stadtobrigkeit standen 29 ).

In Zeiten größerer Unternehmungen, wo höhere Anforderungen an die gesamte Bürgerschaft gestellt wurden, genügte der Schoß nicht. Der Rat sah sich daher gezwungen, besondere Kriegskontributionen von der Bürgerschaft zu erheben 30 ). Obwohl diese außerordentlichen Wehrsteuern keineswegs von allen Bürgern aufgebracht wurden, übertrafen sie an Höhe die jährlichen Schoßgelder 31 ). Zu dieser besonderen Kriegsumlage steuerten auch die sonst "schoßfreien" Ratsherren


27) G. Sartorius, Geschichte des Hanseatischen Bundes, Bd. 2, S. 201, Göttingen 1803.
28) Leibrentenbuch Fol. 52 b: "Civitas vendidit domine Ghertrudi ... de collecta sua danda." - Ähnlich M.U.B. 15 Nr. 9334. - M.U.B. 20 Nr. 11741 (Sch.Reg.): "Relicta ver Crusen 10 den."
29) M.U.B. 20 Nr. 11741 (Sch.Reg. von 1382 u. 1385). - Sch.Reg. 1409: ".. quitus datus a dominis propter servitionem civitatis." - Desgl. Sch. Reg. 1410 usw.
30) M.J.B. 77, S. 133 (Die direkten Steuern der Stadt Rostock). - M.U.B. 15 Nr. 9142, M.U.B. 21 Nr. 12142, M.U.B. 22 Nr. 12320.
31) Vgl. Anm. 30.
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bei 32 ). Wurden von diesen außerordentlichen Erhebungen, die lediglich "Objektsteuern" 33 ) waren, vor allem die Wohlhabenderen getroffen, so gilt dasselbe von dem erhobenen Pfundzoll. Diese Bundessteuer der Hansestädte bildete gleichsam eine zweite Art von Kriegsumlage und war für die einzelnen Stadtkommunen eine wichtige Einnahmequelle, da sie fast ausschließlich zu Rüstungen verwandt wurde 34 ). Eine weitere Gelegenheit, die für Kriegszwecke erforderlichen Geldmittel aufzubringen, bot sich der Stadtobrigkeit in den von ihr ausgestellten Rentenbriefen 35 ). Die zahlreichen Rentenverkäufe in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts während der Kriege gegen König Waldemar und Königin Margarete, ferner der in den Rentenbriefen bereits zur festen Formel gewordene Wortlaut zeigen, eine wie wichtige, wenn auch nur zeitweilige Einnahmequelle die Stadtrenten für das Ratskollegium bildeten. Um möglichst viele Bürger für den Kauf von Rentenbriefen zu gewinnen, gewährte die Ratsobrigkeit weitgehendste Vergünstigungen. In den meisten Fällen wurden die Bürger auf eine gewisse Anzahl von Jahren, gelegentlich sogar zeitlebens von der Pflicht des Schoßzahlens und anderen Bürgerleistungen entbunden 36 ). Andererseits verlangte die Stadtobrigkeit, daß Renten, die von einheimischen Bürgern nicht der Stadt zur Verfügung gestellt wurden, "schoßpflichtig" seien 37 ).

Von großer Bedeutung für die städtische Wehrmacht war die Gliederung der Bürgermiliz; denn nur eine geordnete und straffe Wehrmachtorganisation gewährleistete beim Erschallen der Sturmglocke und dem Waffenruf "Wapene und Viende vor dem dore" 38 ) eine schnelle Sammlung der Wehrpflichtigen und geordnete Besetzung der einzelnen Mauerabschnitte und Verteidigungsanlagen. Die größeren Stadtkommunen waren daher meist in einzelne Wehrmachtsverbände eingeteilt.


32) M.U.B. 21 Nr. 12142. Auf der Rückseite des Sch.Reg. sind die Namen der Ratsherren nachgetragen. Vgl. H.R. III Nr. 290.
33) Vgl. M.J.B. 77 S. 135 ff.
34) M.U.B. 20 Nr. 11661. - H. R. III Nr. 180, S. 162.
35) M.U.B. 18 Nr. 10747; M.U.B. 20 Nr. 11739; M.U.B. 22 Nr. 12651, 12652 usw.
36) M.U.B. 15 Nr. 9321; M.U.B. 19 Nr. 11049; M.U.B. 20 Nr. 11422; M.U.B. 21 Nr. 11773, 11803, 11945 usw. Vgl. Anm. 35.
37) M.U.B. 20 Nr. 11446 u. 11699: ".. sui procuratores satisfacient pro collecta." Ähnlich M.U.B. 10 Nr. 6862; M.U.B. 14 Nr. 8757.
38) Krause, Rostocker Chronik, S. 7 (Gymnas.-Progr. 1873).
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Die militärische Gliederung Rostocks bietet das Beispiel einer rein topographischen Einteilung, wie wir sie in ähnlicher Form auch in Lübeck, Hamburg und Wismar finden 39 ). Durch Rostocks charakteristische Entstehungsweise, die Verschmelzung von drei ursprünglich selbständigen Stadtgemeinden, war von vornherein eine scharfe lokale Gliederung in Alt-, Mittel- und Neustadt gegeben 40 ). Diese Gliederung deckte sich mit den drei Hauptkirchspielen und lag sowohl dem Steuer- und Verwaltungssystem, wie auch der Einteilung der Bürgerwehr in einzelne Wehrmachtbezirke zugrunde. Über die weitere Unterteilung dieser drei großen Wehrmachtsbezirke ist unmittelbar aus dem Urkundenmaterial nichts nachweisbar, da die hierfür in Frage kommenden Quellen, die Wachtregister und besondere Kriegsordnungen, nicht erhalten sind. Es kann aber nicht zweifelhaft sein, daß sie in Übereinstimmung mit den Schoß- und Wehrsteuerregistern straßenweise gegliedert waren. Schon aus verwaltungstechnischen Gründen wird diese Einteilung zugrunde gelegen haben 41 ). Eine Bestätigung für


39) v. d. Nahmer, Die Wehrverfassung der deutschen Städte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, Marburg. Diss. 1888, S. 27.
40) Die dem Steuer- und Verwaltungssystem zugrunde liegenden Stadtbezirke Alt-, Mittel- und Neustadt galten auch für die Gliederung der Wehrmacht, da in den Wehrsteuer- und Schoßregistern gleichzeitig auch die persönlichen Dienstleistungen der Bürger gebucht wurden. In den Schoß- und Wehrsteuerregistern des 14. und 15. Jahrhunderts werden die drei Bezirke bezeugt: "antiqua civitas, media civitas, nova civitas"; innerhalb dieser werden die Straßenzüge immer in genau derselben Reihenfolge angeführt. Vgl. Sch.-Reg. 1382, 1385 (M.U.B. 20 Nr. 11741), Register der städtischen Kriegssteuer vom Jahre 1389 (M.U.B. 21 Nr. 12142).
41) Da nach dem Wortlaut des Amtseides der Wachtschreiber gleichzeitig die "gerichtlichen acta" führte und unmittelbar den Gewettherren unterstand (Lib. arb. Fol. 94, "Juramentum prefecti vigilum"), ist es wahrscheinlich, daß er nicht nur die Wachtregister und Gewettrechnungen, sondern auch die Schoß- und Kriegssteuerregister führte, um eine gerechte und alle Bürger umfassende Durchführung der im engen Zusammenhang stehenden persönlichen pekuniären Dienstleistungen zu gewährleisten: Das Wachtregister enthielt die Liste der zum Wachtdienst aufgebotenen Bürger; in den Gewettrechnungen wurden die verschiedenen Wacht- und Dienstvergehen gebucht, die doch nur auf Grund der Wachtverzeichnisse festgestellt werden konnten; die Wehrsteuer- und Schoßregister enthielten die Vermerke, wie weit die einzelnen den bürgerlichen Dienstpflichten persönlich nachgekommen waren oder diesen durch pekuniäre Leistungen und Ablösungssummen genügt hatten.
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die Behauptung, daß bestimmte Straßenzüge die Unterabteilung der drei großen Wehrmachtbezirke bildeten, bietet ferner eine im "liber arbitriorum" mitgeteilte Ratswillkür aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts 42 ). Da nach dieser die Bewohner genau festgesetzter Straßenabschnitte für die Instandhaltung bestimmter Stadtanlagen zu sorgen hatten, ist es wahrscheinlich, daß die Bürger dieser Straßenzüge gleichzeitig die ihnen am nächsten liegenden Wehranlagen im Angriffsfall besetzen und verteidigen mußten, wie es z. B. durch die in Wismar erhaltene Kriegsordnung bestimmt wurde 43 ). Auch noch im Anfang des 17. Jahrhunderts waren in Rostock die einzelnen Straßenzüge als Wehrmachtsbezirke unter der Bezeichnung "Fahnen" beibehalten 44 ).

Den Oberbefehl über diese kleineren Gassenbezirke innerhalb der großen Wehrmachtsverbände führten, wie auch in Lübeck 45 ), einzelne Hauptleute, "hovedlude", denen die Bürger den Fahnen- und Bürgereid leisten mußten 46 ). In ältester Zeit bekleideten Ratsherren persönlich dieses Amt, im Anfang des 15. Jahrhunderts wurden von der Stadtobrigkeit geeignete Bürger hierzu ernannt 47 ).

Mit Recht ist in neuerer Zeit der große Einfluß der Zünfte und Handwerksämter auf die Einteilung der städtischen Wehrmacht Gegenstand der Erörterung gewesen. Below charakterisiert die Gestaltung der bürgerlichen Wehrmachtsorganisation mit folgenden Worten: "Wo es den Patriziern gelungen war, sich in der Herrschaft zu behaupten, finden wir die militärische Einteilung auf topographischen Verbänden, auf Stadtvierteln aufgebaut, wo die Zünfte Erfolg gehabt hatten, machten sie ihre Vereinigungen auch zu militärischen Körpern" 48 ). Die Ämter haben in Rostock niemals die Bedeutung


42) Lib. arb. Fol. 10 b: "Van der bastover unde vissherstratenbrugge."
43) Techen, Die Schoß- u. Wachtpflicht in Wismar (H.G.B. 1887)
44) Schoß- und Bürgerbücher des 16. und 17. Jahrhunderts. - Im Jahre 1625 war Rostock in 18 Fahnen, 1633 in 12 Fahnen eingeteilt (B.G.R. I, S. 84).
45) v. d. Nahmer a. a. O. S. 27.
46) Kirchberg, Kap. 152 (1313) (M.U.B. 6 Nr. 3590): "Es solde keyn bugir ouch gelobin me vur keynen hoveman."
47) G. R. 1430/31: "Item Jacob schulte unde ... nicht to hovetlude maket weren."
48) v. Below a. a. O. S. 79.
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selbständiger politischer und militärischer Körperschaften gehabt. Schon daraus geht hervor, daß die Gliederung des bürgerlichen Aufgebotes in Rostock eine rein lokale Grundlage gehabt hat.

"Die Bezeichnung "Amt" - lateinisch stets "officium" - setzt den Begriff eines persönlich Dienenden voraus und weist darauf hin, daß der Inhaber eines solchen Amtes Dienstverpflichtungen gegenüber einer vorgesetzten Instanz übernommen hat" 49 ). Wiederholt wird dieser Gedanke in den Ratswillküren und Handwerkerrollen gerade auch in militärischer Hinsicht deutlich zum Ausdruck gebracht 50 ). Die Älterleute mußten sich durch einen besonderen Amtseid verpflichten, dem Rate treu und gehorsam zu sein 51 ). In dieser Eidesformel wird jedoch irgendeine militärische Funktion der Amtsältesten nicht erwähnt. Keine Bursprake, kein Ratserlaß bezeugt, daß die Älterleute der einzelnen Ämter Gassenhauptleute waren oder gar sein mußten; niemals hören wir, daß etwa die Amtsältesten wie in manchen süddeutschen Stadtgemeinden auch wichtige militärische Funktionen und Führergewalt über ihre Zunft- und Amtsgenossen ausgeübt hätten, die unter ihrem eigenen Zunftbanner ins Feld zogen 52 ).

In Städten, in denen die Ämter ein Mitaufsichtsrecht über städtische Wehrmachtseinrichtungen und Anteilnahme am Stadtregiment erlangt hatten, übten die Amtsältesten zusammen mit der ratsherrlichen Stadtobrigkeit die Gerichtsbarkeit aus und bestimmten mit die Höhe der Strafe über Schuldige Zunftgenossen. Dagegen wurden in Rostock Vergehen, wie z. B. "vorachtinge, honsprake, erlose wort" und ähnliche Verstöße gegen ein Handwerkeramt, ja selbst Ungehorsam von Amtsmitgliedern gegen ihre eigenen Älterleute allein vom Ratskollegium geahndet 53 ). Die Unselbständigkeit der Rostocker Ämter ist um so bemerkenswerter, weil in anderen Städten,


49) D. Schäfer a. a. O. S. 241.
50) Vgl. S. 55 Anm. 183.
51) Lib. arb. Fol. 95 b (1417-18): "Eid der oldermanne."
52) v. d. Nahmer a. a. O. S. 29 f.
53) G.R. 1422/23: "krogher de wullenweuver 20 mr. umme vorachtinge willen siner olderluden, .. 6 mr. umme honsprake siner olderlude, ... vor achtent syner olderlude." - G.R. 1424/25: ".. 40 mr. umme erlose wort sinen olderluden." - G.R. 1441/42: ".. 2 mr. dat he syner olderlude lockende" (= verleugnen; nd. Wörterb., Schiller u. Lübben) usw. G.R. des 15. Jahrhunderts.
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selbst in Göttingen "obwohl auch hier die Unterordnung der Ämter unter die Ratsobrigkeit ganz zweifellos war" 54 ) -, alle Strafgelder für militärische Vergehen und Wachtversäumnis von den Amtsmitgliedern an die Ämter bezahlt wurden. Wie über einzelne Bürger, so verhängte der Rostocker Rat sogar über ganze Ämter Disziplinarstrafen 55 ).

Wenn Below in seinem "Städtewesen und Bürgertum" darauf hinweist, daß Unruhen der Zünfte und Handwerkerämter, deren Streben sich auf Anteilnahme am Stadtregiment richtete, meistens grundlegende Änderungen für die politische und militärische Verfassung und die gesamte Wehrmachtsgliederung hervorgerufen hätten 56 ), so trifft dies nicht für Rostock zu. Wohl waren auch hier innere Unruhen im 14. und 15. Jahrhundert zuweilen Begleiterscheinungen unglücklich geführter Kriege, wie z. B. 1311/12, 1408, 1428, die wohl zu einer Absetzung und Vertreibung von Ratsherren führten; die Erfolge der Ämter waren jedoch nur gering und zeitlich beschränkt 57 ). Nicht im geringsten wurden durch diese Unruhen die Gliederung der Bürgerwehr und die topographische Einteilung der Wehrmachtsorganisation getroffen. Selbst die Bürgerbriefe aus dem Jahre 1408 und 1428, die durchaus in demokratischem Sinne zur Wahrung des politischen und militärischen Einflusses der Ämter und gemeinen Bürgerschaft abgefaßt waren, wurden "kirchspielweise", d. h. den drei großen Wehrmachtsbezirken, ausgestellt, nicht aber den einzelnen Ämtern 58 ). Die Einteilung der Rostocker Bürgermiliz nach lokalen Bezirken ist niemals aufgegeben worden. Die Ämter haben selbst während der Bürgerunruhen nicht einmal den Versuch gemacht, die durch ihre Entstehungsweise begründete


54) E. Kober, Die Wehrverfassungen Braunschweigs und seiner Nachbarstädte Hildesheim, Göttingen und Goslar im Mittelalter, S. 21 (Marburger Diss. 1909).
55) G.R. 1412/13: "Vorke 1 mr. pro inobediencia oldermannorum." - G.R. 1415/16: "oldermanni pistorum 6 mr. pro verberibus suos pistores vigilibus." - G.R. 1419/20: "... gholtsmede 300 mr. vor upsate eres ampts." Ähnl. G.R. des 15. Jahrhunderts.
56) v. Below a. a. O. S. 79.
57) R. Lange, Rostocker Verfassungskämpfe bis zur Mitte des 15 Jahrhunderts, S. 24 f. (Rostocker Gymnas.-Progr.), Rostock 1888.
58) Wittschopsbok vom Jahre 1384-1431 Fol. 165 b. (Gedr. i. d. Rostocker Nachrichten und Anzeigen 1755 S. 58 ff.).
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und historisch gewordene Gliederung auf topographischer Grundlage durch Personalverbände der Handwerkerämter zu ersetzen.

Neben den militärischen Verbänden stehen die Schützengesellschaften, die wir in allen größeren Stadtkommunen wiederfinden 59 ). Die ersten Schützenbrüderschaften Rostocks hießen "Papegoyengesellschaften", da in ihnen nach einem Papagei geschossen wurde. In anderen Städten wurde nach einer Taube oder nach einem andern Vogel geschossen 60 ). Die beiden ältesten, von denen Nachrichten auf uns gekommen sind, waren die "Landfahrer-Brüderschaft" und das "Wieker Gelag" 61 ). Während erstere im Jahre 1466 als Brüderschaft der heiligen Dreifaltigkeit in der Johanniskirche gestiftet wurde, ist das Gründungsjahr der anderen vornehmeren und älteren Schützengesellschaft, die in das Wiekergelag in der Koßfelder Straße und das kleinere Wiekergelag beim Wendländer Schilde zerfiel, nicht bekannt; wohl aber läßt sich das Bestehen dieser Gesellschaft bis zum Jahre 1418 zurückverfolgen 62 ).

Beide Schützengesellschaften bildeten im 15. Jahrhundert keine selbständigen militärischen Verbände; in keiner Weise hatten sie, so wenig wie die Handwerkerämter, auf die Gliederung der städtischen Wehrmacht einen Einfluß.

Die Bedeutung der Rostocker Schützengesellschaften lag vor allem darin, daß sie den kriegerischen Geist unter den Bürgern wach hielten und diese im Waffengebrauch und Kriegshandwerk geübt erhielten. Die Papegoyengesellschaften waren anfangs nur reine Privatvereinigungen, die sich durch freiwilligen Beitritt von Bürgern ergänzten; bereits im Anfang des 15. Jahrhunderts fanden sie großes Entgegenkommen und weitgehende Unterstützung durch das Ratskollegium, dem für den Kriegsfall viel daran lag, daß die Bürger im Schießen geübt waren. Als Schußwaffe wurde während des ganzen


59) v. Below a. a. O. S. 80 f.
60) v. Maurer a. a. O. S. 523.
61) K. Koppmann, Die Rostocker Schützengesellschaften (B.G.R. IV, 3 S. 59 ff.).
62) W.R. 1418: "Item 4 sol. herman sasse pro 4 tunnen Butzowesches bere, de de drunken worden in de papegoyenlage, ..." - W.R. 1442/43: "Item 24 sol. (ß) vor 1 tunne malchinischhes bers in dat pape'goyenlach." usw.
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15. Jahrhunderts noch die Armbrust verwandt, erst sehr spät wurde die Hand- oder Feuerbüchse eingeführt 63 ).

Durch Anreizung zum Wettbewerb, durch Anstachelung des Ehrgeizes und der Freude am Erringen von Preisen förderte die Stadtobrigkeit die Schießausbildung der bürgerlichen Schützen. Wie die Ausgaben der Weinherren für gestiftete Getränke, später auch für Auszeichnungen bezeugen, unterstanden die Rostocker Schützengesellschaften, deren Zahl sich in den folgenden Jahrzehnten vermehrte, dem ratsherrlichen Protektorat, das auf Stadtkosten für die Errichtung des Papegoyenhauses und für Schießgelegenheit sorgte 64 ).

§ 3.

Die Verwendung der Soldtruppen und der Geschütze.

Eine tiefgreifende Veränderung vollzog sich in der städtischen Wehrmacht mit dem Aufkommen des Söldnerwesens. Wohl stellte die Bürgerschaft auch weiterhin den eigentlichen Kern des städtischen Aufgebotes, daneben aber gewann das Söldnerwesen bereits im Laufe des 14. Jahrhunderts mehr und mehr an Bedeutung.

Der Übergang zum Söldnerwesen, der durch die vordringende Geldwirtschaft gefördert wurde, hängt aufs engste zusammen mit der bereits geschilderten Ablösung der bürgerlichen Dienstpflicht: Die Ratsobrigkeit gewährte einzelnen Bürgern schon frühzeitig Befreiung von persönlichen Dienstpflichten gegen Zahlung entsprechender Geldsummen und Wehrsteuern. "Was lag näher, als die auf solche Weise einkommenden Beiträge, wie für den Wachtdienst zur Anstellung besoldeter Mannen, so für den Außendienst zur Werbung waffenkundiger Söldner zu verwenden, um die durch den Loskauf wohlhabender Bürger entstandenen Lücken zu füllen 65 )?" Der Übergang zum Söldnerwesen wurde ferner begünstigt durch die mitunter recht erheblichen Verluste an Bürgersöhnen, welche durch die zahlreichen kleineren und größeren Fehden verursacht wurden; sie mußten sich in der schlimmsten Weise für die Stadt


63) K. Koppmann, Die Rostocker Schützengesellschaften (B.G.R. IV, 3 S. 59 f.).
64) Vgl. Anm. 63.
65) Kober a. a. O. S. 69.
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und ihre Einwohnerschaft auswirken. In den beiden dänischen Kriegen gegen Waldemar z. B. war die Verlustziffer an einheimischen Bürgern so groß, daß der Rat Neubürgern bedeutende Erleichterungen gewährte, wie die Befreiung von der Pflicht des Schoßzahlens, nur damit die Bevölkerungszahl gehoben wurde 66 ).

Die Stadtwachen haben wahrscheinlich in Rostock wie auch in anderen Stadtkommunen die erste Veranlassung zur Verwendung von Söldnern gegeben 67 ). Bereits Ende des 13. Jahrhunderts ging das Ratskollegium dazu über, besoldete Mannschaften für den täglichen Wachtdienst zu unterhalten.

Wie für den inneren Dienst, so nahm die Stadtobrigkeit wenige Jahre später (um 1300) auch für den auswärtigen Heeresdienst geworbene Truppen in Sold, während in Braunschweig und im deutschen Ordensstaat die ersten Soldtruppen erst im Jahre 1331 bezeugt werden, in Hildesheim, Goslar und Göttingen erst um die Mitte des 14. Jahrhunderts 68 ).

Die beiden Söldnergattungen, von denen die eine im Kriegsfall, die andere in erster Linie für die ständigen Tag- und Nachtwachen, den eigentlichen Sicherheits- und Verteidigungdienst verwendet wurden, unterschieden sich vor allem durch die Dienstdauer. Wie auch in anderen Städten können wir die "stehenden" Söldner den "geworbenen" gegenüberstellen 69 ): Während erstere gewöhnlich auf mehrere Jahre, oft sogar auf Lebenszeit in städtische Dienste traten, wurden die "geworbenen" Soldtruppen nur für die Dauer eines Krieges gedungen; nach Friedensschluß wurden sie wieder entlassen. Ferner unterschieden sich die beiden Söldnerarten dadurch von einander, daß den ständigen Stadtsöldnern im allgemeinen die Ausrüstungsgegenstände auf Stadtkosten geliefert oder ihnen zum Ankauf der Waffenstücke, "in subsidium empscionis armorum suorum" entsprechende Harnisch- oder Kleidungs-


66) M.U.B. 20 Nr. 11741 (Sch.Reg. 1382): "quitus datus propter civilitatem." Ähnlich S. 433, 445, 454, 473/74, 484-86 ff.
67) v. Maurer a. a. O. S. 508.
68) Kober a. a. O. S. 70 f. - Kutowski, Zur Geschichte der Söldner in den Heeren des Deutschordensstaates in Preußen, S. 5 (Diss. Königsberg 1912).
69) M. Mendheim, Das Reichsstädtische, besonders Nürnberger Söldnerwesen im 14. u. 15. Jahrhundert, S. 25 f. (Leipziger Diss. 1889).
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gelder gegeben wurden 70 ), während die geworbenen Soldtruppen verpflichtet waren, die zum Kriegsdienst nötigen Schutz- und Trutzwaffen den städtischen Soldherren zuzuführen und auf eigene Kosten zu erhalten. Von der Bewaffnungsart des Einzelnen machte die Stadtobrigkeit die Besoldungshöhe abhängig.

Die geworbenen Söldner, die zum ersten Male im Jahre 1300 bezeugt werden, setzten sich zunächst fast ausschließlich aus fremden Rittern und Knappen zusammen; nur ganz vereinzelt werden unter ihnen auch fremde "sagittarii" genannt. Erst im Laufe der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, zur Zeit der beiden dänischen Kriege mit König Waldemar, traten diesen fremden Soldrittern einheimische Bürgersöhne als "geworbene" Soldtruppen zur Seite. Im 15. Jahrhundert verdrängten die Bürgersöldner die fremden Soldtruppen mehr und mehr, wahrscheinlich wohl wegen der größeren Zuverlässigkeit der Bürger.

Da das Söldnerwesen auf Vertrag beruhte, so wurden von der Stadtobrigkeit sogenannte Söldner- oder Bestallungsbriefe ausgestellt. In ihnen wurden die Rechte und Verbindlichkeiten der Soldherren und Söldner genau bestimmt: Die Höhe des Soldes und des Verpflegungsgeldes sowie die Bewaffnungsart wurde vereinbart; der Anteil der Söldner an der Beute, wie auch an dem Lösegeld gefangener Feinde wurde festgesetzt. Ebenso enthielten die einzelnen Bestallungsbriefe Bestimmungen über Schadenersatzleistungen, die das Ratskollegium im Falle der Gefangennahme städtischer Söldner oder bei Verlusten an Streitrossen, Waffen und sonstigen Ausrüstungsgegenständen seiner Soldtruppen erstatten mußte.

Die in den zahlreich erhaltenen Söldnerurkunden getroffenen Bedingungen und Verbindlichkeiten blieben - abgesehen von der Besoldungshöhe - im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts im allgemeinen dieselben. Aus den Bestallungsbriefen läßt sich weiter erkennen, daß die Söldner, die "armigeri" wie auch die "sagittarii", überwiegend zu Roß dienten. Es geht dies sowohl aus den zahlreichen Bemerkungen


70) M.U.B. 19 Nr. 11247 (K.R. 1380). - Im Anfang des 15. Jahrhunderts empfingen die stehenden Stadtsöldner nur noch "schone unde grawe want", während sie sich die Waffenrüstungen für den Sold, in dem das Harnischgeld eingeschlossen war, selbst beschaffen mußten.
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über die Pferde der Soldtruppen hervor als auch aus den häufig gebuchten Quittungen für getötete und verlorene Streitrosse, "van schaden synes perdes, van synem swarten perde, dat em vordorven was in der stat werve" 71 ).

Die Bestallungsbriefe wurden mit einzelnen Söldnern oder mit kleineren Scharen abgeschlossen, deren Zahl die Höhe von 10 Mann kaum überschritt. Im letzteren Falle vereinbarte sich die Stadtobrigkeit nur mit dem Vertrauensmann der Söldner, der sich und seine Kriegskameraden durch Eid und Siegel zu städtischen Solddiensten verpflichtete, im Namen aller den Vertrag abschloß und Soldquittungen ausstellte.

Im Gegensatz zu den "geworbenen" setzten sich die "stehenden" Soldtruppen im 13. und 14. Jahrhundert fast ausschließlich aus einheimischen Bürgersöhnen zusammen. Die Bedeutung der ständig unterhaltenen Mannen, deren Zahl in den ersten Jahrzehnten wegen der hohen Unkosten nur gering war, lag vor allem darin, daß sie als stehende Truppen der Stadtobrigkeit jederzeit zur Verfügung standen und kampfbereit waren. In Zeiten des Friedens unterstützten sie die Bürgerschaft in der Ausübung des Wachtdienstes und sicherten die städtische Feldmark gegen Raubritter und Wegelagerer. In Kriegsjahren fochten sie mit in den Reihen des Bürgeraufgebotes und wurden von den geworbenen Söldnern nicht unterschieden.

Im Anfang des 15. Jahrhunderts bildeten Burgvögte mit ihren festbesoldeten Stadtsöldnern die ständige Besatzungstruppe auf den Stadtburgen. Neben ihnen übernahmen Rottenmeister mit kleineren Gruppenaufgeboten die Bewachung der Zingel und der Landhut.

Vor allem trug die Entwicklung des Geschützwesens zur Bildung festangestellter Spezialtruppen, besonderer Kriegshandwerksmeister und besoldeter Bedienungsmannschaften bei. Es ward zum System, eine Anzahl tüchtiger Balisten- und Bussenmeister in feste Stadtdienste zu nehmen. Ihnen lag es in erster Linie ob, für die Instandhaltung und Herstellung neuer und verbesserter Kriegsmaschinen und Feuergeschütze zu sorgen. In den meisten Fällen waren diese Kriegshandwerker


71) M.U.B. 15 Nr. 9317. "Item Bulowen 14 mr. minus 4 sol. pro uno equo rubeo, .." Vgl. R.R. des 15. Jahrhunderts.
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gleichzeitig "Artilleristen" im modernen Sinne. Unter ihrer persönlichen Leitung wurden vor dem Steintor die neu in den Dienst gestellten "bussen" eingeschossen. Ebenso stellten sie aus ihrer Mitte die Führer der Bedienungsmannschaften, "der Artilleriefahrer".

Die schweren Kriegs- und Belagerungsmaschinen spielten im städtischen Heerwesen eine wichtige Rolle; denn gerade die Städte waren es, die Sitze von Handel und Wandel, in denen vorzugsweise die Drehkraft- und späteren Feuergeschütze hergestellt wurden 72 ). Bürgerlicher Wohlstand und die finanzielle Überlegenheit der städtischen Obrigkeiten ermöglichten es den mittelalterlichen Stadtkommunen in weit höherem Maße als den oft geldarmen Fürsten und Herren, ihre Kriegsstärke wie durch Soldtruppen, so auch durch die Verwendung der verschiedenen Geschützarten zu heben.

Die ältesten Kriegswerkzeuge des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts, die wir in deutschen Städten finden, waren ausschließlich Wurf- und Schleudermaschinen. Die beiden gebräuchlichsten Belagerungsmaschinen des früheren Mittelalters waren die "Bliden" oder "Gegengewichtswurfgeschütze" und die "schießenden Werke" oder "Drehkraftflachgeschütze" 73 ), welche bereits im Altertum unter dem Namen "Onager" und "Katapulte" bekannt waren 74 ).

Die Kraftquelle dieser Drehkraftgeschütze bildeten die beim Spannen verkürzten Haar- oder Sehnenbündel mit ihrer Torsionselastizität oder aber sie wurde - wie der Name "Hebel- oder Gegengewichtsgeschütz" schon besagt - durch Hebelwirkung eines Schleuderbalkens erreicht, dessen einer Arm durch Gegengewichte belastet wurde.

Der hohen Kosten wegen wurden die schweren Belagerungsgeschütze von der Ratsobrigkeit auf Stadtkosten beschafft. Mit der wichtigen Aufgabe, das städtische Geschützwesen stets in gebrauchsfertigem Zustand zu halten und zu ergänzen, waren


72) Max Jähns, Entwicklungsgeschichte der alten Trutzwaffen, S. 351 f. (Berlin 1889).
73) Bernhard Rathgen, Das Geschütz im Mittelalter, Berlin 1928, S. 598 ff. Das Drehkraftflachgeschütz; S. 594 ff. Das Drehkraftwurfgeschütz.Vgl. D. Schäfer a. a. O. S. 304 f., O. Fock a. a. O. II, S. 136, III, S. 146.
74) Rathgen a. a. O. S. 578, 608.
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die amtierenden Weinherren betraut 75 ). Die jährlich abgelegten Weinrechnungen, die uns aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts fast lückenlos erhalten sind, ermöglichen uns, den Entwicklungsgang des Rostocker Geschützwesens oft bis in alle Einzelheiten hinein zu verfolgen.

Erst sehr spät, in den beiden ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts, werden Bliden und schießende Werke einwandfrei für Rostock bezeugt. Trotzdem dürfen wir wohl annehmen, daß die Stadt derartige Schleuder- und Wurfmaschinen bereits im ausgehenden 13. Jahrhundert besaß, wenn wir berücksichtigen, daß Drehkraftgeschütze zur gleichen Zeit, in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, selbst in kleineren Nachbarstädten schon in größerer Anzahl bezeugt werden: So z. B. verfügte Stralsund bereits in den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts über die stattliche Zahl von 53 Wurfgeschützen; 1292 war Greifswald bestrebt, seinen Vorrat an Kriegswerkzeugen zu vermehren. Ebenso wandte Lübeck schwere Belagerungsmaschinen gegen Ende des 13. Jahrhunderts gegen Raubritterburgen seiner Umgebung mit Erfolg an 76 ).

Das Geschützwesen diente in Rostock wie auch in anderen Stadtkommunen in erster Linie der Verstärkung der eigenen Stadtsicherheit. Wir finden daher stets einen Teil des schweren Kriegsgerätes an den Bedarfsorten aufgestellt. Die Schleuder- und Wurfmaschinen, ebenso die späteren Pulvergeschütze wurden auf Türmen und Zingeln in Stellung gebracht und unterstützten in der wirksamsten Weise die Kampfkraft des Bürgeraufgebotes. Schußbereite Abwehrgeschütze erhöhten die militärische Bedeutung der weit vorgeschobenen und burgartig ausgebauten Außenforts, indem sie mit wirkungsvollem Sperrfeuer die wichtigsten See- und Zufahrtsstraßen beherrschten.

Ein großer Teil des Antwerks lagerte in Friedensjahren in dem in der Langen Straße gelegenen "balistarium". Infolge des ständigen Anwachsens des städtischen Geschützbestandes, besonders seit der Einführung der Feuerbussen genügte das Balistenhaus nicht mehr den gestellten Anforderungen.


75) In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts scheinen noch die Kämmereiherren die Verwaltung des städtischen Geschützwesens ausgeübt zu haben, da i. d. K.R. die Ausgaben für Geschütze und Waffenmaterial gebucht wurden. (Vgl. Geschützwesen.)
76) O. Fock a. a. O. 2, S. 137.
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Pulverwaffen wurden daher im Anfang des 15. Jahrhunderts auf dem Rathaus und wenige Jahre später in einem neu errichteten Bussenhaus untergebracht 77 ).

Auch beim Angriff und während auswärtiger Heerfahrten führte das Bürgerheer Kriegs- und Belagerungsmaschinen mit sich, zumal wenn es galt, feste Raubritterburgen zu brechen, die oft nur durch langwierige Belagerung und Aushungerung zur Übergabe gezwungen werden konnten. Um den städtischen Unternehmungen von Anfang an den nötigen Nachdruck zu verleihen, boten reichliches Belagerungsgerät und Sturmzeug der Stadtobrigkeit das sicherste und wirksamste Mittel. Bereits im Laufe des Krieges mit König Erich von Dänemark (1311-12) und seinen zahlreichen Verbündeten hören wir, daß Rostocks Bürgerschaft mit "slote, blidenn unde werkenn" auszog, mit "manchirhande geschütze unde vil handwerk" Warnemünde entsetzte und die von den Feinden errichteten Sperrtürme bezwang.

Die Verwendung von Schleudermaschinen auf Schiffen, die in den späteren Jahrzehnten auf Koggen, "schutteboten" und anderen Kriegsfahrzeugen als notwendige Ausrüstung und Bestückung stets wiederkehren, wird uns schon im Laufe dieser Fehde bezeugt 78 ). Der Chronist berichtet, daß die in der Stadt gebliebenen Bürger den Ausziehenden ein "werk, dat se Evenhoch plegen tho hetende, gerichtet in einem pram", nach Warnemünde nachsandten 78). In allen später von Rostock unternommenen Fehde- und Kriegszügen, während der Belagerung der Raubschlösser Dömitz und Dutzow in den Jahren 1353-54, in den beiden dänischen Kriegen gegen König Waldemar, im Kampfe mit Königin Margarethe, auf den häufig ausgerüsteten "Fredeschiffen" wurden die verschiedenen Drehkraft- und Feuergeschütze ins Treffen geführt.

Eine tiefgreifende Umwälzung des Geschützwesens vollzog sich Ende des 14. Jahrhunderts mit der Verwendung des Schießpulvers und dem Aufkommen der Feuerwaffen, welche


77) In den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts hören wir, daß die "bussen" auf dem Rathaus aufbewahrt wurden. In den 50er Jahren wird zum ersten Male ein besonderes "hus to den bussen" erwähnt; wann das Bussenhaus erbaut wurde, erfahren wir nicht (W.R. 1460/61: "... uppe dem huse to den bussen"); ähnl. W.R. 1454/55.
78) Chronica von 1311/14 (Weltzien, Chronik von Rostock, S. 3 ff. (Leipzig 1908).
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die bisher gebräuchlichen Schleuder- und Wurfmaschinen verdrängten. Auch hier waren es wieder die Städte, die seit der Einführung der eisernen und bronzenen Pulvergeschütze dieses neue Machtmittel für sich anfertigen ließen und durch sie die Verteidigungskraft ihrer Befestigungen bedeutend erhöhten 79 ).

Die Stadt Rostock scheint ihrer damaligen Machtstellung entsprechend neben Lübeck als eine der ersten Stadtkommunen unter den Ostseestädten die Feuerbüchsen eingeführt zu haben; denn bereits im Jahre 1362 wird von den Weinherren, den damaligen Zeughausherren, eine Ausgabe von 3 Mark sol. "pro pixide igneo" gebucht. Diese Notiz beweist uns einwandfrei, daß zur Zeit des ersten dänischen Krieges das Pulver in Rostock bereits bekannt war. Trotzdem war die Rolle, die diese kleinkalibrigen Bleibussen in ihren ersten Anfängen neben den technisch vollkommenen Drehkraftwurfmaschinen alter Zeit spielten, für die damalige Kriegsrüstung nur unbedeutend. Unter dem gegen König Waldemar mitgeführten Geschützmaterial der Hansestädte werden nur Bliden, "dryvende werke" und "Katten" aufgezählt, ohne daß auch nur Pulverbussen erwähnt werden. Aber kaum 15 Jahre später häufen sich die Ausgaben für Feuergeschütze, Pulver und Salpeter: An Stelle der anfangs sehr primitiven, noch bedeutungslosen Bleibussen waren die technisch vollkommenen Steinbussen getreten und sprachen in Seeschlachten und im Kampfe um Städte und Burgen ihr gewichtiges Wort.

Die Weinrechnungen des 15. Jahrhunderts ermöglichen es uns, die schnelle Entwicklung des Geschützwesens in allen Einzelheiten zu verfolgen und die große Bedeutung zu erkennen, die den "bussen" vom Rostocker Rat beigemessen wurde. Von Jahr zu Jahr häufen sich die zum Teil recht beträchtlichen Summen, die ausschließlich für die Vervollkommnung und Instandhaltung des städtischen "Geschützparkes" aufgebracht wurden. Der Geschützguß muß im 15. Jahrhundert in Rostock sehr lebhaft gewesen sein: Neue Bussenarten treten an Stelle der veralteten, schlechte und unbrauchbare werden fast alljährlich umgegossen; wiederholt erfahren wir aus den Weinrechnungen, daß die neu in Dienst gestellten Geschütze vor dem Steintor eingeschossen und auf ihre Brauchbarkeit hin geprüft wurden. Um 1425 werden in Rostock die ersten mit auswechselbaren Kammern versehenen Hinterladegeschütze eingeführt, die


79) Daenell a. a. O. Bd. 2, S. 470; M. Jähns a. a. O. S. 351 f.
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eine leichtere Handhabung und weit schnellere Schußfolge ermöglichten. Zwei Jahrzehnte später ging die Stadtobrigkeit dazu über, im Gegensatz zu den bisher gebräuchlichen, aus Kupfer und Erz gegossenen Bussen solche aus Eisen geschmiedete in den Dienst zu stellen. An Stelle der gehauenen Steinkugeln wurden Geschosse aus Eisen, seltener aus Blei verwandt, die nicht Gefahr liefen, an Granitmauern wirkungslos zu zerschellen.

Die Notwendigkeit, Geschütze und eine eigene Wehrmacht zu unterhalten, hat die einzelnen Bürger wie die Finanzen der Stadt stark belastet. In vielen Städten haben die Ausgaben für Kriegszwecke den weitaus größten Teil der Einnahmen verschlungen. So hat z. B. Köln in einem Friedensjahre (1379) 82% seiner Gesamtausgaben für militärische Zwecke verwendet 80 ). Für Rostock ergab sich aus den Ratsrechnungen, die der Verfasser einer Durchsicht unterzog, für das Jahr 1437, daß nicht weniger als 76 bis 80% der Stadtausgaben der militärischen und diplomatischen Sicherung dienten 81 ). Die Verlustliste Rostocks aus dem ersten dänischen Kriege gegen Waldemar bezeugt, auf wie hohe Summen sich in Zeiten größerer Unternehmungen die Kriegskosten beliefen. Zu deren Deckung schrieb der Rat neben den regelmäßig erhobenen Schoßgeldern besondere Kriegssteuern und "Kriegsanleihen" in Form von städtischen Rentenbriefen aus 82 ). Nach der Verlustliste wurde von der Stadt die stattliche Summe von 37670 lübischen Mark aufgebracht, was einem heutigen Geldwert von etwa 31/4 Millionen gleichkommen mag 83 ).

§ 4.

Das Verpflegungswesen.

Die städtische Kriegsmacht, die Soldtruppen sowohl wie die zur Heeresfolge aufgebotenen Bürger, wurden im allgemeinen auf auswärtigen Unternehmungen durch Lieferung aus dem Proviant- und Kriegstroß unterhalten. Für die Verpfle-


80) Below a. a. O. S. 78.
81) Der oben mitgeteilte Prozentsatz ergab sich aus der W.R. 1437, G.R. 1437, K.R. 1437 u. Sch.R. 1437.
82) Vgl. S. 15, 16.
83) A. Hofmeister, Rostocks Anteil an den Kämpfen der Hansa gegen Waldemar IV. von Dänemark (B.G.R. I, 4).
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gung der Truppen sorgten während eines Heereszuges Proviantmeister, besoldete Köche und fest angestellte Bäcker 84 ). Die Stadtobrigkeit stellte als Kriegsherr daher die berechtigte Forderung, daß alle erbeuteten Lebensmittel sowie die Hälfte des erbeuteten Viehes dem städtischen Proviantmeister ausgeliefert würden 85 ).

Neben dem mitgeführten Verpflegungstroß folgten den städtischen Heeren Marketender, die auf eigene Gefahr das Kriegsaufgebot begleiteten 86 ).

Während auswärtiger Heereszüge mußte das Feindesland den Unterhalt für das Kriegsaufgebot liefern, wie bereits aus den ältesten Bestallungsurkunden des beginnenden 14. Jahrhunderts hervorgeht, die den Anteil der Söldner an der Beute festsetzten. (Vgl. Söldnerwesen S. 67.) Nach dem alten Grundsatz, der Krieg muß den Krieg ernähren, waren die städtischen Kriegshauptleute von der Ratsobrigkeit bevollmächtigt, durch Requisitionen für die nötigen Lebensmittel zu sorgen; auch städtischem Eigentum gegenüber waren sie dazu berechtigt, wenn die Bedürfnisse des Heeres es erforderten 87 ). Daß neben diesen geordneten Requisitionen regellose Plünderungen und eigenmächtige Beutezüge vor allem seitens der Soldtruppen an der Tagesordnung waren, bezeugen die Bestallungsurkunden des 14. Jahrhunderts. Da in ihnen Beutezüge (von der Stadtobrigkeit) nicht ausdrücklich untersagt waren, darf man wohl annehmen, daß sie vom Rat bis zum gewissen Grade geduldet wurden 88 ).


84) M.U.B. 13 Nr. 7821 (1353). Ausgaben für den Unterhalt des Heeres vor Raubritterschloß Dutzow. - G.R. 1422/23 usw. - Eid des städtischen Bäckermeisters vgl. lib. arb. Fol. 14 b. - Vgl. Schäfer a. a. O. S. 298.
85) B.G.R. III, 1 S. 48, Urk. v. 5. März 1300; S. 52. Urk. v. 26. Sept. 1311.
86) H.R. I. Nr. 440 D. § 11.
87) Schäfer a. a. O. S. 305.
88) Wenn Rostocks Ratskollegium trotzdem regellose Plündereien seiner Soldmannen durch Bestimmungen über Schadenersatzleistungen einzuschränken suchte (vgl. Söldnerwesen S. 68 f.), so tat es dies aus der Erwägung heraus, die Disziplin der Truppen nicht zu untergraben. Ferner waren einzelne Streifzügler, die sich vom Gros des Heeres trennten, weit mehr der Gefahr der Gefangennahme ausgesetzt. Zudem konnten der Stadtobrigkeit selbst hierdurch neue Verwicklungen und Unannehmlichkeiten erwachsen.
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Dieselben Bestimmungen der Verpflegungsweise galten für die städtischen Besatzungstruppen auf den Stadtburgen. Durch die Ratsrechnungen des 15. Jahrhunderts erhalten wir einen Einblick in manche Einzelheiten. Alljährlich werden zum Teil recht beträchtliche Summen für die Verproviantierung der einzelnen Außenforts vom Rate aufgebracht; regelmäßig erhielten die als Führer amtierenden Ratsherren und festangestellten Burgvögte mit bürgerlichen und besoldeten Truppen, städtische Bussenmeister und Ausreitevögte freie Kost und Unterkunft, solange sie Kriegsdienste auf den Stadtburgen leisteten 89 ).

Die Durchführung des Verpflegungswesens während auswärtiger Heereszüge unterschied sich grundsätzlich von der Verpflegung in der Stadt selbst. Bereits in den ältesten Bestallungsbriefen geworbener Soldtruppen wird dieser Unterschied vom Ratskollegium hervorgehoben; ausdrücklich erhielten die Soldritter nur solange neben ihrer regelrechten Besoldung besonderes Verpflegungsgeld "pro expensis" ausbezahlt, als ihre Kriegsdienste "intra civitatem nostram" in Anspruch genommen wurden, "sed dum extra civitatem fuerint, procurabuntur ut vasalli domini nostri, nec quitacio tunc sequetur" 90 ). Die Erwähnung und Regelung des Beköstigungsgeldes fehlt daher gänzlich in den zahlreichen Söldnerurkunden zur Zeit der beiden dänischen Kriege, bei denen es sich von Anfang an um auswärtige und überseeische Unternehmungen handelte 91 ).

Auch die wehrfähigen Bürger und die stehenden Stadtsöldner mußten sich, so oft sie zu militärischen Leistungen innerhalb der städtischen Befestigungsanlagen herangezogen wurden, auf eigene Kosten unterhalten. Bei den ständigen Soldtruppen war das Verpflegungsgeld von vornherein mit in der regelmäßigen Besoldung eingeschlossen. Nur zu besonderen Anlässen und Festtagen oder zur Belohnung nach außerordentlichen


89) Auszugsweise aus dem R.R. des 15. Jahrhunderts: G.R. 1430/31: "Item 2 syde spekkes vor 6 mr., dat to tessyne quam, ff." G.R. 1432/33: ".. Vor brot, dat tor zulten kamen is, ff." G.R. 1439/40. Vgl. Söldnerwesen S. 73 ff.
90) Siehe S. 31 Anm. 85. - Die Stadtobrigkeit wollte hierdurch vermeiden, daß die Söldner den einheimischen Bürgern als Einquartierung zu sehr zur Last fielen.
91) Vgl. Söldnerwesen S. 64 Anm. 229; 1. G.R. 1441/42: ".. An teringhe vor vicke mertens unde reder (Ausreitevögte) in der Stat werve ff."
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Dienstleistungen empfingen sie außerdem noch des öfteren "na hete der borgermesteren" Getränke und andere Vergünstigungen in Form des Bier- oder "offergeldes".

Im Falle einer bevorstehenden Belagerung wurde sämtliches Korn angehalten (z. B. im Jahre 1312), um für die Verteidigungstruppen wie auch für die gesamte Einwohnerschaft ausreichend Lebensmittel vorrätig zu haben. Die Stadtobrigkeit bestimmte in solchen Zeiten drohender Kriegsgefahr durch besondere Ratswillküren, die gewöhnlich in den Burspraken aufgenommen wurden, "ein jeder burger und inwohner schal sin huß mit korn, spise und wehren innerhalb dreyen monaten up 1 jharlanck versorgen" 92 ).

Die in den verschiedenen Ratsrechnungen zerstreut vorkommenden Notizen gestatten uns nur ein unvollkommenes Bild über den städtischen Verpflegungs- und Kriegstroß. Genannt werden gelegentlich "currus ad machinam, brotwagen, bussenwagen, waghen mit den tunnen to den bussenstenen", Fahrzeuge, die für das Fußvolk, für die "scherme, tarzten" und Zelte usw. bestimmt waren 93 ). Über die ungefähre Stärke des Trosses, der von der Größe der einzelnen Kriegsunternehmungen abhängig war, geben uns die Quellen keinen Aufschluß. Die nötigen Transportmittel, Last- und Zugpferde lieferte der städtische Marstall 94 ).

Die Unterkunft der Truppen.

Die stehenden Soldtruppen und die verschiedenen militärischen Berufsbeamten hatten wohl im allgemeinen für ihr Unterkommen in der Stadt selbst zu sorgen, da sie sich in der Mehrzahl aus eingesessenen Bürgersöhnen zusammensetzten. Genaue Nachrichten hierüber sind uns nicht erhalten. Nur gelegentlich erfahren wir aus den Schoß- und Kriegssteuer-


92) M.U.B. 5 Nr. 3504 (1312). - In diesem § 8 handelt es sich um einen Zusatz, der den Zeitverhältnissen entsprechend in der jeweiligen Bursprake aufgenommen (vgl. Bursprake vom 1. November 1574, vom 28. Oktober 1596, 1598 ff.) oder fortgelassen wurde. Mit Recht darf man daher wohl annehmen, daß auch bereits in den nicht erhaltenen früheren Bürgersprachen des 13. und 14. Jahrhunderts nötigenfalls derselbe erweiterte Paragraph aufgenommen wurde (B.G.R. IV, 2 S. 47, 57 f.).
93) M.U.B. 10 Nr. 6826; M.U.B. 20 Nr. 11661 usw. Vgl. R.R. des 15. Jahrhunderts (G.R. 1443/44; W.R. 1447/48).
94) Vgl. Städtischer Marstall S. 34 f.
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registern, daß sie von der an Hausbesitz gebundenen Schoßpflicht befreit waren 95 ). Von einer gemeinsamen Unterbringung in besonderen "Kasernen" oder etwa von deren Erbauung hören wir nirgends etwas.

Geworbene Söldner lagen während ihres Aufenthaltes in der Stadt Rostock zweifellos in Bürgerquartieren und wurden von den einzelnen Bürgern gegen ein entsprechendes Entschädigungsgeld beherbergt. Dieses wurde den Bürgern in der bereits geschilderten Weise "pro quitacione pignorum" oder "pro expensis" von der Stadtobrigkeit zurückerstattet 96 ).

Auf auswärtigen Heereszügen gehörte es zu den Verpflichtungen des Ratskollegiums als Kriegsherr, wie für die Verpflegung so auch für die Unterkunft seiner Truppen Sorge zu tragen. Zu diesem Zweck wurden von dem städtischen Kriegstroß gleichzeitig Zelte, tentoria oder "pawluvne", mitgeführt 97 ).

§ 5.

Der städtische Marstall.

Der städtische Marstall oder Ratsherrnstall, den wir in größeren Stadtkommunen finden, bildete gleichsam eine notwendige Ergänzung für das Geschützwesen wie für den gesamten Kriegs- und Verpflegungstroß. Es lag im Interesse der städtischen Wehrmacht, dauernd eine Anzahl von Reit- und Zugpferden bereitzuhalten, um plötzlich auftretenden Bedürfnissen jederzeit gerecht werden zu können.

Wann in Rostock der Marstall angelegt ist, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. In den Kämmereirechnungen wird der Ratsherrnstall unter der Bezeichnung "stabulum" zum ersten Male im Jahre 1348 erwähnt 98 ). Trotzdem ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß mit der Errichtung eines städtischen Marstalles einige Jahrzehnte früher begonnen wurde, da um die Mitte des 14. Jahrhunderts mehrere Marstallbeamte bezeugt werden 99 ). Vor allem lassen die An-


95) Sch.Reg. 1382 u. 1385 (M.U.B. 20 Nr. 11741 S. 433, 445 ff.); Sch.Reg. 1409, 1410 usw.
96) Vgl. Anm. 85.
97) M.U.B. 13 Nr. 7898 (1354) usw.; Ratsrechnungen des 15. Jahrhunderts.
98) M.U.B. 10 Nr. 6826; K.R. 1348/49.
99) Vgl. Anm. 108.
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gaben über Ausbesserungsarbeiten am Marstallgebäude, die schon 1352 erforderlich waren, auf ein längeres Bestehen schließen 100 ). Daß bereits im 13. Jahrhundert eine - wenn auch wohl nur geringe - Anzahl von Pferden auf Stadtkosten gehalten wurde, beweist uns eine kurze Notiz in einem der ältesten Stadtbuchfragmente (1283), nach der das Ratskollegium "pro pabulo equorum V marcas" bezahlte 101 ). Mit dem Anwachsen der Zahl der städtischen Kriegsbeamten und stehenden Stadtsöldner, mit der Entwicklung des Geschützwesens erhöhte sich auch der Bestand an Pferden, so daß sich um 1361 für den Rat die Notwendigkeit ergab, einen zweiten Marstall und ein besonderes "cellarium avenae" zu erbauen 102 ). Im Anfang des 15. Jahrhunderts gab es auch in Warnemünde einen städtischen Marstall, für dessen Einrichtung wiederholt in den 30er Jahren Ausgaben von den Gewettherren gebucht sind 103 ).

Nicht gestattet uns das Urkundenmaterial einen Rückschluß auf die Anzahl des ständig gehaltenen Pferdebestandes. Die Ausgaben "ad usus stabuli civitatis", die auf eine stattliche Höhe des Bestandes schließen lassen, waren beträchtlich. So wurden z. B. gelegentlich eines Friedensjahres (1380) zur Unterhaltung des Marstalles von der Stadtobrigkeit über 500 Mark, für die Beschaffung des Hafers schon 310 Mark aufgebracht 104 ). Wie große Bedeutung dem städtischen Ratsherrenstall von der gesamten Bürgerschaft beigemessen wurde, beweist die Tatsache, daß die Instandsetzung des Marstalles in Artikel 7 des Bürgerbriefes von 1408 als dringende Forderung aufgestellt ist, "vortmer so wille wy den Stall wedder leggen und werafftich maken ..." 105 ).

Auf Feldzügen lieferte der Marstall in erster Linie die nötigen Zug- und Lastpferde für den Troß, ferner die Bespannung für die auf schweren Wagen verladenen Belagerungs-


100) M.U.B. 13 Nr. 7581 (1352).
101) M.U.B. 3 Nr. 1705.
102) M.U.B. 13 Nr. 7581 (1352): "... et ad stabulum et ad cellarium nove civitatis locando XXXI mr. ..."; M.U.B. 15 Nr. 8962 (1361); M.U.B. 19 Nr. 11247 (1380) usw.
103) Vgl. S. 101 ff.
104) M.U.B. 19 Nr. 11247. Vgl. M.U.B. 21 Nr. 11840.
105) Rudolf Lange, Rostocker Verfassungskämpfe, S. 25. Zur Bestreitung der hohen Ausgaben "ad stabulum" wurden vom Rate sogar städtische Rentenbriefe verkauft. M.U.B. 18 Nr. 10420 usw.
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maschinen und Feuergeschütze, zu denen im 15. Jahrhundert noch die in großer Zahl vorhandenen Heer- und Streitwagen kamen. Gleichzeitig hielt die Stadtobrigkeit eine Anzahl von Reitpferden, die den stehenden Soldtruppen für Kriegsdienste zur Verfügung standen. Auch im Falle von Schadenersatzansprüchen, die einzelne Bürger oder Söldner für ihre im Stadtdienst eingebüßten Streitrosse an die Stadt stellten, wurden gelegentlich Pferde aus dem Marstall genommen 106 ). Den Ratsmitgliedern lieferte der Marstall das nötige Pferdematerial zu ihren zahlreichen Tage- und Gesandtschaftsreisen. Zuweilen wurden auch dem Landesherrn oder befreundeten Fürsten auf ihren Durchreisen Reitpferde geliehen 107 ).

Die Oberaufsicht über die Marställe übten die Kämmereiherren aus; ihnen unterstanden die verschiedenen Vollzugsbeamten, der Marstallmeister oder "stabularius" und eine Anzahl von Marstallknechten, "servi stabularii", wie sie in den Quellen genannt werden 108 ). Ferner gehörten zu den fest angestellten Beamten des Ratsherrnstalles Pferdeschmiede und Zimmerleute 109 ). Wie für alle übrigen Stadtbeamten und fest angestellten Stadtsoldmannen bestand ein Teil des Soldes der Marstallbeamten, der z. B. für den "servus stabularius" halbjährig XIV mr. betrug, in Sommer- und Winterkleidung und den erforderlichen Reitutensilien.

§ 6.

Die Heeresverwaltung und die Fürsorge des Ratskollegiums für die Wehrmacht;
die Besetzung der militärischen Führerstellen durch Ratsmitglieder.

Die Militärverwaltung der Stadt Rostock lag in den Händen des Rates. In anderen Städten, wo Handwerkerämter und Zünfte sich durchzusetzen vermochten, wie z. B. in Straß-


106) M.U.B. 15 Nr. 9317 (1364).
107) M.U.B. 19 Nr. 11247.
108) Vgl. Anm. 107; M.U.B. 10 Nr. 6826; M.U.B. 13 Nr. 7422, Nr. 7581, Nr. 7898; M.U.B. 14 Nr. 8801; M.U.B. 19 Nr. 11247 usw.
109) Vgl. Anm. 108; M.U.B. 13 Nr. 7726: ".. fabro pro sufferratura "equorum"; M.U.B. 13 Nr. 7422: ".. magistro Conrado (carpentario) .. pro precio" usw. Ähnl. M.U.B. 13 Nr. 7898, M.U.B. 19 Nr. 11247 usw.
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burg und Ulm 110 ), nahmen sie gleichberechtigt neben dem Rat an der Kriegsleitung und an der Gerichtsbarkeit teil. Die Stadtobrigkeit bedurfte in diesen Städten bei allen wichtigen Angelegenheiten des Einverständnisses der Ämter, deren Meister zuweilen in besonderen Kriegskommissionen neben Ratsmitgliedern vertreten waren. Die Erfolge der Zünfte zeigten sich weiter darin, daß sie gerichtliche und militärische Autonomie gewannen, daß ihre Meister in Krieg und Frieden Führergewalt über die Zunftmitglieder besaßen 111 ).

Die Rostocker Ämter haben niemals diese oder ähnliche Befugnisse erworben; niemals haben die Handwerkerämter und gemeine Bürgerschaft auf längere Zeit entscheidenden Einfluß am Ratsregiment gewonnen 112 ).

Die Geschäfte kriegerischer, diplomatischer, überhaupt repräsentativer Natur von Belang waren Ratsherren anvertraut 113 ). Zur Besendung von Hanse- und Städtetagen wie


110) v. d. Nahmer a. a. O. S. 29.
111) Vgl. Anm. 110.
112) Der dem Ratskollegium 1408 und 1428 zur Seite gestellte 60er-Ausschuß war lediglich eine Begleiterscheinung der inneren Unruhen und bedeutete für die Handwerkerämter nur einen vorübergehenden und zeitlich sehr beschränkten Erfolg. Nach Einführung der alten Ratsmitglieder und Wiederherstellung der früheren Zustände wurde der dem Rat zur Seite gestellte Bürgerausschuß wieder abgesetzt, oder aber er wurde mit der Zeit zu einem willenlosen Werkzeug der Ratsobrigkeit, bis "de sostigen" Ausschuß überhaupt nicht mehr erwähnt und 1439 "mit der Unterwerfung Rostocks unter den Willen der Hansestädte ganz aufgehoben wurde". (Daenell a. a. O. Bd. 1 S. 304 f.). Erwähnt wird der 60er-Ausschuß noch in den Jahren 1430/31 G.R. und 1437/38 Sch.R.
Nicht zum wenigsten hat der städtische Hansebund dazu beigetragen (Daenell Bd. 2 S. 512), daß die Versuche der Gemeinde und Handwerkerämter, die Macht der Geschlechter zu brechen und an dem Stadtregiment teilzunehmen, mißglückte. Da die Ratskollegien der einzelnen Städte gemeinsam die strengsten Verbote und schärfsten Strafen den Ruhestörern androhten und sich bei einer Wiederholung der Bürgerunruhen gegenseitig Hilfe versprachen, sicherte der Rostocker Rat während des 14. und 15. Jahrhunderts seine Vormachtstellung gegenüber den Handwerkerämtern. (Vgl. Daenell Bd. 2 S. 512 mit Quellenangabe.)
113) Auf allen Städteversammlungen und Hansetagen des 14. und 15. Jahrhunderts werden stets Bürgermeister und Ratsherren als Bevollmächtigte der Stadt Rostock genannt. Auch die Vögte auf Schonen und den hansischen Pfandschlössern wurden aus der Mitte des Rates gestellt. (Vgl. Daenell a. a. O. Bd. 2 S. 320; Lisch, Über das Rostocker Patriziat i. d. Meckl. Jahrb. 11 S. 169.)
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überhaupt zur Verwendung in diplomatischer Mission an in- und ausländische Fürsten und Herren wurden grundsätzlich nur geschworene Ratsherren "nuncii consulares" gewählt 114 ).

Der Rostocker Rat entschied über Krieg und Frieden. Besondere Kriegskommissionen, die sich häufig in anderen deutschen Stadtkommunen 115 ) neben Ratsmitgliedern aus den Älterleuten der Handwerkerämter und Zünfte oder aus Vertretern der gemeinen Bürgerschaft zusammensetzten, gab es in Rostock nicht. Sämtliche Erlasse und Kriegsbestimmungen, welche die Dienstpflichten einzelner Bürger wie auch ganzer Ämter festsetzten, gingen von der Ratsobrigkeit aus. Daneben übte sie die alleinige Gerichtsbarkeit in militärischen Angelegenheiten. Disziplinarvergehen, wie Gehorsamsverweigerung, Wachtversäumnis oder Überlauf, wurden vom Rat geahndet, ohne daß die Älterleute ein Mitbestimmungsrecht über das Strafmaß ihrer Amtsmitglieder hatten 116 ). Ebenso wurden Tapferkeit und besondere Dienstleistungen mit Befreiung von der Schoß- und Wachtpflicht oder mit anderen Vergünstigungen allein vom Ratskollegium belohnt. Lag es im Machtbereich des städtischen Ratskollegiums, unabhängig von der Zustimmung der Bürgerschaft, Fürsten und anderen Gegnern die Fehde anzusagen, so hatte es auch das Recht, im Kriegsfalle außerordentliche Schoßauflagen und Wehrsteuern auszuschreiben.

Die Werbung und Unterhaltung von Söldnern gehörte zu den Aufgaben des Rates. Sämtliche Bestallungsbriefe und Soldquittungen lauteten auf seinen Namen, nur vom Ratskollegium konnten ritterliche Burg- und Ausreitevögte, wie überhaupt festbesoldete Berufsbeamte mit militärischen Funktionen ernannt und in städtische Söldnerdienste gestellt werden. Die Amts- und Diensteide, die die Söldner und militärischen Berufsbeamten, wie Festungsbaumeister, Kriegshandwerker, Waffenmeister usw., ablegen mußten - wie überhaupt der bürgerliche Treu- und Fahneneid - wurden der ratsherrlichen Stadtobrigkeit geleistet 117 ).


114) Vgl. Anm. 113; H.R. 3 Nr. 290 § 3.
115) Kober a. a. O. S. 9; Mojeau (Städtische Kriegseinrichtungen im 14. und 15. Jahrhundert (Stralsund 1876, Gymn.-Progr. Nr. 107) S. 19; v. d. Nahmer a. a. O. S. 29.
116) Vgl. S. 19.
117) B.G.R. III, 2 S. 47 (Eid des Warnemünder Vogtes); lib. arb. Fol. 94 b; lib. arb. Fol. 96 a: Eid des Kämmereidieners, Eid der städtischen Wächter, Fol. 94 "iuramentum prefecti vigilum".
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Die herkömmlich zu Kriegshauptleuten ernannten Ratsmitglieder entschieden über die Ersatzansprüche städtischer Kriegsmannen, die im Stadtdienst Verluste und Einbußen an Waffen, Streitrossen oder sonstigen Ausrüstungsstücken erlitten hatten. Von amtierenden Ratsherren wurde innerhalb der Wehrmachtbezirke die Zugehörigkeit einzelner Bürger zu diesem oder jenem Straßenabschnitt festgelegt.

Die Ratsobrigkeit wandte den städtischen Wehreinrichtungen das größte Interesse zu. Waffenmusterungen und Truppenschau der Bürgermiliz und der Soldtruppen, Kontrollen der nächtlichen Wachtposten, Besichtigungen der Festungsanlagen und des Geschützwesens wurden von amtierenden Ratsherren persönlich durchgeführt. Zur besseren Überwachung des gesamten städtischen Kriegswesens wurden die einzelnen Verwaltungsgebiete der inneren Wehreinrichtungen bestimmten Ratsherrnämtern, den Kämmereiherren, den Gewettherren und den Weinherren übertragen. Allgemeiner Grundsatz wurde es, daß mehrere amtierende Ratsmitglieder - gewöhnlich zwei - mit einem Verwaltungszweig beauftragt wurden.

Das verantwortungsvolle Amt der Leitung und Aufsicht über das städtische Befestigungs- und Verteidigungssystem lag in den Händen der Kämmereiherren; sie hatten dafür zu sorgen, daß Wall und Graben erhalten und ausgebessert wurden; von den ihnen zu Gebote stehenden Stadteinnahmen mußten die amtierenden Kämmereiherren den Bau von Zingeln, Zugbrücken und anderen Wehranlagen bestreiten. Ihnen unterstanden im Anfang des 15. Jahrhunderts die Festungsbaumeister und die festangestellten Handwerksmeister, die als eigentliche Vollzugsbeamte Bau- und Ausbesserungsarbeiten unternahmen und ausführten. Ferner führten die Kämmereiherren die Aufsicht über den Ratsherrn- oder städtischen Marstall.

Die Gewettherren wurden mit der besonderen Aufgabe betraut, für die Erhaltung des Hafenortes Warnemünde und für die zum Schutze der Warnowmündung angelegten Verteidigungs- und Sperranlagen zu sorgen. Hohe Summen wurden alljährlich von ihnen verbucht, die für die dortigen Wehranlagen verauslagt waren. Nach dem Zeugnis der Gewettrechnungen weilten häufig Bürgermeister und Gewettherren in Warnemünde, um sich persönlich von dem Fortgang der um 1430 neu errichteten Burg und Vogtei zu überzeugen.

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Wahrscheinlich erstreckte sich die Amtstätigkeit der Gewettherren weiter darauf, die einzelnen Wehr- und Dienstpflichten der Bürgermiliz zu überwachen, da der Amtseid der Wachtschreiber, der späteren "prefecti vigilum" und der geschworenen Wächter und Torhüter speziell den amtierenden Gewettherren abgelegt wurde, da ferner von den Stadtdienern unter ihrer persönlichen Leitung im Falle von Wachtversäumnis und sonstigen Dienstvergehen Pfändungen bei schuldigen Bürgern und Bauern vorgenommen wurden 118 ). Gleichzeitig wurden von den Gewettherren die zum Teil hohen Ausgaben für die Ausrüstung der Friedekoggen und Seestreitkräfte aufgebracht, wie die in ihren Rechnungen regelmäßig wiederkehrende Rubrik "to der zeevart" bezeugt.

Eine weitere wichtige militärische Aufgabe fiel einem dritten Ratsherrnamt, den Weinherren, zu. Ihnen unterstanden die städtischen Zeughäuser, das "balistarium" und Bussenhaus. Vor allem hatten die amtierenden Weinherren für die Beschaffung und Vervollkommnung des städtischen Geschützwesens zu sorgen, die Verteidigungsanlagen mit Schleudermaschinen, Bussen und sonstigem Kriegsmaterial, wie Pulver, Pfeilen und Geschossen, zu versehen.

Jedes Ratsherrnamt mußte im allgemeinen die Ausgaben für seinen Verwaltungszweig aus dem ihm zu Gebote stehenden Stadteinkünften bestreiten. Reichten jedoch die vorhandenen Geldmittel des zuständigen Ratsherrnamtes nicht aus, so wurden die Mehrausgaben von den weniger beanspruchten Amtskassen mitbestritten 119 ).


118) G.R. 1433-34: "Item 1 mr. den wachteren, dat se myt den weddehern gingen in der stat, do dat ghelt van den borgheren ghesammelet wart." G.R. 1437-38: "... an teringhe der stat denren, do de weddehern pandeden tome rovershagen. Item den weddehern knechten .. to 2 tyden tor munde, do se de lude pandet hadden." Ähnlich G.R. 1438-39 usw.
119) Wiederholt wurden z. B. in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, als das Feuergeschütz in seiner Entwicklung und Vervollkommnung zu großer Bedeutung gelangte, auch Kämmerei- und Gewettherren zu pekuniären Beisteuerungen für die Beschaffung und Organisation der Pulverwaffen herangezogen (vgl. K.R. und G.R. des 15. Jahrh.; vgl. Geschütz- u. Befestigungswesen). Andererseits bezeugen die erhaltenen Ratsrechnungen, daß umgekehrt bei der Errichtung von größeren Wehranlagen, wie z. B. der Burg Warnemünde in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts, sämtliche Ratsherrnämter die Geldmittel gemeinsam aufbrachten. - Vgl. Befestigungswesen.
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Alle amtierenden Ratsherren waren verpflichtet, über Einnahmen und Ausgaben ihres Verwaltungszweiges genau Buch zu führen. Am Ende jedes Amtsjahres mußten sie den Bürgermeistern und dem Rat in seiner Gesamtheit Rechenschaft ablegen. Im Anschluß an diese jährlichen "Kassenrevisionen" wurde gewöhnlich zwischen Mehrausgaben und Überschuß der einzelnen Amtskassen ein Ausgleich herbeigeführt 120 ).

Die Tätigkeit des Rostocker Rates umfaßte nicht bloß die Militärverwaltung; das Ratskollegium stellte auch die Führer und Kriegshauptleute aus seiner Mitte und nahm die Besetzung der Führerstellen für sich allein in Anspruch.

Die durch Wahl zu Führern bestimmten Ratsherren bekleideten ihr militärisches Amt als Ehrenamt; sie waren zu der Übernahme und unentgeltlichen Ausübung desselben verpflichtet. Hören wir trotzdem des öfteren von Zahlungen, die die amtierenden Ratsherren erhielten, so haben wir in diesen scheinbaren Gehältern oder Besoldungssummen lediglich die Vergütungen von Auslagen, die sie "in der stat werne" gehabt haben, oder Schadenersatzleistung zu erblicken 121 ). Eine besondere Vergütung "de prerogativa capitaneis consularibus facienda", die gelegentlich ratsherrliche Kriegshauptleute in anderen Hansestädten empfingen 122 ), ist für Rostock nirgends bezeugt.

Die oberste Führung und verantwortungsvolle Leitung über das gesamte Heer lag noch in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts fast ausschließlich in den Händen von Ratsherren und Bürgermeistern, als sich das städtische Truppenaufgebot bereits zum großen Teil aus Soldtruppen zusammensetzte 123 ). Im ersten dänischen Kriege gegen König Waldemar


120) Sch.Reg. 1440-41: "... her tymme van gnoyen kemerer hefft rekenschop ghedan van der schote van upborighe unde uthgifft." Ähnlich R.R. des 15. Jahrh.; vgl. "lib. comput. S. 59 A (1438).
121) G.R. 1435-36: "Item 26 mr. her lewetzowen van schade synes perdes, dat vor der Wismer dot bleff." Ähnlich W.R. 1433-34; W.R. 1434-35 usw.
122) H.R. I Nr. 299 § 5: ".. et prerogativa capitaneorum", § 10 "de prerogativa capitaneis consularibus".
123) Im Jahre 1312 wurden die Rostocker im Castell zu Warnemünde von einem ihrer Ratsherren befehligt (Fock a. a. O. III S. 11). Während des Feldzuges gegen die Raubritterschlösser Dömitz und Dutzow (1353) standen die Ratsherren H. Frisonis und B. Copman an der Spitze des Rostocker Truppenkontingentes (H.R. I Nr. 184-185; M.U.B. 13 Nr. 7898). In den achtziger und neunziger (  ...  )
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war die Stadtobrigkeit darauf bedacht, die obersten Führer aus ihrer Mitte zu stellen. Fehlte es beim Kriegsausbruch im Ratskollegium an kriegskundigen Persönlichkeiten, so wählten sie im Interesse der Allgemeinheit solche aus Rostocker Geschlechtern, die dann nachträglich häufig kraft ihrer Hauptmannsstellung in den Rat aufgenommen wurden, wie im Jahre 1362 die Ratsherren Friedrich Suderland und Johann Kale 124 ). Kurz vor dem Ausbruch des zweiten dänischen Krieges (1368), als an die einzelnen Hansestädte die Aufforderung erging, bis zum nächsten Hansetag ihre "capetanei" zu bestimmen, fiel die Wahl des Rostocker Stadtregiments auf die beiden Ratsmitglieder Johannes de Pomerio und Johannes Nachtraven 125 ). Charakteristisch für die Besetzung von militärischen Führerstellen mit städtischen, speziell auch mit Rostocker Ratsmitgliedern ist die Wahl der Hauptleute, welche die Besatzungstruppen auf dem den Hansestädten verpfändeten Schloß Borgholm befehligen sollten: Nach der Übernahme der Feste durch den Wismarschen Ratsherrn Johann Glessow 126 ) dachten die Ratssendeboten eine zeitlang daran, den besoldeten Ritter Johann Fleming zu seinem Nachfolger zu bestimmen 127 ); doch die endgültige Wahl des lübischen Ratsherrn Dethard und später des Engelbert Dalvitz aus Stralsund zum Kommandanten auf der Feste Borgholm berücksichtigte den geltenden


(  ...  ) Jahren während des nordischen Krieges gegen Königin Margarete waren die Ratsherren Johann van der Aa und Heinrich Witten Kriegshauptleute. M.U.B. 20 Nr. 11661; M.U.B. 22 Nr. 12320, Nr. 12509, Nr. 12748.
124) Unter den vor Ausbruch des Krieges genannten Ratsherren, von denen jeder einzelne 100 Mark zur Kriegsausrüstung beisteuerte, befinden sich die oben genannten Fr. Suderland und Joh. Kale nicht, die auf dem Unternehmen je eine Rostocker Kogge befehligten. Die beiden anderen Kriegshauptleute waren wahrscheinlich Gottfried Kind und Vicko Alkun, denn diese vier sind auffälligerweise erst nach den Kriegsvorbereitungen in den Rat aufgenommen; vielleicht gerade mit Rücksicht auf ihre bereits erprobten Kriegserfahrungen (H.R. I Nr. 311).
125) H.R. I Nr. 436, 14: "Item quilibet nominavit suos capitaneos, ... Roztoccensium Johannes de Pomerio et Johannes Nachtraven."; H.R. I Nr. 440, A, 3.
126) H.R. I Nr. 280 § 1; Nr. 321 § 14.
127) H.R. I Nr. 299 § 15: "Item de domino Johanne Vlemingh milite, ... Medio tempore quivis loquatur in suo consilio de consule vel cive utili et valido super idem castrum ponendo, quia non videtur ipsis utile, quod ibi curiensis ponatur ..."
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Grundsatz der aristokratischen Ratskollegien, verantwortungsvolle Führerstellen städtischen Ratsmitgliedern anzuvertrauen 128 ). Demgemäß schickte auch Rostock als Befehlshaber über die dortigen Besatzungstruppen den Ratsherrn Friedrich Suderland 129 ).

Der Grundsatz des Rostocker Ratskollegiums, aus seinen Reihen Führer an die Spitze des Heeres zu stellen, wird uns um so verständlicher, wenn wir berücksichtigen, daß eingesessene Bürger ein weit größeres Interesse und Verantwortlichkeitsgefühl hatten als fremde und bezahlte Söldner, die das Ratskollegium außerdem weit schwerer zur Rechtfertigung heranziehen konnte. Denn wehe dem Unglücklichen, unter dessen Oberkommando eine Niederlage verschuldet oder sonstiges Kriegsunheil wider die Stadt heraufbeschworen war; unerbittlich wurde von ihm Rechenschaft und Sühne für das Mißlingen des Unternehmens gefordert, die schwerste Strafe über ihn verhängt. So hören wir z. B. aus dem Jahre 1312, daß dem ratsherrlichen Truppenführer wegen Übergabe städtischer Söldner das Bürgerrecht genommen und er der Stadt verwiesen wurde 130 ), während Johann Suderland wie auch wenige Jahre vorher der Lübecker Ratsherr und Oberbefehlshaber Johann Wittenborg, den Verlust der Feste Borgholm sogar mit dem Tode sühnen mußte 131 ).

Gerade diese hohe Verantwortung, die vornehmlich auf den Schultern der amtierenden Ratsmitglieder ruhte, ferner der wachsende Einfluß des Söldnerwesens mag das Ratskollegium veranlaßt haben, seit der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts kriegserfahrene und kampfkundige Söldnerführer in städtische Dienste zu stellen. Zum ersten Male hören wir im Jahre 1362 zur Zeit des ersten dänischen Krieges von ritterlichen Söldnern, die in den Quellen als Führer einer "societas" bezeugt werden, wie Bertold Stoltenberg und Hartwig von Loo 132 ). In den letztgenannten Soldrittern haben wir jedoch nur Unterführer zu erblicken, die unter der obersten Kriegsleitung amtierender Ratsmitglieder kleinere Abteilungen führten. Denn in keiner Bestallungsurkunde, in keiner


128) H.R. I S. 328 ff.
129) H.R. I Nr. 376 § 18.
130) M.U.B. 5 Nr. 3559.
131) H.R. I Nr. 395 (1367 12. März); M.U.B. 15 Nr. 9400, 9405.
132) H.R. I Nr. 310, 5; Nr. 311.
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Soldquittung werden diese ritterlichen Söldnerführer ausdrücklich als "capitanei" oder "hovetlude" bezeichnet, obwohl doch wiederholt in den Söldnerbriefen ausdrücklich die Rede von städtischen Kriegshauptleuten ist 133 ). Deutlich tritt die Führerstelle eines Soldritters in einer Urkunde des Jahres 1369 hervor. Der hier genannte Vicko Slemyn erhielt neben seinem regelrechten Sold noch eine besondere Vergütung von drei Mark fein, "pro mea prerogativa" 134 ). Aus einer ähnlichen Quittung (1369), die dem Rostocker Bürger Bosse Vorenholte ausgestellt wurde, erfahren wir, daß neben fremden ritterlichen auch einheimische bürgerliche Söldner vom Ratskollegium mit Unterführerstellen betraut wurden 135 ).

Wenn wir in den beiden ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts gelegentlich hören, daß einheimische Bürgersöhne als besoldete "hovetlude" die Führung eines "schuttenbotes" oder einer "snycke" übernahmen, so handelte es sich in diesen Fällen um die Ausrüstung kleinerer Kriegsschiffe gegen Überfälle von Seeräubern. Da Rostock während dieser Jahre (bis 1426) in keinen Krieg verwickelt war, können wir wohl annehmen, daß es ebenfalls nur untergeordnete Führerstellen waren 136 ). Zuweilen bildeten die in den Ratsrechnungen erwähnten Schiffshauptleute mit ihren Besatzungen lediglich die Geleitsmannen von Ratsherren, die als diplomatische Vertreter zu Städteversammlungen entsandt wurden 137 ) (z. B. im Jahre 1423).


133) Auch der Ritter Berthold Stoltenberg, der im M.U.B. 15 Nr. 9284 in der Überschrift irrtümlich als Hauptmann bezeichnet wird, ist in der Originalurkunde (Rostocker Ratsarchiv unter Söldnerquittungen) nur als Ritter gekennzeichnet, und nicht als "capitaneus" (vgl. hierzu M.U.B. 16 Nr. 9436). - H.R. I Nr. 453, 3; 452, 1. Dem hier genannten Soldritter Joh. Hanentzaghel, in dem wir nach dem Wortlaut des Bestallungsbriefes und seinem höheren Sold entsprechend einen Unterführer zu erblicken haben, werden ausdrücklich "nostri capitanei" gegenübergestellt. Die Hauptleute, welche über den Anspruch auf Schadenersatz zu entscheiden hatten und den Sold auszahlten, waren grundsätzlich Mitglieder des Rates (vgl. H.R. I Nr. 452, 22).
134) H.R. I Nr. 452, 11.
135) M.U.B. 16 Nr. 9985.
136) G.R. 1420-21 (vgl. Anm. 137).
137) G.R. 1423-24: "In der ersten weken na paschen, do was nelesschas hovetman." - Die beiden Rostocker Ratsherren "Zeghelden to deme heren koninge van denemarken to kopenhagen" (Städteversammlung zu Kopenhagen am 23. Mai 1423, vgl. Daenell a. a. O. Bd. 1 S. 220).
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Regelmäßig wurden Ratsmitglieder mit den verantwortungsvollen Führerstellen betraut, sobald es sich um größere Flottenrüstungen handelte 138 ). So z. B. befehligte im Jahre 1417/18 Heinrich von Demen die auslaufenden "Vredeschepe" 139 ). Ebenso finden wir 1422, als die Städte Rostock, Lübeck und Wismar ihre Kriegsflotten verstärkten und 3000 Gewappnete in den Sund entsandten 140 ), zwei Rostocker Ratsherren an der Spitze der Rostocker Truppenkontingente 141 ). Bezeichnend für die Besetzung der Oberbefehlshaberstellen durch Ratsmitglieder ist vor allem die Tatsache, daß im Verlauf des holländischen Krieges (1438-41), als gerade von Rostock größere Truppenmassen zur Eroberung der dänischen Schlösser Helsingborg, Helsingör, Örekrok gestellt wurden 142 ), neben Ratsherren sogar Bürgermeister die Kriegsleitung übernahmen 143 ).

Das Oberkommando über die gesamte städtische Kriegsmacht lag bis zum Ende des 15. Jahrhunderts regelmäßig in den Händen der ratsherrlichen Stadtobrigkeit. Die Bürgerunruhen des 15. Jahrhunderts und die Bestrebungen der Handwerkerämter, an dem Stadtregiment und der Kriegsleitung


138) In den G.R. der Jahre 1434-35, 1436-37, 1437-38, l440-41, 1441-42 usw. werden keine Führer genannt, obwohl die unter der Rubrik "to der zeevart" gebuchten Ausgaben auf Kriegsunternehmungen größeren Stils schließen lassen. Wir können zweifellos annehmen, daß auch in diesen Jahren grundsätzlich ratsherrliche Hauptleute an der Spitze dieser Flottenexpedition standen. Auffällig wäre es sonst, daß in den größtenteils recht ausführlichen Rechnungen, in denen die verschiedenen Ausgaben für die einzelnen Ausrüstungsgegenstände sowie für die Schiffsbesatzung bis ins einzelne angeführt sind, ausgerechnet der Sold der bürgerlichen Hauptleute nicht erwähnt sein sollte. - Ein Beweis hierfür dürfte folgende Tatsache sein: In der G.R. 1440-41 werden trotz der großen Kriegsvorbereitungen die Führer nicht erwähnt, aus der Sch.R. desselben Jahres jedoch erfahren wir, daß Bürgermeister und Ratsherren das Rostocker Truppenaufgebot führten (vgl. Anm. 143).
139) G.R. 1417-18: "Item exposuerunt primo her hinrich van demen to den vredeschepen .., item van hete her olrik growen de wepener wedder up to vorende."
140) Daenell a. a. O. Bd. 1, S. 217.
141) G.R. 1422-23: "Item her baggele, her godeke .. vor ere tzoldener, de se erst holden to zeevart." - In der G.R. 1423-24, 1426-27 werden ebenfalls ratsherrliche Hauptleute genannt.
142) H.R. 2, II Nr. 378, Nr. 401, Nr. 524.
143) Sch.R. 1440-41: "Item .. en jewelik borgermestere tor zeewart 2 syde spekkes unde en jewelk radman 1 syde."
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Anteilnahme zu gewinnen, haben keinen nachhaltigen Erfolg gehabt.

Erst um 1500 wurde vom Ratskollegium mit dem herrschenden Grundsatz gebrochen. Wie die Bestallungsurkunden und Söldnerbriefe dieser Zeit bezeugen, nahm der Rostocker Rat nunmehr Stadt- und Kriegshauptleute und Söldnerführer in Stadtdienst, die als selbständige Kriegsstadthauptleute fast unbeschränkte Führergewalt ausübten 144 ).


Kapitel II.

Systematischer Teil.

§ 1.

Die Bürgerwehr.

Mit der Erwerbung der Militärhoheit im ausgehenden 13. Jahrhundert ergab sich für Rat und Bürgerschaft die Notwendigkeit, für die militärische Sicherheit der Stadt selber Sorge zu tragen.

Es gehörte zu den Obliegenheiten aller wehrfähigen Bürger, mit Gut und Blut für das Wohlergehen der Stadt einzutreten. Folgende drei Arten von Dienstleistungen durch die Bürgerschaft sind zu unterscheiden:

  1. die Wehr- und Dienstpflicht,
  2. die Pflicht der Bürgerschaft, eigene Waffen und Streitrosse zu halten,
  3. die Verpflichtung zum Mauerbau.

1. Die Wehr- und Dienstpflicht der Bürgerschaft.

Die Wehrmacht Rostocks beruhte wie auch in anderen deutschen Stadtkommunen auf dem Grundsatz der allgemeinen


144) Von 1371-1487 sind keine Bestallungsbriefe und Söldnerquittungen erhalten (Rost. Ratsarch. unter "Söldner"). - Söldnerurkunde 1487: "Der Rostocker Rat bekennt, den Ewald Wyndolt auf 1 Jahr als Rittmeister u. Hauptmann in seine Dienste gestellt zu haben." Ähnl. Söldn.Urkk. 1487, 2. Juli; 1487, 22. Oktober; 1487, 15. Juli. Söldn.Urk. vor 1500, 8. Februar: "Claves Dure an den Rostocker Rat erklärt sich bereit, mit 3-400 Knechten in den Stadtdienst zu treten." (Das. ähnl. Beispiele.)
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Wehr- und Dienstpflicht der Bürger. Alle wehrfähigen Bürger hatten die Pflicht, bewaffnet und kampfbereit dem Aufgebot der Ratsobrigkeit Folge zu leisten, sei es zur Verteidigung der eigenen Stadt, sei es zu auswärtigen Fehden oder überseeischen Kriegsunternehmungen.

Die Hauptstärke Rostocks lag wegen der zahlreichen und festen Wehranlagen in der Defensive; im Schutze der städtischen Verteidigungswerke konnte die Ratsobrigkeit, wenn sie alle wehrfähigen Bürger einsetzte, bei der noch unvollkommenen Belagerungskunst auch einer größeren Übermacht ohne allzu große Opfer und Verluste trotzen.

Zu Angriffskriegen und auswärtigen Heereszügen bot der Rat in der Regel nur einen Teil der dienstpflichtigen Bürgerschaft auf. Die Stärke des bürgerlichen Truppenaufgebotes war abhängig vom Zweck des Feldzuges und von der Kriegsmacht des Gegners. Nur gelegentlich erfahren wir die Stärke des Aufgebotes. Zur Eroberung des Raubschlosses Ahrenshop im Jahre 1395 zogen 1000 Mann aus; im ersten Kriege gegen König Waldemar von Dänemark betrug das Truppenkontingent Rostocks etwa 400 Mann; an der für Rostock siegreichen Schlacht bei Pankelow (16. August 1487) nahmen 1500 Fußgänger und 150 Reisige teil 145 ).

Die Wachtpflicht bildete mit den wichtigsten Bestandteil der allgemeinen Wehr- und Dienstpflicht. Die älteste, uns überlieferte Bursprake von 1400 - wie auch die der folgenden Jahrzehnte - hat daher die Pflicht des Wachens an erster Stelle (§ 1) genannt 146 ). Sämtliche wehrfähigen Bürger waren grundsätzlich zur Bewachung und Verteidigung der Stadtmauern verpflichtet.

Die wichtigen Tore und Mauertürme wurden ursprünglich auch bei Tage mit bürgerlichen Wachtposten versehen. Doch mit dem Aufblühen von Handel und Verkehr mußten der ständige Sicherheitsdienst, vor allem die "Tagwachen", von den berufstätigen Bürgern als überaus störend empfunden werden. Die Stadtobrigkeit ging daher bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts dazu über, festbesoldete "vigiles" in städtische


145) K. Koppmann, Geschichte der Stadt Rostock, S. 54 f. - M.U.B. 22 Nr. 12800 (1395).
146) E. Dragendorff, Die Rostocker Burspraken (B.G.R. IV, 2) S. 4 ff.
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Dienste zu stellen, die an Stelle der wehrpflichtigen Bürger als ständige Wachtposten auf Toren und Türmen lagen 147 ).

Der nächtliche Wacht- und Sicherheitsdienst dagegen wurde auch weiterhin grundsätzlich als ein Teil der allgemeinen Wehrpflicht ohne jede Vergütung von den dazu aufgebotenen Bürgern versehen.

Beim Erschallen der Wächterglocke "campana vigilum", die hoch oben von der Jakobikirche herab den Bürger an seine Pflicht mahnte, bezogen die zum Wachtdienst aufgebotenen Bürgersöhne ihre nächtlichen Posten. Wacht-, Kur- und Wikhäuser, die zum Teil in der Nähe von Mauertoren errichtet waren, teils längs des ganzen Mauerwalles verteilt lagen, boten den Wachen vor und nach ihren nächtlichen Runden Aufnahme 148 ). Daß auch berittene Patrouillen zur Nachtzeit die Stadt durchzogen, um die im allgemeinen zu Fuß dienenden Wachtmannschaften zu verstärken und eine schnellere Alarmierung zu ermöglichen, bezeugt eine kurze Notiz aus den Jahren 1270/75, "tertio noctis silentio cum vigiles equitaverunt" 149 ). Der Rat traf für den Verkauf städtischer Grundstücke die einschränkende Bestimmung, daß unmittelbar hinter dem Mauerwall ein freier Zwischenraum von 10 Fuß Breite verbleiben müsse 150 ), damit den Wachtposten nächtliche Ronden längs der Stadtmauer ermöglicht würden.

In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stellte die Stadtobrigkeit einen Wachtschreiber an, um eine genaue und gerechte Durchführung der allgemeinen Wachtpflicht zu gewährleisten; der "notarius" oder "prefectus vigilum", wie er in seinem späteren Amtseid genannt wird, führte die städtischen Wachtregister und bot die einzelnen Bürger zum Wachen auf 151 ).

Es ist selbstverständlich, daß in Zeiten des Friedens nicht alle Bürger gleichzeitig zum Wachtdienst herangezogen wurden.


147) Vgl. Söldnerwesen S. 70.
148) K.R. 1434-35: "unde tom kurhus up der oldenstad." K.R. 1437-38: "dat wachterhus vor sante petere dor." K.R. 1455-56: "vor buwet in deme wekerhus." K.R. 1458-59: "ein wachthus to makende vor deme stendor." K.R. 1459-60: "dat wichus to makende vor deme bramowen dore" usw.
149) St.Fr. 1270-75, Fol. 9 b.
150) St.Fr. III, 6 (1278-1313), Fol. 5 a: "Civitas vendidit spacium .., ita quod 10 pedes maneant usque ad murum." - M.U.B. 5 Nr. 3184.
151) Vgl. Söldnerwesen S. 70.
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Nach § 1 der ältesten Bursprake waren nur diejenigen dazu verpflichtet, denen durch den Wachtschreiber die Wacht "gekündet" war. Aus einem späteren Zeugnis, dem Bürgerbrief vom Jahre 1428, erfahren wir, daß sich die Pflicht des Wachens im Anfang des 15. Jahrhunderts alle drei bis vier Wochen wiederholte 152 ).

Die erhaltenen Burspraken und Bürgerbriefe lassen nicht erkennen, ob den einzelnen Bürgern bestimmte, Ihren Wohnstätten möglichst nahe gelegene Mauerabschnitte und Wehranlagen - besonders auch für den Fall einer plötzlichen Alarmierung - zugewiesen wurden, wie es z. B. in Wismar geschah 153 ). Daß dies auch in Rostock der Fall war, ist aus dem Grunde wahrscheinlich, weil die Bewohner einzelner, vom Rat genau festgelegter Straßenabschnitte für die Instandhaltung der benachbarten Stadtanlagen zu sorgen hatten und die Gliederung der Wehrmachtsbezirke auf rein topographischer Grundlage beruhte 154 ).

Die städtische Obrigkeit verwendete sogar Mitglieder des Ratskollegiums als sog. "Gassenhauptleute", die auf nächtlichen Ronden persönlich die Wachtposten kontrollierten 155 ).

Es war vom Rat strengstens verboten, die nächtlichen Wachtposten zu stören oder gar tätlich anzugreifen. Wie hart derartige Vergehen geahndet wurden, zeigt uns ein Beispiel aus dem Jahre 1309; der Verlust des Bürgerrechtes, die Ausweisung aus der Stadt war die Strafe für solche Vergehen 156 ). Auch noch im 15. Jahrhundert wurde der Schutz der Wachmannschaften durch besondere Ratsstatuten gewährleistet, als sich die nächtlichen Sicherheitsposten neben den aufgebotenen Bürgersöhnen zum Teil schon aus bezahlten und "geschworenen" Mannen rekrutierten 157 ). Die Höhe der jeweiligen Geldbuße wurde in den Einzelfällen vom Ratskollegium festgesetzt. Das Verbot "na glockentid" , d. h. nach dem Erschallen der Wacht-


152) R. Lange, Rostocker Verfassungskämpfe bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts (Gymn.-Programm Nr. 611, 1888). Bürgerbrief vom Jahre 1428 § 4 (S. 25 f.): "Item de wacht schal nicht er ummekamen, men umme de veer weken."
153) Techen a. a. O. S. 85 ff.
154) Vgl. Historischen Teil, S. 18.
155) St.Fr. I, 1 Fol. 8 a: "a consulibus, qui custodiebant vigilias nocturnas."
156) M.U.B. 5 Nr. 3317.
157) Lib. arb. Fol. 11 a, - Rostocker Bursprake § 14.
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glocke und nach dem Aufzug der städtischen Sicherheitsposten, auf den Straßen "ohne Licht und ohne zwingenden Grund" zu verweilen, läßt gleichfalls die Absicht der Stadtobrigkeit erkennen, vor allem die Wachmannschaften möglichst wenig von ihrer Dienstpflicht abzulenken. Nach der Bursprake § 4 drohte der Rat bei Zuwiderhandlung mit der hohen Geldbuße von 3 Mark Silber 158 ).

Die Strafe für Wachtvergehen wurde von den amtierenden Gewettherren verschieden hoch festgesetzt, wie die in den Ratsrechnungen des 14. und 15. Jahrhunderts häufig gebuchten Strafgelder "pro negliencia vigilum" oder "vorsumenisse de wachte" bezeugen 159 ). Die älteste Bursprake nennt als Höchstmaß der Strafe 3 Mark Silber 160 ).

Bei Neuaufnahme von Bürgern sah die Stadtobrigkeit strenge darauf, daß diese ihren Bürgerpflichten nachkamen, d. h. vor allem auch die des Wachtdienstes erfüllten. Das Bürgerrecht wurde ihnen nur gegen Stellung eines Bürgen aus der Rostocker civitas verliehen 161 ).

Der Rostocker Bürger war also wacht- und dienstpflichtig. Der Wacht- und Sicherheitsdienst der Stadt haftete an der einzelnen Person kraft der Zugehörigkeit zur "civitas".

Wie aber stand es mit jenen "fremden" Einwohnern, die nicht das "ius civile" besaßen, also nicht Vollbürger waren? -

Die Ratsobrigkeit hatte natürlich das größte Interesse daran, auch diese Miteinwohner, die doch in gleicher Weise Schutz und Sicherheit hinter den Stadtmauern genossen, zum Wachtdienst heranzuziehen. Sie traf daher die Bestimmung, daß die Pflicht des Wachens - ähnlich wie in Wismar 162 ) - an städtischem Besitz und Eigentum haften solle: So erwarb


158) Bursprake § 4 (B.G.R. a. a. O.).
159) St.Fr. III, 1 Fol. 6 a: ".. emendavit 4 sol. de vigiliis". Ähnlich St.Fr. III, 6 Fol. 1 a: - G.R. des 14. Jahrhunderts: "1 mr. pro negliencia vigilum". - G.R. des 15. Jahrhunderts: "vor vorsumenisse de wachte."
160) Bursprake § 1 (B.G.R. a. a. O.).
161) St.Fr. III (1288-1304): ".. promisit pro Petro .., quod servet iura civitatis." - St.Fr. 1258-62: "Isti sunt fideiiussores illorum, qui habent civilitatem, ut conservent iustitiam civitatis ad annos 5." ff. - St.Fr. III, 4 (1279) Fol. 1 a: "Fideiiussit pro .., quod fiat civis." - St.Fr. III, 5 (1278-94) Fol. 1 a, 4 a: "promisit .., quod sit civis per annum et diem."
162) Techen a. a. O. S. 85 ff.
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z. B. im Jahre 1279 der Ritter Redag von einem Rostocker Bürger ein Erbe unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, für dieses zu "wachen und zu schossen", "de ea vigilet et collectam faciat" 163 ). Ein andermal bedingt der Rat aus, daß ein von Johann Raven veräußertes Haus wachtpflichtig bleiben solle und der Besitzer die zum Sicherheitsdienst nötigen Waffen zu halten habe 164 ).

Die Ratsobrigkeit trifft ähnliche Maßnahmen, sobald Geistliche und geistliche Körperschaften städtischen Grund und Boden erwarben, gleichfalls um die Zahl der wachtpflichtigen Personen zu heben. In einem Kaufvertrag mit dem Kloster zum Heiligen Kreuz aus dem Jahre 1307 verpflichtet sich dieses, daß alle Bewohner, welche es auf dem neu erworbenen Besitz ansetzt, die Bürgerpflichten, vor allem die des Wachens, mitübernehmen, "et tales in eisdem domunculis locari debent homines, qui in vigiliis, talia et aliis quibuscunque civilibus iura civitatis observent" 165 ). Die Stadtobrigkeit nahm sorgsam darauf Bedacht, daß Neuerwerbungen durch Nichtbürger an Grundbesitz wacht- und schoßpflichtig blieben, daß vor allem Weltliche, die sich auf geistlichem Grund und Boden ansiedelten, allen Bürgerpflichten nachkommen mußten. Des öfteren knüpft die Stadt an den Verkauf oder die Vererbung bürgerlicher Besitzungen an Geistliche die ausdrückliche Forderung, daß der frühere Besitzer für das entäußerte Gut zu wachen habe; in anderen Fällen bestimmte der Rat, daß das Erbe binnen Jahr und Tag wieder an Bürger verkauft werden müsse 166 ).

Eine Notiz aus dem Jahre 1279, nach welcher die beiden in Rostock gelegenen Klosterhöfe Klein-Doberan und Satow je zwei Wächter zu stellen hatten, beweist, daß ursprünglich auch Kleriker und geistliche Körperschaften zu den bürgerlichen Wacht- und Dienstleistungen herangezogen wurden 167 ).

Im Anfang des 14. Jahrhunderts jedoch waren Geistliche und geistliche Körperschaften von der persönlichen Ausübung


163) M.U.B. 2 Nr. 1480.
164) M.U.B 3 Nr. 1722. - Ludwig Krause a. a. O. S. 37 (Zur Rostocker Topographie).
165) M U.B. 5 Nr. 3184.
166) M U.B. 3 Nr. 1731, 1722; St.Fr. (1262/70B) Nr. 128; M.U.B. 16 Nr. 9802 usw.
167) St.Fr. III, 2 (1279-80) Fol. 1 a.
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des Sicherheitsdienstes befreit, da nach der kanonischen Regel die gesamte Geistlichkeit sowie alles Kirchengut von weltlichen Lasten entbunden sein sollte. In den Ratsrechnungen und Ratswillküren des beginnenden 14. Jahrhunderts finden wir die persönlichen Verpflichtungen der Geistlichkeit durch pekuniäre Leistungen abgelöst; ihre Höhe betrug für das Kloster Klein-Doberan alljährlich eine Mark 168 ).

Die Befreiung von persönlichen Dienstleistungen griff allmählich auch auf die nicht aus Geistlichen bestehende Bürgerschaft über. So erfahren wir bereits aus dem ausgehenden 13. und im Anfang des 14. Jahrhunderts, daß zuweilen städtische Beamte vom Ratskollegium vom bürgerlichen Dienst und Wachtpflichten entbunden waren. In einigen Fällen werden in den abgeschlossenen Dienstverträgen von vornherein Befreiungen vom Wachtdienst und anderen Bürgerlasten versprochen und zugebilligt, um tüchtige und erprobte Leute für den städtischen Dienst zu gewinnen 169 ). Andererseits hören wir, daß ein aus seinen Diensten entlassener Stadtschreiber für Treue und langjährige Pflichterfüllung nachträglich mit der Befreiung vom Wachen belohnt wird 170 ).

Seit etwa der Mitte des 14. Jahrhunderts wurde Befeiung vom persönlichen Wachen auch solchen Einwohnern gewährt, die weder zur Geistlichkeit noch zu den städtischen Beamten gehörten. Diese Bürger mußten einen bürgerlichen Ersatzmann stellen, "wert he over up enen man gesettet, so sende he also danen man ut, da de stad unde de an vorwaret sy, bi 3 mark sulvers". Außerdem waren sie verpflichtet, ihren Stellvertreter mit den zum Wachtdienst nötigen Waffenstücken auszurüsten; diese Forderung wird nach § 8 der Bursprake als selbstverständlich vorausgesetzt. Eine kurze, in der Gewettrechnung 1422/23 erhaltene Notiz beweist, daß der Bürger sogar für das Dienstvergehen seines Ersatzmannes haftbar gemacht wurde 171 ).


168) M.U.B. 6 Nr. 3743 (vgl. K.R. der folgenden Jahre).
169) M.U.B. 5 Nr. 3144.
170) M.U.B. 16 Nr. 10017. Gelegentlich haben wir in der Befreiung von bürgerlichen Dienstleistungen eine Art der Besoldung zu erblicken, da den Beamten auch gleichzeitig Befreiung vom Schoßzahlen gewährt wurde: das war beispielsweise bei den Ärzten der Fall, die im Mittelalter zu den festbesoldeten Stadtangestellten gehörten. (Vgl. M.U.B. 3 Nr. 1709.)
171) G.R. 1422/23: "Simon katzowe .. 4 mr. umme unhorsam ene wepeners."
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Vor allem waren es natürlich die wohlhabenden Einwohner, welche die ihnen gebotene Gelegenheit der Stellvertretung ausnutzten. Sogar lebenslängliche Befreiung vom Wachen und Schossen durch Zahlung einer einmaligen Ablösungssumme in Form einer Stadtrente war möglich. In den schweren Zeiten der beiden dänischen Kriege wurde die Stadtobrigkeit durch den Zwang der augenblicklichen Verhältnisse zu diesem Schritt veranlaßt 172 ).

Trotz der zahlreichen Befreiungsmöglichkeiten durch Stellung eines Ersatzmannes oder durch Zahlung einer Stadtrente blieb die Wehrpflicht als ein wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Wehrpflicht auch noch im 14. und 15. Jahrhundert grundsätzlich eine persönliche Dienstleistung der Rostocker Bürgerschaft. Wahrscheinlich war die Entsendung eines Stellvertreters den einzelnen Bürgern im allgemeinen nur in Friedenszeiten erlaubt. In gefahrvollen Augenblicken, vor allem in Kriegszeiten, waren die Bürger nach dem Wortlaut der ältesten Bursprake von 1400 verpflichtet, persönlich der Wachtpflicht nachzukommen, sobald es vom Rat gefordert wurde. "Weme de wachte kundiget wert, dat he sulven waken schal, de wake sulven."

Erst mit dem Jahre 1594 trat die Einrichtung der Bürgerwacht außer Kraft "propter novam ordinationem" 173 ).

Die Wehrpflicht der Bürgerschaft betraf nicht bloß den Wacht- und eigentlichen Sicherheitsdienst, sondern auch die Heeresfolge. Wahrscheinlich deckte sich mit dem Begriff des "Wachens" ursprünglich der der allgemeinen militärischen Dienstpflicht der Bürgermiliz. In den ältesten Urkunden des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts werden nämlich die Zugehörigkeit zur "civitas" und die damit verbundenen bürgerlichen Dienstleistungen allgemein durch die Pflichten des "Wachens und Schossens" gekennzeichnet. Dagegen wird die Verpflichtung zur Heeresfolge niemals als besonderer Bestandteil der allgemeinen Wehrpflicht erwähnt. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts erstreckte sich die vom Rate gewährte Befreiung vom Wachen häufig gleichzeitig ganz allgemein auf die bürgerlichen Dienstpflichten 174 ).


172) M.U.B. 14 Nr. 8547. - M.U.B. 15 Nr. 9321. - M.U.B. 19 Nr. 11049. - M.U.B. 20 Nr. 11422. - M.U.B. 21 Nr. 11773, 11803, 11945 usw.
173) Bursprake vom Jahre 1594 § 1. (B.G.R. a. a. O.)
174) Vgl. Anm. 172.
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Im Anfang des 15. Jahrhunderts wurde die Heeresfolge vom Ratskollegium in der Weise angeordnet, daß jedes einzelne Handwerkeramt eine bestimmte Anzahl von Gewappneten stellte. In welcher Weise innerhalb der Ämter das Aufgebot erfolgte - ob ihre Mitglieder abwechselnd dieser Pflicht genügten oder ob etwa immer die jüngsten Meister ausziehen mußten, wie es z. B. in Lübeck der Fall war - wissen wir nicht.

Die Höhe des Aufgebots, zu dem die einzelnen Handwerkerämter verpflichtet waren, richtete sich nach ihrer Mitgliederzahl und war im lib. arb. durch folgendes Ratsstatut festgesetzt: "dit nabeschreven iß geschreven uth der olden rullen, wu de ampte plegen uthtomaken: de schomakere 40, de smede 40, de beckere 30" usw. 175 ). Die Anzahl der von den Ämtern zu stellenden Kontingente belief sich in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf 622 Mann.

Strenge sah die Ratsobrigkeit darauf, daß die Bürger ihren militärischen Dienstpflichten nachkamen. Besondere Kriegsverordnungen, die wir vielfach in anderen deutschen Stadtkommunen finden 176 ), sind für Rostock nicht erhalten. Aus einigen Beispielen geht jedoch hervor, mit welcher unerbittlichen Härte die Ratsobrigkeit gegen schuldige Bürger, ja selbst gegen ihre eigenen Mitglieder vorging. Im Gegensatz zu den sonst üblichen Geldbußen verhängte der Rat nach dem geltenden Kriegsrecht die schwersten Strafen. Fahnenflucht oder andere Verstöße gegen die Dienstpflicht wurden mit der Verbannung oder gar mit dem Tode bestraft 177 ).

Für Verluste jeglicher Art, die einzelne Bürger und amtierende Ratsherren im Dienste der Stadt erlitten hatten, war die Stadt haftpflichtig; häufig werden in den Ratsrechnungen Ersatzleistungen für Waffen und Streitrosse erwähnt. Ebenso mußte das Ratskollegium Bürger, die in Gefangenschaft geraten waren, auf Stadtkosten loskaufen, wie bereits die ältesten Stadtbuchfragmente des 13. Jahrhunderts bezeugen 178 ).


175) K. Koppmann, Die Wehrkraft der Rostocker Ämter (H.G.B. 1886 S. 164).
176) M. Mendheim a. a. O. S. 17 f.
177) Vgl. Heeresverwaltung (Hist. Teil) S. 43.
178) St.Fr. II, 6 Fol. 4 b: "Civitas tenetur .. sexagenta mr. pro captivitate sua." - M.U.B. 3 Nr. 1705 (1283): "item pro expensis captivorum." - Vgl. Söldnerwesen S. 68.
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Zuweilen erhielten sogar verwundete Bürger eine Entschädigungssumme oder wurden mit der Befreiung weiterer Dienstleistungen belohnt 179 ).

2. Pflicht der Bürger, eigene Waffen und Streitrosse zu halten.

Zur allgemeinen Wehrpflicht gehörte auch die Dienstleistung des Waffenhaltens: Alle dienstfähigen Bürger wie überhaupt jeder Einwohner, der Grund und Boden in der Stadt besaß, mußte die zum Kriegsdienst nötigen Waffen auf eigene Kosten halten 180 ).

Neu eintretende Bürger mußten bei ihrer Aufnahme in die Rostocker civitas Bürgen stellen und eidlich versichern, ihren militärischen Verpflichtungen, zu denen auch die des Waffenhaltens gehörte, zu entsprechen 181 ). In den Ämterrollen des 14. Jahrhunderts finden wir dieselbe Forderung; zu ihrer Erfüllung mußte sich jeder Handwerksmeister durch Eid und Schwur dem Rate verpflichten 182 ). Im Anfang des 15. Jahrhunderts wurde diese Bestimmung dahin geändert, daß jeder Meister bei Aufnahme in ein Amt eine bestimmte, vom Rate genau vorgeschriebene Geldsumme, das sog. "Harnischgeld", an seine Älterleute zahlen sollte 183 ).

Die Waffen durften nicht veräußert werden und mußten stets zur Hand sein, "offt des not sy" 184 ). Wahrscheinlich wurden im ausgehenden 13. Jahrhundert vom Ratskollegium besondere Bestimmungen bei Erbschaften und bei Eheschließungen getroffen, um die Wehrfähigkeit seiner Bürgerschaft möglichst ungeschwächt zu halten 185 ).


179) M.U.B. 3 Nr. 1719. - M.U.B. 20 Nr. 11741 (Sch.R.): ".. nichil fecit propter dampna a domino Magnepolensi." - G.R. 1434-35: ".. 10 mr. an synen schaden." - Sch.R. 1441-42: ".. 21/2 mr. van schaden synen wunde." Ähnlich R.R. des 15. Jahrhunderts.
180) Rostocker Bursprake § 8 (B.G.R. a. a. O.).
181) Vgl. S. 50 Anm. 161.
182) M.U.B. 14 Nr. 8268, Nr. 8637.
183) Lib. arb. Fol. 16 b, 19 a, 24, 26, 31 b, 83 b usw.
184) Siehe oben Anm. 180.
185) In den ältesten Stadtbuchfragmenten finden wir gelegentlich Verfügungen, daß die Frau ihrem Manne eine vollständige Waffenrüstung "arma sana unius viri" mit in die Ehe bringen sollte, daß andererseits Waffen nur an männliche Familienmitglieder vererbt werden sollten. - Vgl. St.Fr. 1261-1270 Fol. 2 a, 5 b usw. - M.U.B. 2 Nr. 838, 974. - M.U.B. 3 Nr. 1900.
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Wer der Verpflichtung des Waffenhaltens nicht nachkam, wurde in Strafe genommen 186 ).

Nach der Größe des Vermögens richtete es sich, welche Art von Waffen die einzelnen Bürger halten mußten. Aus den Beiträgen, den sog. "Harnischgeldern", die für die einzelnen Handwerkerämter im 15. Jahrhundert verschieden hoch vom Rat veranschlagt waren, geht hervor, daß die Bewaffnungsart von dem Vermögen der Bürger abhängig gemacht wurde 187 ). Ganz armen Bürgern wurden die notwendigen Waffen wahrscheinlich auf Stadtkosten geliefert, wie wir aus den jährlich gebuchten Ausgaben für "glevien" und "armborsten" schließen können, von denen die Stadtobrigkeit eine größere Anzahl im Zeughaus vorrätig hielt.

Welcher Art ursprünglich die Bewaffnung der Bürgermiliz war, kann für das 13. Jahrhundert und die ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts nicht mit unbedingter Sicherheit festgestellt werden. Wir sind fast lediglich auf die zuweilen gebuchten Schadenersatzleistungen der Stadt, sowie auf die in den Stadtrechnungen vermerkten Ausgaben für Waffenmaterial angewiesen. Aus diesen Quellen geht soviel hervor, daß ein Teil der Bürgerschaft, vornehmlich der ärmere, nicht über ritterliche Ausrüstungsstücke, wie Panzer, Schwert, Lanze und das kostbare Streitroß, verfügte.

Häufig fanden im Laufe des 14. Jahrhunderts Bogen und Armbruste neben den "allgemein gebräuchlichen Waffen des Mittelalters, den Spießen, Morgensternen und Streitäxten" 188 ), bei der gemeinen Bürgerschaft Verwendung. Neben Reisigen mit ritterlicher Ausrüstung werden "sagettarii" oder "schutten" in allen Feld- und Heereszügen des 13. und 14. Jahrhunderts, soweit überhaupt bestimmte Truppengattungen und Waffenarten erwähnt werden, genannt 189 ).


186) In einem späteren Zusatz der Bursprake § 8 (1574 Novemb. 1) heißt es: "er schal deswegen in gehoricke straffe genommen werden." (B.G.R. IV, 2, S. 58).
187) Vgl. Anm. 183 u. 194.
188) Barthold, Geschichte der deutschen Städte IV, S. 258.
189) M.U.B. 13, Nr. 7717: "... mit veftich mannen wapent unde teyn schutten". Ähnlich Nr. 7821; M.U.B. 24, Nr. 13589: "... und mank yslikeme 100 gewapent schollen wesen 30 schutten ..." usw. - Die häufige Anfertigung der verschiedenen Armbrustarten durch die einheimischen "Balistarii et sagittarii" wie auch der hohe Verbrauch an Pfeilen weisen auf die große Beliebtheit und den häufigen Gebrauch dieser Waffengattung hin. Vgl. R.R. des 14. u. 15. Jahrhunderts.
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Auch noch im 15. Jahrhundert bildete die Armbrust als Schußwaffe einen wichtigen Bestandteil in der Ausrüstungsweise des städtischen Bürgeraufgebotes. Handbussen und Feuerrohre fanden während des ausgehenden 14. und im Beginn des 15. Jahrhunderts kaum oder doch nur in sehr geringem Maße Verwendung bei Rostocks Bürgermiliz. Die zu hoher technischer Vollendung gelangte Armbrust blieb einstweilen (bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts) unbestritten die Fern- und Schußwaffe des Einzelnen 190 ). Bezeichnend hierfür ist die auffällige Tatsache, daß während des ganzen 15. Jahrhunderts von den Rostocker Schützen- und Papegoyengesellschaften regelmäßig nicht mit Büchsen geschossen wurde 191 ).

Neben den Trutzwaffen verfügte bereits im 13. und 14. Jahrhundert ein Teil der Bürgerschaft über Harnisch und ritterliche Schutzwaffen 192 ). Auf dem Städtetag 1323 forderte die Stadtobrigkeit, "wer sein eigener Herr sei, de schal zyn vullen harnasch hebben" 193 ). Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurden vom Ratskollegium offensichtlich höhere Anforderungen hinsichtlich der Bewaffnungsart, vor allem der Schutzwaffen, an das Bürgeraufgebot gestellt. Denn in den Ämterrollen nach 1400 finden wir die Forderung ausgesprochen, der neu aufgenommene Handwerksmeister solle eine bestimmte Summe für den Harnisch, einen anderen Teil für die Trutzwaffen zahlen 194 ).

Von Zeit zu Zeit hielt die Stadtobrigkeit Waffen- und Heeresmusterung ab, bei denen sich Bürgermeister und Ratsherren persönlich von der Brauchbarkeit der bürgerlichen Kriegsausrüstungen überzeugten. Für die Waffengeübtheit der Bürgermiliz wurde in den bereits erwähnten Papegoyengesellschaften gesorgt, die unter ratsherrlichem Protektorat


190) Unter den zahlreich gebuchten Schadenersatzleistungen für eingebüßte Waffen werden Feuerbüchsen während der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts niemals erwähnt. (R.R.).
191) Erst in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts wurden die Feuerrohre von den Rostocker Schützengesellschaften eingeführt. (B.G.R. IV, 3, S. 60 f.).
192) In den Quellen dieser Zeit (St.Fr., R.R. u. a.) werden häufig diese Ausrüstungsarten bezeugt, wie z. B. "arma sana, toraces, pilei calibi (Eisenhauben), platenharnasch, clippei, tarczen, bynwapen usw.
193) H.R. I, Nr. 469, § 6.
194) lib. arbit., Fol. 24 (Amtsr. d. Kistenmach.): "van dessen achten marcken schollen kamen twe mrck. to eren boghenen unde vier mrck. to harnssche ...". Ähnlich vgl. S. 55 Anm. 183.
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standen. Das Bestehen von Fechterschulen, in denen die Bürger mit der Handhabung der Hieb- und Stoßwaffen ausgebildet wurden, ist für Rostock nicht bezeugt.

Wie aber stand es mit der besonderen Verpflichtung mancher Bürger, auf eigene Kosten ein Streitroß für den Stadtdienst zu halten? Auch hier läßt sich nur im allgemeinen sagen, daß der wohlhabende Bürger neben der geschilderten Pflicht gleichzeitig der Stadt zu Roß dienen mußte.

Bereits in den 70er Jahren verfügte der Rat über Reisige 195 ). Schon vor 1300 unterhielt die Stadtobrigkeit auf Stadtkosten Reitpferde, deren Zahl von Jahr zu Jahr anwuchs 196 ). Nach dem Wortlaut der verschiedenen Bündnisverträge dieser Zeit bestanden Rostocks Truppenkontingente zum großen Teil schon aus schwerbewaffneten, ritterlich ausgerüsteten Reitern 197 ). In der ältesten Bursprake verlangt der Rat, daß die wohlhabenden Bürger jederzeit Streitrosse für den Kriegsdienst bereithalten sollen. Den Einzelnen war es gestattet, ihre Reitpferde bei eigenem Platzmangel bei Mitbürgern unterzustellen, damit eine möglichst große Anzahl von Bürgern zu dieser außerordentlichen Verpflichtung herangezogen werden konnte.

Durch besondere Verträge verpflichtete die Stadtobrigkeit überdies noch einzelne Bürger und Ämter zur Stellung von Reisigen, um die Zahl des berittenen Aufgebots zu heben. Die Knochenhauer mußten für die Nutznießung städtischer Wiesen neben der festgesetzten Pachtsumme von 23 Mark 2 Reisige mit vollkommener Ausrüstung und den dazu gehörigen Streitrossen über die ihrem Amte vorgeschriebene Mannschaftszahl hinaus dem Rate stellen 198 ). In einem Dienstvertrag, den Rostocks Ratskollegium mit dem Sachwalt Hermann von Wampen im Jahre 1338 abschloß, verpflichtet sich dieser, der Stadt auf eigene Kosten 2 Pferde zu halten 199 ). Ferner lag es den Bürgermeistern ob, je einen reisigen Knecht zu unterhalten und mit


195) St.Fr. 1270-75, Fol. 9 b.
196) Vgl. Der städtische Marstall (Historischer Teil § 5).
197) Vgl. Anm. 189. - M.U.B. 3, Nr. 2248: ".. Rozstok cum LXX viris armis bene expeditis ...". M.U.B. 3, Nr. 2414 ähnlich. - M.U.B. 5 Nr. 3263: "nos vero cum 70 (dextrariis falleratis). (1308). - -
198) M.J.B. 21 S. 42.
199) M.U.B. 9, Nr. 5843.
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einem Streitroß auszustatten 200 ). Zur Verstärkung der bürgerlichen Reitermacht verfügte der Rat auch gelegentlich, daß einzelne Bürger bei Verfehlungen die an sich übliche Geldstrafe durch Stellung von Reitpferden abtrugen 201 ). Ebenso befreite die Stadtobrigkeit Bürger von der Zahlung außerordentlicher Kriegssteuern unter der Bedingung, daß diese dem Rate Streitrosse zu militärischen Zwecken unentgeltlich zur Verfügung stellten 202 ).

Verstärkt wurde das berittene Bürgeraufgebot durch die größtenteils zu Pferde dienenden Soldtruppen und Stadtdiener; für sie wurde im städtischen Marstall eine Anzahl von Pferden bereit gehalten 203 ).

"Daß neben den städtischen Bewohnern auch die Bevölkerung des platten Landes zu militärischen Diensten herangezogen wurde, ist für die ältere Zeit eine häufige Erscheinung" 204 ). Die Bauern der zahlreichen Stadtdörfer hatten beim Kriegsaufgebot hauptsächlich Reit- und Wagenpferde zu stellen. Wie weit sie gleichzeitig zu persönlichen Diensten herangezogen wurden, wurde wahrscheinlich vom Ratskollegium von Fall zu Fall entschieden. Wiederholt entnehmen wir dem Wortlaut der Ratsrechnungen des 15. Jahrhunderts, daß die Stadtobrigkeit die Bewohner der umliegenden Dorfschaften nach Rostock entbot, "do se alle in der stat vorbodet worden" 205 ). Ihre persönliche Anteilnahme, die sich in Friedenszeiten des öfteren auf die Dienstleistung von Fuhr- und Spanndiensten zum Befestigungsbau erstreckte, wird durch die häufigen Ausgaben für Proviant und Bier bezeugt 206 ). Die Höhe der Verpflichtung


200) M.J.B. 21, S. 30.
201) St.Fr. III, 6, Fol. 1a: "de excessibus. Joh. Vector in area Wessili pro 10 sol. cum equis suis ad usus servicia civitatis."
202) M.U.B. 21 Nr. 12142 (Kriegssteuerregister): ".. 5 mr. de marcali sunt sibi defalcate pro equo suo, et civitas tenetur ei 14 mr. de illo equo obligata" u. ähnlich.
203) Vgl. Söldnerwesen S. 71 ff.
204) v. Maurer a. a. O. S. 491/92. - Rütimeyer a. a. O. S. 124.
205) G.R. 1358 (M.U.B. 21 Nr. 11968: "item uni villano in Rovershagen 9 mr. pro uno equo deperdito in servicio civitatis." G.R. 1439/40: "Item den rovershegheren (willershegheren) vor 1 tunne, do se alle in de stat vorbodet worden." Ähnl. G.R. 1438/39, 1440/41 ff.
206) G.R. 1438/39: "item 3 mr. vor ber, brot unde heringk den rovershegheren unde purkeshegheren .. den dietershegheren, do se vorden tor munde." Ähnlich G.R. 1439/40, 1443/44 usw.
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richtete sich nach dem Umfange des gepachteten städtischen Grundbesitzes. Zuweilen mußten daher mehrere kleine Hofbesitzer gemeinsam zu dem schuldigen "perdedenst und wagehendenst" beisteuern 207 ).

Aus der Pflicht der gesamten wehrfähigen Bürgerschaft, Schutz- und Trutzwaffen zu halten, bildete sich bei den Bürgern die Gewohnheit heraus, stets einzelne Waffenstücke mit sich zu führen; in unsicheren Kriegsjahren wurde diese Forderung sogar vom Rat aufgestellt 208 ). Auch innerhalb der Stadtmauern war das Tragen von Waffen nicht verboten; niemals hören wir von einem Ratserlaß oder Statut, daß sich gegen dieses Gewohnheitsrecht in irgendeiner Form ausspricht. Der Rat trug keinerlei Bedenken, hiergegen einzuschreiten, solange nicht Mißbrauch mit Waffen getrieben wurde, was allerdings gelegentlich der Fall war 209 ). Der Anblick des bewaffneten Bürgers gehörte damals durchaus zum charakteristischen Bild des Rostocker Stadtlebens.

Nicht erlaubt war den Einwohnern das Waffentragen zu nächtlicher Stunde, wie es auch für andere deutsche Stadtkommunen bezeugt ist 210 ). Verstöße hiergegen wurden mit recht erheblichen Geldstrafen gesühnt, so z. B.: "5 mr., darume dat he ghink mit eme spere in der nacht" 211 ).

3. Die Verpflichtung der Bürgerschaft zum Mauer- und Befestigungsbau.

Mit der Verleihung des alleinigen Befestigungsrechtes an die Stadtobrigkeit, das seinen rechtlichen Niederschlag in dem Privileg des Jahres 1266 fand, war gleichzeitig die Pflicht des Mauerbaus verbunden. Rat und Bürgerschaft fiel nunmehr die Aufgabe zu, die zum Schutze der Stadt nötigen Wehr- und Verteidigungsanlagen selbst zu errichten und auf Stadtkosten auszubauen.


207) M.U.B. 7 Nr. 4608.
208) M.U.B. 13 Nr. 7637; H.R. I Nr. 469 § 6, Nr. 374. Vgl. Daenell a. a. O. Bd. 2 S. 349.
209) St.Fr. 1270/75 Fol. 5 b, - Lib. proscr. Fol. 49 b. - G.R. des 15. Jahrhunderts.
210) Rütimeyer a. a. O. S. 132.
211) St.Fr. I, 1 Fol. 8 b: ".. nocturno tempore deprehensus est cum armis ..., noctis similiter armata manu est deprehensus." ff.
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Von der Ratsobrigkeit wurde der Grundsatz aufgestellt: Jeder Bürger und Einwohner, der hinter Wall und Mauer städtische Freiheit und Sicherheit genieße, ist verpflichtet, zur Errichtung und Instandhaltung der städtischen Wehranlagen beizutragen. In einem Ratserlaß des Jahres 1315 wird diese besondere Bürgerlast mit den Worten "exstructio poncium, aggerum, fossatorum" zum Ausdruck gebracht 212 ). Ähnliche Forderungen spricht eine Ratswillkür aus, welche die militärischen Dienstleistungen der Warnemünder im einzelnen bestimmt: "Notandum, quod omnes et singuli burgenses in Warnemunde arbitrati sunt .., quod, quando et quocienscunque necesse fuerit et ipsi requisiti fuerint, gratis ad structuras et custodias propugnaculorum et aliorum edificiorum civitatis in Warnemunde .. et omnia alia servicia facere" 213 ).

Wie auch bei Wacht- und Dienstvergehen wurden säumige Bürger in der Regel vom Rat in Geldstrafe genommen 214 ). Weigerte sich jemand, der Bürgerpflicht des Befestigungsbaues nachzukommen, so hielt sich die Ratsobrigkeit an dem Eigentum des betreffenden schadlos und entzog ihm dieses 215 ).

Sehr früh schon gestattete die Stadtobrigkeit in Rücksicht auf die wirtschaftlichen Interessen der Bürgerschaft, persönliche Arbeitsleistungen "ad murum" durch Geldbeiträge abzulösen 216 ).

Die Beitragshöhe des einzelnen Bürgers richtete sich nach seinem Vermögen; im 13. Jahrhundert schwankte sie im allgemeinen zwischen 1-2 Mark. Neu eintretenden Bürgern wurde bei ihrer Aufnahme in die "civitas" eingeschärft, ihren schuldigen Verpflichtungen nachzukommen; dieselbe Forderung finden wir in den Ämterrollen, "Si vero voluerit aliquod officium intrare, dabit pecuniam ad murum" 217 ). Wer von


212) M.U.B. 6 Nr. 3743.
213) M.U.B. 14 Nr. 8696 (1359).
214) G.R. 1388 (M.U.B. 21 Nr. 11968).
215) St.Fr. 2 Fol. 22 a: "Illam aream ... resignavit coram consulibus, quia noluit pontem facere neque exactionem dare. Et consules vendiderunt eam."
216) St.Fr. III, 8 (1278-94) Fol. 1 b: "Hermannus Bucowe carnifex 2 mr. ad murum persolvet ...: "Eckehardus Longus 1 mr." ff. Fol. 2 a, 2 b ähnliche Beispiele. - Desgl. St.Fr. III, 4 Fol. 1 a ff. und St.Fr. III, 9 Fol. 4 a ff. usw.
217) M.U.B. 24 Nr. 13734. - Lib. arb. Fol. 17 b (1408). Amtsrolle der Heringswascher, ".. unde scal to geven 1 mr. an de muren unde ..".
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dieser Dienstleistung entbunden sein wollte, mußte Ersatzleute und Bürgen stellen 218 ).

Der Rat entschied gelegentlich, daß eine Geldstrafe, zu der einzelne Bürger verurteilt waren, zum Besten der Mauer zu entrichten sei 219 ). Andererseits gewährte die Stadtobrigkeit den Bürgern, die sich längs der Stadtmauer ansiedelten und so in Form von Mauerhäusern zur Verstärkung und Erhöhung des Schutzwalles beitrugen, ausdrücklich die Nutznießung jenes Mauerteiles; im Falle des Hausabbruchs oder bei Ortswechsel versprach der Rat Schadloshaltung für die entstandenen Unkosten, um eine möglichst große Anzahl von Einwohnern für diese Zwecke zu gewinnen 220 ).

Grundsätzlich scheint das ratsherrliche Stadtregiment auch im Laufe des 14. Jahrhunderts noch nicht auf die persönliche Mitarbeit der Bürgerschaft verzichtet zu haben. Noch um 1400 erfahren wir aus dem Liber arbitriorum, daß die Einwohner "straßenweise" für die Instandhaltung bestimmter Stadtanlagen verpflichtet waren 221 ). Selbst noch im Bürgerbrief von 1428 (16. Januar) stellt die Rostocker Bürgerschaft die ausdrückliche Forderung auf, "item so wille wy der Stadt egendom, muren und doren beteren und buwen van der Stadt gude unde nicht van der borger gude .. 222 ). In den Ämterrollen nach 1428 fehlt die Forderung des Ratskollegiums "dabit pecuniam ad murum" 223 ).


218) St.Fr. III, 2 Fol. 3 a: "Anno gracie 1279 Herbordus carnifex promisit pro Brunnone 1 mr. ad murum", ff. - St.Fr. III, 4 Fol. 1 a ähnliche Beispiele.
219) St.Fr. II, 9 (1319) Fol. 1 a: "Hermannus Magnus dabit de valva Cropelyn II1/2 mr.". Ähnlich Fol. 4 a. Desgl. St.Fr. A 2 Fol. 2 a (1278).
220) M.U.B. 6 Nr. 3886, Nr. 4234.
221) Lib. arb. Fol. 10 b.
222) R. Lange a. a. O. S. 28.
223) Vgl. Anm. 183. Die Ratsrechnungen der folgenden Jahrzehnte bezeugen, daß die Ausgaben für städtische Festungsanlagen aus den Amtskassen der Kämmerei- und Gewettherren bestritten wurden. Die in den jährlichen Ratsrechnungen des 15. Jahrhunderts ständig wiederkehrenden Namen einzelner Bürger, denen vom Rat die verschiedenen Bauarbeiten übertragen wurden, waren durchweg gelernte Handwerksmeister, Maurer und Zimmermannsleute, die zum größten Teil in einem fest geregelten Dienstverhältnis zur Stadt standen und für ihre Arbeitsleistung entsprechende Geldentschädigung und Löhnung empfingen. (Vgl. S. 94.) Selbst die Bewohner von Warnemünde, die noch 1359 nach dem Wortlaut der (  ...  )
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§ 2.

Das Söldnerwesen.

Die Rostocker Soldtruppen bestanden

  1. aus "geworbenen" Söldnern,
  2. aus den "stehenden" Söldnern.

Eine besondere Abart der stehenden Soldtruppen bildeten die sogenannten "Aussöldner" oder "gebundenen" Soldritter.

Die "stehenden" Söldner wurden auf längere Zeit, häufig sogar zeitlebens der Stadtobrigkeit durch Eid verpflichtet, während die "geworbenen" Soldtruppen nur im Falle einer Kriegsgefahr und nur für die Dauer einer Fehde oder eines größeren Unternehmens geworben wurden. War der Krieg beendet, so entließ man sie wieder aus dem städtischen Dienst.

1. Die "geworbenen" Söldner.

In Rostock werden zum ersten Male für das Jahr 1300 geworbene Söldner bezeugt 224 ). Anfangs waren es Angehörige des Ritterstandes, die als Söldner in städtische Dienste traten. Etwa seit der Mitte des 14. Jahrhunderts aber, während der beiden dänischen Kriege, nahm man auch Rostocker Bürgersöhne in Solddienste, und zwar entweder einzeln oder in kleineren Scharen unter einem Führer, der im Namen seiner Kriegsgenossen mit dem Rate die Dienstverträge abschloß 225 ). Die Bedingungen, unter denen die bürgerlichen Söldner in Rostocks Dienste traten, die Höhe des Soldes, den sie empfingen, die Art der Bewaffnung, die von ihnen verlangt wurde, waren die gleichen wie bei den fremden Soldrittern.

Im Laufe des 15. Jahrhunderts verdrängten die bürgerlichen Soldtruppen immer mehr die fremden ritterlichen


(  ...  ) Ratswillkür "gratis ad structuras propugnaculorum" verpflichtet wurden, empfingen im Anfang des 15. Jahrhunderts, wie auch die Bauern der Stadtdörfer, für Dienstleistungen beim Befestigungsbau Sold und Zehrgeld. (G.R. 1437-38: "Item 3 mr. vor 2 tunne bers den Warnemunderen unde dregheren, do se de graven zuverden." Ähnlich G.R. und K.R. des 15. Jahrhunderts.)
224) E. Dragendorff, Urkunden zur Geschichte Rostocks von 1300 bis 1321 (B.G.R. III, 1 S. 47 ff.); vgl. M.U.B. 5 Nr. 3577 (1312), Nr. 3560 (1312), Nr. 3559 (1312), M.U.B. 6 Nr. 3719 (1314).
225) M.U.B. 15 Nr. 9160; M.U.B. 16 Nr. 9985 (vgl. H.R. I Nr. 267). Vgl. Anm. 224.
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Söldner. Wenn nämlich in den Ratsrechnungen des beginnenden 15. Jahrhunderts gelegentlich die Söldner näher gekennzeichnet werden, so handelt es sich in der Regel um bürgerliche Soldtruppen. Andererseits beweist die ausdrückliche Bezeichnung "uthe den borgheren", daß außer ihnen gleichzeitig noch "andere" Söldner im Rostocker Stadtdienst standen 226 ). Da Näheres über diese nicht bekannt ist 227 ), ist es wahrscheinlich, daß sich Rostocks geworbene Soldtruppen auch weiterhin neben einheimischen Bürgersöhnen aus fremden Soldrittern zusammensetzten.

Die Tatsache, daß fremde Söldnerscharen im Laufe des 15. Jahrhunderts durch Bürgersöldner mehr und mehr verdrängt wurden, dürfte vor allem darin begründet sein, daß die Zuverlässigkeit und Treue der fremden Soldtruppen weit hinter der der eingesessenen Bürger zurückblieb. (Vgl. S. 69.)

Die in großer Zahl erhaltenen Bestallungsbriefe und Soldquittungen des 14. Jahrhunderts beweisen, daß die geworbenen Soldtruppen in der Regel auf die Dauer eines halben Jahres in städtische Dienste traten. Dauerte das Kriegsunternehmen kein halbes Jahr, so empfingen die Söldner trotzdem die vereinbarte Soldhöhe. Der Kündigungstermin wurde halbjährlich festgelegt, "infra dimidium annum a nostro non declinabunt servicio" 228 ); tatsächlich waren die Söldner jedoch für die Dauer des jeweiligen Krieges geworben und blieben bis zum endgültigen Friedensschluß in Rostocker Diensten. Die Richtigkeit dieser Behauptung bezeugen uns die Quittungen, die von einunddemselben Söldner halbjährlich ausgestellt wurden, ohne daß von einer Erneuerung des Dienstvertrages die Rede ist, ferner der ausdrückliche Hinweis in verschiedenen Söldnerurkunden, alle Forderungen aus früheren Kriegen seien befriedigt, bei längerem Dienste solle der festgesetzte halbjährliche Sold bleiben 229 ).


226) G.R. 1439-40: ".. vor 14 soldenere uthe den borgheren .. vor 44 maltyt, do de anderen 16 soldeneren eten ..". Ähnlich G.R. des 15. Jahrhunderts.
227) Bestallungsurkunden und Söldnerquittungen sind aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nicht erhalten. (Rostocker Ratsarch. unter "Söldner".).
228) E. Dragendorff a. a. O. S. 47 (Urkunde v. 5. März 1300).
229) H.R. I Nr. 452; 3, 4. Johann Hannentzaghel tritt Dezember 1368 in städtische Söldnerdienste, am 10. Dezember 1369 quittiert er dem Rat für seinen Sold vom Mai bis Dezember 1369. Ähnlich daselbst 2, 13; 8, 19 usw.
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Die Höhe des Soldes, den die geworbenen Söldner erhielten, war im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts großen Schwankungen unterworfen. Der Grund hierfür dürfte zum Teil in dem Schwanken des Münzwertes zu suchen sein; weiter wirkten auch wohl die Zeitverhältnisse, Angebot und Nachfrage 230 ) ein.

Die Soldhöhe ist innerhalb bestimmter Zeitabschnitte und Kriege ziemlich fest und einheitlich gewesen. So erhielten z. B. die Ritter und Knappen, die in den Jahren 1300-1311 Rostock Söldnerdienste leisteten, unterschiedslos "decem marcas argenti ad annum dimidium pro stypendio" 231 ). In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts während der beiden dänischen Kriege gegen Waldemar empfingen Soldritter innerhalb derselben Dienstzeit nur 3 bis 4 "marcas puri argenti" 232 ). In den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts belief sich die Soldhöhe auf etwa 8 bis 10 Mk., wahrscheinlich Rostocker Markpfennige 233 ).

Da im 14. und im Anfang des 15. Jahrhunderts die ritterliche Ausrüstungsweise und Kriegführung noch durchaus vorherrschte, ist es erklärlich, daß Rostocks Ratskollegium gleich anderen Stadtkommunen besonderen Wert darauf legte, Ritter und Ritterdienste verrichtende Mannen als Söldner für


230) Die verhältnismäßig hohe Besoldung von 10 Mk. puri argenti im Gegensatz zu 3 bis 4 Mk. puri argenti in den 60er und 70er Jahren des 14. Jahrhunderts wurde wahrscheinlich dadurch bedingt, daß sich Rostocks Ratskollegium 1300-02 gezwungen sah, Ritter und Knappen in Pommern (vgl. B.G.R. III, 1 S. 47 Anm. 2 u. 3) für städtische Söldnerdienste zu gewinnen. Die Mitglieder des mecklenburgischen Ritterstandes waren damals von ihren Landesherren aufgeboten, die mit König Erich Menved von Dänemark gegen Rostock verbündet waren. - Ähnlich lagen die Verhältnisse im Kriege 1311-12. (M.U.B. 5 Nr. 3577.)
231) E. Dragendorff a. a. O. S. 47 (Urkunde vom 5. März 1300), S. 52 (Urkunde vom 26. September 1311).
232) H.R. I Nr. 452, 1; 8 Ritter (bzw. Knappen) erhalten 30 Mark fein (à 3 mr. lübisch); Nr. 452, 2; 6 Ritter erhalten 18 mr. fein; Nr. 452, 3; 2 Ritter erhalten je 4 marcas puri .. ceteri autem cuilibet tres marcas puri. Ähnlich Nr. 452, 4, 5, 8, 19; M.U.B. 15 Nr. 9150 usw.
233) G.R. 1411-12: "Item Reymaro Vos capitaneo soldenatorum 5 mr. .." Die 12 folgenden Söldner empfingen je 4 Mark vierteljährlich. - G.R. 1422-23: "Item 10 soldeneren eneme jewelke 12 sol. to 14 dagen, dar de summe van is 71/2 mr." (= halbjährlich erhielt jeder 9 Mk.). Ähnlich G.R. des 15. Jahrhunderts.
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sich zu verpflichten 234 ). Wiederholt wird in den verschiedenen Bestallungsurkunden und Söldnerquittungen der Unterschied zwischen den "armigeri falleratos dextrarios habentes" und den "sagittarii" betont. In den beiden ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts wird ausdrücklich die Soldhöhe von 10 Mark Silber nur denjenigen in Aussicht gestellt, die im Besitze eines wohlgepanzerten Schlachtrosses waren und über ritterliche Waffenstücke verfügten; die Bogenschützen dagegen erhielten für die gleiche Dienstzeit halbjährlich nur "sex mr. arg." 235 ). Selbst in der Festlegung des Verpflegungsgeldes wurde vom Ratskollegium ein Unterschied zwischen beiden Truppengattungen gemacht. Während das Beköstigungsgeld den "ritterlich" ausgerüsteten Söldnern in Höhe von drei Mark (wöchentlich) bewilligt wurde, empfing der "sagittarius" innerhalb derselben Zeit nur 2 Markpfennige 236 ). Aus dem Wortlaut einiger Söldnerbriefe geht hervor, daß häufig auch Bogenschützen beritten waren und mit ihrer Hauptwaffe, der Armbrust oder dem Bogen, die leicht bewaffneten Reisigen bildeten 237 ). Ihre Streitrosse waren im Gegensatz zu den Ritterpferden nicht gepanzert. Auch die Bestimmungen über die Schadenersatzleistungen, die uns im anderen Zusammenhang noch näher beschäftigen werden (vgl. S. 67 ff.), scheiden zwischen diesen beiden Gattungen.

Die Vereinbarungen, die zwischen dem Ratskollegium als dem Soldherrn und den Angeworbenen über den Zahlungstermin des Soldes getroffen wurden, lassen die Absicht der Stadtobrigkeit erkennen, eine verfrühte Lösung des Dienstvertrages oder gar einen Vertragsbruch zu verhindern. Die Söldner erhalten erst nach Ablauf der halben Dienstzeit, d. h. nach 13 Wochen, die erste Hälfte des Soldes; dagegen verspricht ihnen das Ratskollegium den gesamten Sold für weitere drei Monate, sobald sie bei längerer Kriegsdauer nur volle 14 Tage des nächsten Vierteljahres in städtischen Diensten gestanden haben 238 ). Wird ein ritterlicher Söldner des Landadels zu


234) In den 60er Jahren des 14. Jahrhunderts kamen auf je 100 rittermäßig Bewaffnete 20 "schutten" (M.U.B. 16 Nr. 9706 usw.). (Ähnlich M.U.B. 13 Nr. 7717, 6358).
235) E. Dragendorff a. a. O. S. 47 und 52.
236) E. Dragendorff a. a. O., Urkunde vom 26. September 1311.
237) M.U.B. 14 Nr. 8453, Nr. 8509; M.U.B. 16 Nr. 9117 (vgl. M.U.B. 17, Sachregister unter "Schützen").
238) E. Dragendorff a. a. O. S. 47 (Urkunde vom Jahre 1300).
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einem frühzeitigeren "gesetzmäßigen Vertragsbruch", zu der "necesssitas legitima" gezwungen, d. h. wird er von seinem eigenen Landesherrn zu der schuldigen Heeresfolge aufgeboten, so soll der betreffende Soldritter trotzdem den Sold empfangen; andererseits ist er jedoch eidlich verpflichtet, innerhalb dieser Zeit nicht im Solde "pro sallari" fremder Fürsten gegen Rostock die Waffen zu ergreifen 239 ).

Neben der Regelung und Auszahlung des Soldes und Verpflegungsgeldes wurden in den Bestallungsurkunden genaue Vereinbarungen über Beute und eingebrachte Gefangene getroffen. Die Ratsobrigkeit verlangte von ihren Söldnern, daß sie auf jedes Verfügungsrecht über feindliche "Ritter, Knappen und bürgerliche Kaufherren", die sie gefangen genommen hatten, verzichten und diese den städtischen Kriegshauptleuten übergeben sollten 240 ). So wurden z. B. dem Knappen Hennekin Kynd nachträglich 6 Mark Silber vom Solde abgezogen, die er sich für die Freilassung eines Gefangenen hatte zahlen lassen 241 ).

Weiter wurden die Pflichten der Stadtobrigkeit und die Ansprüche der Söldner in den Bestallungsbriefen genau festgelegt, wenn die Söldner im Kampfe Ausrüstungsgegenstände verloren oder ihre persönliche Freiheit durch Gefangennahme einbüßten. Das Ratskollegium unterschied in solchen Fällen streng, ob der betreffende Söldner im Auftrage und mit Wissen der städtischen Hauptleute, "scitu vel iussu capitanie", also im Dienste der Stadt gehandelt oder ob er auf eigene Gefahr und Verantwortung hin Beute- und Streifzüge unternommen hatte, "pro libitu suo extravagando". Geriet ein Söldner


239) E. Dragendorff a. a. O. S. 47 f.: "Preterea infra dimidium annum a nostro non declinabunt servicio; sed si tamen neccessitas legitima quemquam traheret, ille sallarium tune deservitum reciperet; nec tamen alias infra dictum tempus contra nos pro sallario serviet." - Daß die Stadtobrigkeit tatsächlich allen Grund zur Befürchtung eines Vertragsbruches oder gar Überlaufes ihrer Söldner hatte, beweist eine Urkunde aus dem Jahre 1312, nach der städtische Söldner bei einer Niederlage Treubruch begingen. (M.U.B. 5 Nr. 3577.)
240) E. Dragendorff a. a. O. S. 52 f. (Urkunde vom 26. September 1311): "Item si aliquem ceperint militem, armigerum aut mercatorem, hunc nostris presentabunt usibus, villanos vero, quos ceperint, propriis usibus adaptabunt." - Ähnlich Urkunde vom 5. März 1300.
241) H.R. I Nr. 452 § 22.
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durch eigene Schuld in Gefangenschaft oder büßte er Waffen und andere Ausrüstungsgegenstände ein, so lehnte das Ratskollegium jede Verantwortung ab; es war dann nicht verpflichtet, den Söldner loszukaufen oder Schadenersatz zu leisten 242 ). Handelte es sich um wertvolle Objekte, die im Kampfe verloren gegangen waren, wie vor allem um die oft kostbaren Schlachtrosse der Ritter und Knappen, so sicherte sich der Rat in weitgehendstem Maße und verlangte bei der Klärung der Schuldfrage die eidliche Bestätigung des Besitzers und des zuständigen Führers, ob der betreffende Söldner im Auftrage des städtischen Hauptmannes gehandelt habe und somit die Ratsobrigkeit für den Verlust haftbar sei, oder ob der Söldner selbst für diesen aufzukommen habe. Bei Verlust eines leicht oder gar nicht gepanzerten Rosses, das gewöhnlich den Bogenschützen als Reitpferd diente, genügte die alleinige Beteuerung des geschädigten Eigentümers; in der ältesten uns erhaltenen Bestallungsurkunde vom Jahre 1300 (5. März) verlangte Rostocks Ratskollegium nur die Bestätigung des "capitaneus" bei Anspruch auf Schadenersatzleistung von Seiten des Soldherrn 243 ).

Die Vorsicht, mit welcher sich der Rat gegen zu hohe Ansprüche der Söldner zu sichern suchte, war gerechtfertigt, da alle diese unregelmäßigen Ausgaben und Schadenersatzleistungen häufig die Höhe des eigentlichen Soldes sehr erheblich übertrafen. Nach der Niederlage bei der Sperrburg Helsingborg mußte die Stadt Rostock allein für den Loskauf ihrer in dänische Gefangenschaft geratenen Truppen fast 8000 lübische Mark - etwa 100000 Mark heutiger Währung - an Waldemar oder dessen Treuhänder zahlen 244 ).

Die Höhe des Lösegeldes, das Rostock für den einzelnen Gefangenen, Soldritter und Bürger bezahlte, belief sich zuweilen auf 100, 86 2/3, 51 1/3, 51 Mark lübisch 245 ). Weit höhere Loskaufsummen wurden von Waldemar für gefangene Führer und städtische Kriegshauptleute gefordert. Rostocks Ratskollegium mußte für seine beiden Ratsherren Friedrich Suderland


242) E. Dragendorff a. a. O. S. 47 ff. (Urkunde vom 5. März 1300 und vom 26. September 1311).
243) E. Dragendorff a. a. O. S. 47 und 52 ff.
244) A. Hofmeister a. a. O. (B.G.R. I, 4). Vgl. D. Schäfer a. a. O. S. 354 ff.
245) H.R. III Nr. 282, 283, 290.
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und Johann Kale 1000 Mark argenti puri (= 3750 Mark lübisch) und 600 Mark "pro captivitate domini Bertoldi Stoltenberg" als Lösegeld zahlen 246 ).

Die Stadtobrigkeit hat nicht immer die beste Erfahrung mit ihren geworbenen Soldmannen gemacht, deren Unzuverlässigkeit besonders nach Abschluß der Kriegsaktion häufig zutage trat und deutlich die Nachteile fremder Soldmannen gegenüber dem bürgerlichen Aufgebot erkennen ließ. Sobald die raub- und fehdelustigen Elemente aus dem städtischen Dienst entlassen waren und keine neue Erwerbsquelle durch Söldnerdienste fanden, setzten sie häufig den Klein- und Kaperkrieg fort und überfielen als plündernde Streifzügler oder Seeräuber Handelszüge und Kauffahrteischiffe.

Wenn die militärische Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft der Stadt erschüttert war, wie z. B. in den Jahren 1362-64, so daß die Ratsobrigkeit die nötigen Mittel für eine wohlgeordnete und ausgerüstete Söldnerschar nicht mehr aufbringen konnte, wurden häufig den entlassenen Söldnern städtische Kaperbriefe 247 ) ausgestellt, die gleichsam eine Art von Söldnerbriefen bildeten. In ihnen verpflichteten sich die Kaper und Auslieger, im Interesse der Stadt den Kleinkrieg gegen den Gegner fortzusetzen und vor allem seine Schiffahrt durch Raub und Plünderei zu schädigen. Die Stadtobrigkeit gewährte ihnen dafür weitgehendste Unterstützung. Der Hafen der Stadt wurde ihnen für ihre Beutezüge als sichere Zufluchtstätte und Operationsbasis geöffnet. Gleichzeitig empfahl der Rat in den ausgestellten Kaperbriefen seine Auslieger der Unterstützung befreundeter Städte und Fürsten. Regelrechten Sold erhielten die Kaper im Gegensatz zu den Söldnern nicht. Statt dessen überließ ihnen der Rat die von ihnen gemachte Beute ganz oder zur Hälfte. Es ist verständlich, daß die verantwortlichen Ratskollegien bei der Ausstellung dieser Kaperbriefe noch in weit höherem Maße als in den Bestallungsbriefen Vorsicht anwandten. Nicht eher bekam ein Auslieger den Urkundenbrief ausgehändigt, als bis er durch Pfand und Bürgen der Stadt Sicherheit gegeben hatte.


246) H.R. I Nr. 299, 5.
247) H.R. I Nr. 267 § 2 (1362); Nr. 310 § 6 (vgl. 300 § 7, 8; 307 § 7. - E. Daenell a. a. O. Bd. I S. 208, Bd. 2 S. 369 ff.). - "1416 griff auch Holstein nach dem von Mecklenburg gegebenen Beispiel zu dem verzweifelten Mittel privilegierter Kaperei."
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2. Die stehenden Söldner.

Die stehenden Söldner versahen in erster Linie den Wacht- und eigentlichen Sicherheitsdienst und standen zum Teil zeitlebens in Rostocker Stadtdiensten.

Das lückenhafte Urkundenmaterial gestattet leider keinen sicheren Rückschluß auf das erste Vorkommen der festbesoldeten Stadtsöldner und Ratsdiener. Doch sind schon in den ältesten Stadtbuchfragmenten, in denen gelegentlich von den amtierenden Ratsherren Ausgaben gebucht wurden, wiederholt "nuncii, servi, familiares civitatis" bezeugt 248 ). Erst seit dem Jahre 1348 gewähren uns die Kämmereirechnungen ein klares Bild. Wächter und Torhüter, welche die Stadtobrigkeit für den eigentlichen Sicherheitsdienst neben den zum Wachen aufgebotenen Bürgern besoldete, hielten Tag und Nacht Ausschau, um bei Annäherung von Feinden die Bürgerschaft rechtzeitig durch Hornsignale und Sturmläuten zu warnen und zu den Waffen zu rufen. Im Jahre 1348 hören wir zum ersten Male, daß ein "vigil in valva Cropelyn" als ständiger Wachtposten lag. In den späteren Jahren erhöhte sich die Zahl der Tor- und Turmwächter auf vier. Von diesen versah ein zweiter den Sicherheitsdienst auf dem Steintor, während die beiden übrigen von ihren hohen Warten, dem Marien- und Jakobikirchturm aus, die Zufahrtstraßen und die städtische Feldmark beobachteten 249 ). Zur geregelten Durchführung der Bürgerwacht wurde um die Mitte des 14. Jahrhunderts ein städtischer Wachtschreiber angestellt. Wie es in dem von ihm zu leistenden Amtseid heißt, war er verpflichtet, getreu die Wachtregister zu führen und die Wacht zu besetzen. Kraft seiner verantwortungsvollen Stellung gewann der Wachtschreiber, "notarius vigilum" , wie er in den Ratsrechnungen des 14. Jahrhunderts genannt wird, mit den Jahren mehr und mehr an Bedeutung und Einfluß, so daß um 1380 bereits ein zweiter Wachtschreiber nötig wurde. In der im "liber arbitriorum" erhaltenen Eidesformel wird der notarius


248) M.U.B. 3 Nr. 1705; B.G.R. II, 2 S. 21 (St.Fr. 1358/62); St.Fr. 2 Fol. 19 b; M.U.B. 2 Nr. 1374 (1275) usw.
249) K.R. 1348-49 (M.U.B. 10 Nr. 6826); ähnlich M.U.B. 13 Nr. 7898; M.U.B. 19 Nr. 11247; Sch.R. 1433-34: "Item krossen up deme stendore." Ähnlich Sch.R. der folgenden Jahrzehnte.
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vigilum" bereits als Führer, "prefectus vigilum" 250 ), gekennzeichnet und entsprach wohl dem in Wismar bezeugten Hauptmann der Torhüter und Wächter 251 ).

Außer diesen Stadtdienern gab es noch Ratsdiener der verschiedenen Ratsherrenämter, wie Marstalldiener, "camerarii, familiares", Geheimwächter, Heidewächter usw. 252 ).

Ihre militärische Bedeutung lag vor allem darin, daß sie jeden Augenblick kampfbereit waren, die städtische Feldmark gegen Wegelagerer und Raubritter zu schützen 253 ). In Friedenszeiten waren die Stadtdiener und stehenden Söldner häufig militärische Geleitmannen der Ratsherren und Bürger 254 ), wurden zu den mannigfachen Boten- und Meldediensten verwandt und unterstützten die Bürgerschaft in der Ausübung des Wachtdienstes. In Kriegszeiten fochten sie mit in den Reihen des Bürgeraufgebotes, wie es wiederholt in den Urkunden bezeugt wird 255 ).

Während die Militärbeamten in den Urkunden des 13. Jahrhunderts in nur geringer Zahl erwähnt und unter ihnen nur vereinzelt Bürger benannt werden, die wahrscheinlich nur im Nebenberuf, z. B. als "clausores", Türschließer, tätig waren und geringen Sold empfingen 256 ), wird in den späteren Ratsrechnungen eine stattliche, von Jahr zu Jahr zunehmende Anzahl von Stadtsöldnern und militärischen Berufsbeamten mit den verschiedensten militärischen Funktionen bezeugt: "de wachteren, slubwachteren, dregeren, de stat lopere, de stat denre, de stat ridende denre unde anderen etliken denren, tymerluden, spelluden und stat schipperen etc." 257 ).


250) M.U.B. 13 Nr. 7422; M.U.B. 16 Nr. 9523; M.U.B. 19 Nr. 11247 usw.; lib. recognit. Fol. 72 b; lib. arb. Fol. 94 "iuramentum prefecti vigilum".
251) Techen a. a. O. S. 85.
252) M.U.B. 14 Nr. 8801; M.U.B. 16 Nr. 9961 usw.
253) G.R. 1445-46: "Item curd sepeline 5 mr. ..., do he den röveren na ret."
254) K.R. 1433-34; W.R. 1445-46 usw.
255) So hören wir z. B., daß Stadtdiener 1348-49 Waffenröcke empfingen, als Rostocks Ratskollegium gegen die Raubritterburgen Grabow und Dömitz Truppenkontingente entsandte (H.R. I Nr. 184 bis 185; M.U.B. 10 Nr. 6826; M.U.B. 14 Nr. 8309), daß im zweiten dänischen Kriege (1368) feindliche Ritter und Knappen von Rostocker "familiares" und Ratsdienern gefangen genommen wurden (H.R. I Nr. 452, 6, 7; H.R. III Nr. 290).
256) M.U.B. 2 Nr. 1374 (1275); M.U.B. 4 Nr. 2674 (1260).
257) Alle diese werden in den Quittungen des meist halbjährlichen Soldes sowie in den häufigen Rechnungen des Kleidungs- (  ...  )
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Bei besonderen Anlässen, wie z. B. zu Weihnachten, bei Ratsneuwahl usw. wurden ihnen auf Veranlassung der Bürgermeister neben der regelmäßigen Besoldung häufig Vergütungen in Form des "offergeldes", Spenden von Bier und anderen Getränken gewährt 258 ).

Neben den eigentlichen Kriegsmannen und militärischen Berufsbeamten gehörten auch städtische Spielleute zu den ständigen Soldtruppen. Alljährlich werden in den Stadtrechnungen Soldzahlungen für eine Anzahl von "speleluden, piperen unde basumen" aufgeführt.

Um die Mitte des 14. Jahrhunderts waren die Stadtpfeifer, die "fistulatores", gleichzeitig Turmwächter auf der Marien- und Jakobikirche. Der Turmwächter der Jakobikirche war gleichzeitig mit dem Läuten der Wächter- und Sturmglocke beauftragt und erhielt, außer seinem jährlichen Lohn von 4 mr. weniger 4 sol., für das Stoßen der "campana vigilum" noch 8 sol. 259 ). Daß die Spielleute auch sonst eine Rolle im städtischen Heer spielten und die ausziehenden Aufgebote begleiteten, wird des öfteren in den Ratsrechnungen bezeugt 260 ).

Die erhöhten Anforderungen, die der Sicherheitsdienst der weit ausgebauten Festungsanlagen, ferner die Organisation der städtischen Wehrmacht stellten, zwangen das Ratskollegium im Anfange des 15. Jahrhunderts immer mehr das Söldnerwesen zu begünstigen, zumal die persönlichen Kriegsleistungen der Bürgermiliz längst nicht mehr ausreichten. Auf den städtischen Außenforts führten Burgvögte oder Burgwahrer das Kommando über die Besatzungstruppe 261 ). Bezeugt werden in den Ratsrechnungen des beginnenden 15. Jahrhunderts der "borgwarer to zulten, to tessin, to goldenitze" und der "nigen borch" (in Warnemünde) 261).


(  ...  ) geldes nicht mehr einzeln mit Namen angeführt. sondern wegen ihrer großen Anzahl nur noch summarisch in geschlossenen Gruppen. Vgl. R.R. des 15. Jahrh. - Im 15. Jahrhundert erlaubte der Rat den "rydeknechten" wegen ihrer stattlichen Zahl ein besonderes Amt zu bilden (Niedersachsen, 23. Jahrg. 17/18, S. 289).
258) Vgl. R.R. des 15. Jahrhunderts.
259) R. Ahrens, Die Wohlfahrtspolitik des Rostocker Rats bis zum Ende des 15. Jahrhunderts (B.G.R. Bd. 15 S. 29).
260) G.R. 1422-23; K.R. 1430-31; K.R. 1435-36. R.R. des 15. Jahrhunderts.
261) W.R. 1424-25; Sch.R. 1424-25; Sch.R. 1430: "deme borghwarer van der sulten, deme voghede to tessin, deme borchwarer to goldenitze, deme borchwarden der nigen borch"; ähnlich R.R. des 15. Jahrhunderts.
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Zuweilen wurden auch Angehörige des Ritterstandes mit diesen wichtigen Stellungen betraut. So enthält z. B. eine Urkunde aus dem Jahre 1435 die Bemerkung, "her Johann van der Aa unde her lowetzowen V mr. to tessin, do Jasper bulowe der voghet wart" 262 ). In der Schoßrechnung vom Jahre 1448 heißt es, "item her tymen .., do he mathias von orsen to enem vogede sette" 263 ). Die Bedeutung, die den städtischen Burgvögten von der Ratsobrigkeit beigemessen wurde, geht aus der Tatsache hervor, daß jahrelang sogar ein Mitglied der Rostocker Ratsaristokratie besoldeter Burgvogt in Warnemünde war 264 ).

Rittermäßig ausgerüstete Ausreitevögte, "de stat voget oder de stadt ridende voghete", wie sie in den Quellen des 15. Jahrhunderts genannt werden, die den stattlichen Jahressold von 80 bis 90 Mark neben manchen Vergünstigungen erhielten, beritten mit städtischen Reisigen zur Säuberung und Sicherung der Landstraßen die Feldmark 265 ). Abgesehen von den Burgvögten bezeugen die Ratsrechnungen zuweilen 6 oder gar 7 städtische Vögte, von denen der Markt-, Strand- und Heidevogt ausdrücklich genannt werden 266 ).

Gut bezahlte "Festungsbaumeister" mit fest angestellten Handwerksmeistern und ihren "kumpanen" sorgten als eigentliche Vollzugsbeamte für den zweckmäßigen Ausbau und die Instandhaltung der städtischen Festungsanlagen.

Zur Anstellung fest besoldeter Kriegshandwerksmeister trug ferner die Entwicklung des Geschützwesens bei. Das Geschützwesen veranlaßte den Rat, geeignete Leute, die für die Herstellung des nötigen Antwerkes, der Feuergeschütze und deren Bedienung zu sorgen hatten, in feste Stadt- und Solddienste zu nehmen. Das Amt der "Dräger" entwickelte sich im 14. und 15. Jahrhundert zu einem besonderen militärischen Beruf, zu einer Art Kriegshandwerksamt; sie stellten die stän-


262) G.R. 1435/36; W.R. 1447/48; W.R. 1448/49.
263) Sch.R. 1448; G.R. 1449/50.
264) In den 30er und 40er Jahren des 15. Jahrhunderts war "her berghe" Burgvogt zu Warnemünde; G.R. 1437/38. G.R. 1439/40) und die folgenden Jahre.
265) G.R. 1427; G.R. 1429/30.
266) G.R. 1435/36: "... vor grawe want .. VI vogheden. Item deme marketvogede grawes want." G.R. 1437/38: "Item 39 mr. vor grawe want den vif vogheden .., deme strantvoghede unde marketvogehede. Item 52 mr. den vogheden vor schone wante." Ähnlich G.R. des 15. Jahrhunderts.
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digen Bedienungs- und Geleitmannschaften des städtischen "Geschützparks" und wurden daher als der Stadt "Artilleriefahrer" bezeichnet 267 ). Bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stellte die Stadtobrigkeit Bliden- und Ballistenmeister an. Verträge wurden mit ihnen abgeschlossen, wie auch wohl später mit den "bussenschutten", die sich ähnlich wie in Wismar verpflichten mußten, der Stadt jährlich eine bestimmte Anzahl von Waffen zu liefern. Wie alle fest angestellten und besoldeten militärischen Berufsbeamten und stehenden Stadtsöldner mußten auch die Kriegshandwerksmeister dem Rat besondere Amts- und Diensteide leisten, ihre Stellung nach bestem Wissen und Können im städtischen Interesse auszufüllen 268 ).

Die Oberaufsicht über die städtischen Schiffsleute sowie über die Hafenanlage in Warnemünde lag in den 30er und 40er Jahren des 15. Jahrhunderts in den Händen des "schepwarer, mester bertelde, de de schepe vorsteyt" 269 ).

Die Schiffsbesatzung, die sich häufig aus Warnemünder Bewohnern zusammensetzte 270 ), wurde im allgemeinen erst zu den jeweiligen "zeevarten" angeworben und erhielt nur für die Dauer der Dienstzeit freie Verpflegung und Sold. Diese betrug für den "schipmanne" täglich 2 sol., für den "stvrmanne" 41/2 mr. vor 4 weeken; alle weiteren Arbeitsleistungen, wie z. B. das Bewachen der Schiffe, das Instandsetzen der Boote, wurde ihnen besonders vergütet 271 ).

3. Die gebundenen Söldner.

Eine besondere Art von "stehenden" Söldnern bildeten die sogenannten "Aussöldner" oder "gebundenen" Soldritter, eine Gattung, die vor allem den süddeutschen Stadtkommunen eigentümlich ist 272 ). Wie die stehenden Soldmannen stellten auch


267) B.G.R. Bd. 9 S. 47 ("Trägerkumpanen der Stadtartilleriefahrer von 1490").
268) Vgl. Geschützwesen S. 88 ff.
269) G.R. 1439/40. Ähnlich G.R. 1430/31, 1438/39 usw.
270) G.R. 1440/41: "8 warnemunderen ..., de de schipmanns scholden wesen in den bartzen unde snicken." Ähnlich G.R. 1441/42 usw.
271) M.U.B. 15 Nr. 9317 (1364); G.R. 1420/21. Ähnlich G.R. des 15. Jahrhunderts.
272) v. Below a. a. O. S. 79; v. Maurer a. a. O. S. 510; Mendheim a. a. O. S. 35; Kober a. a. O. S. 81.
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diese auf Lebenszeit ihre Dienste der Stadtobrigkeit zur Verfügung, waren aber im Gegensatz zu den stehenden Stadtsöldnern stets fremder Herkunft. Die nur in geringer Zahl erhaltenen Dienstverträge beweisen, daß die Zahl der gebundenen Söldner zwar gering war, daß aber ihre Bedeutung für Rostock keineswegs zu unterschätzen ist. Die in der Bestallungsurkunde genannten Ritter und Knappen setzten sich durchweg aus solchen Mitgliedern des mecklenburgischen Ritterstandes zusammen, die in Rostocks näherer Umgebung seßhaft waren. Es ist daher leicht verständlich, daß die Stadtobrigkeit ein besonderes Interesse daran hatte, gerade mit ihnen in engste freundschaftliche Verbindung zu treten, da sie als Feinde eine ständige Gefahr für die städtischen Bewohner bildeten und Handel und Verkehr aus den Landstraßen durch Überfälle und Straßenraub schwer schädigen konnten 273 ). Die Beilegung und Schlichtung von Streitigkeiten mit dem benachbarten Ritterstand gaben gelegentlich den Anlaß zu den mit gebundenen Soldrittern abgeschlossenen Dienstverträgen; ein ursprünglicher Sühnevertrag wurde zum Söldnervertrag erweitert, wie z. B. die dem Ritter Hinrich Lukow und seinen Mitbürgen ausgestellte Bestallungsurkunde vom Jahre 1386 bezeugt, "unde hebbe darto mit upperichteden vyngeren gezworen in den hylgen, dat ik scal truwe unde hold wesen unde truwelken denen den vorbenomeden borgermesteren unde radmannen, ... unde in erer stad unde eres stades denste by en truwelken to blyvende, de wyle dat ik leve" 274 ). Aus diesem wie auch aus einem ähnlichen Söldner- und Dienstvertrag geht hervor, daß die Stadt die betreffenden Ritter und Knappen auf Streif- und Beutezügen gefangen genommen hat 275 ). Mit Geschicklichkeit nutzten Rostocks Ratsherren den ihnen sich bietenden Vorteil aus: Die einstmals feindlichen Ritter erhielten ihre persönliche Freiheit zurück und verpflichteten sich dafür durch Eid und Siegel zu städtischen Kriegs- und Söldnerdiensten; auf diese Weise erreichte es die Ratsobrigkeit, eine ständig drohende Gefahr zu bannen und zugleich die städtische Wehrmacht durch waffengeübte Hilfstruppen zu verstärken.


273) M.U.B. 21 Nr. 11777.
274) Vgl. Anm. 273.
275) M.U.B. 23 Nr. 13101: "Hinrich Wulf begibt sich in den lebenslänglichen Dienst Rostocks."
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Auffällig ist, daß selbst in den oft recht ausführlichen Sühne- und Dienstverträgen eine eigentliche Gegenleistung des Rostocker Rats in Form des üblichen Soldes oder der Verleihung des Bürgerrechtes, das mittelalterliche Stadtkommunen ihren gebundenen Soldrittern häufig verliehen 276 ), nicht erwähnt wird. Zweifellos bestand die Gegenleistung zum Teil darin, daß die Stadtobrigkeit Angehörigen des ländlichen Ritterstandes nach einer Gefangennahme Straferlaß und unentgeltliche Freilassung gewährte. Abgesehen von den rein wirtschaftlichen Vorteilen, welche die "Aussöldner" in einer wohlhabenden Handelsstadt wie Rostock hatten, erhielten sie im Kriegsfall für ihre städtischen Kriegsdienste zweifellos eine ähnliche oder gleiche Entschädigung wie die übrigen Söldnerarten. Die getroffenen Abkommen trugen zum Teil den Charakter von Bündnissen zur gegenseitigen Hilfeleistung 277 ). Rostock gewährte als mächtige Hansastadt mit ihren festen Verteidigungsanlagen dem benachbarten Ritterstand und Landadel sicheren Schutz und bildete als einflußreiche Bundesgenossin ein Gegengewicht gegenüber der sich ausbreitenden Territorialgewalt der Fürsten, wofür die Ritter sich verpflichteten, auf Anforderung Truppen zu stellen.

Von besonderer Bedeutung in militärischer Hinsicht waren solche Verträge mit gebundenen Soldrittern noch dadurch, daß der Stadtobrigkeit gelegentlich das Öffnungsrecht befestigter Ortschaften und Burgen zugestanden wurde, wie z. B. in dem mit dem Knappen Hartwig Bulle abgeschlossenen Dienstvertrag: "In desse zone hebben ze thogen de manne in der voghedye to der Zulten unde ere ghud, de stad unde ere voghedye to der Zulten 278 ). Der Dienstvertrag sicherte Rostock eine ständige Besatzung und Hilfstruppe in Sülze; Hartwig verpflichtete sich dem Ratskollegium, "truwelken to denen myt teynen weraftich, wanne unde wor ze my esschen (auffordern), behalven (ausgenommen) over de solten zee."

Während es in manchen deutschen Stadtkommunen einzelnen Bürgern und Ämtern überlassen war, ob sie persönlich dienen oder auf eigene Kosten Söldner anwerben und sich auf diese Weise in der Ausübung der Kriegspflichten vertreten


276) Vgl. S. 74 Anm. 272.
277) M.U.B. 20 Nr. 11610.
278) M.U.B. 22 Nr. 12460.
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lassen wollten 279 ), wurden in Rostock die Soldtruppen grundsätzlich von der Ratsobrigkeit auf Stadtkosten in Dienste genommen. Die Annahme der Söldner wie überhaupt aller fest angestellten Militärbeamten gehörte mit zu den alleinigen Befugnissen des Ratskollegiums.

§ 3.

Das Geschützwesen.

1. Das Antwerk, Schleuder- und Wurfmaschinen.

Die im früheren Mittelalter gebräuchlichen Wurf- und Schleudermaschinen, die in anderen, selbst in kleineren Nachbarstädten Rostocks, wie Stralsund und Greifswald, schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in größerer Anzahl vorkamen 280 ), werden für die Stadt Rostock erst spät, um 1310 bezeugt 281 ). Wir können trotzdem wohl annehmen, daß auch Rostock bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts solche Drehkraftgeschütze besaß. Eine Bestätigung für diese Vermutung bietet uns die kurze Notiz eines der ältesten Stadtbuchfragmente, daß die Ratsobrigkeit in den Jahren 1278/84 Handwerksmeister wie "balistarii" und "sagittarii", die mit der Herstellung von Schleuder- und Belagerungsmaschinen vertraut waren, für geleistete Dienste oder Waffenlieferung bezahlte 282 ).

Diese frühesten Nachrichten gestatten uns jedoch keinen Rückschluß darauf, welche Arten von Drehkraftgeschützen es waren, für die die gebuchten Ausgaben gemacht wurden. Erst im Anfang des 14. Jahrhunderts werden in der Chronik von 1311/14 unter den Rostocker Waffenbeständen bestimmte Geschütztypen genannt; und zwar hören wir hier zum ersten Male von den für das frühere Mittelalter charakteristischen Arten, den "Bliden und Werken" 283 ). Die Glaubwürdigkeit


279) v. Maurer a. a. O. S. 509.
280) Vgl. Hist. Teil S. 27 Anm. 76.
281) Vgl. S. 28 Anm. 78.
282) M.U.B. 3 Nr. 1705: "item balistario III marcas 4 solidis minus. Istem sagittariis 51/2 marcas."
283) Chronika von 1311/14 a. a. O.: ".. und toch fort hen vor de börge to Warnemunde mit schote, blidenn unde werkenn ..".
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des Chronisten wird uns durch Urkunden bestätigt. Dieselben beiden Gattungen "dryvende werke unde blyden" werden wiederholt in den Bündnisverträgen der folgenden Jahrzehnte genannt 284 ). Zum Jahre 1328 wird das in der breiten Straße gelegene "balistarium" erwähnt, in dem das städtische Antwerk aufbewahrt wurde 285 ). Wann mit dem Bau des "Zeughauses" begonnen wurde, erfahren wir nicht, da die Ratsrechnungen der vorhergegangenen Jahre nicht erhalten sind.

Die Ratsrechnungen späterer Jahre gestatten uns neben den Bündnisverträgen Rückschlüsse auf die Eigenart und Herstellungsweise, auf das Geschoßmaterial und Zubehör der Bliden und Werke und ermöglichen es, den Unterschied zwischen den beiden Drehkraftgeschützen zu erkennen. Das "schießende oder dryvende werk" (lat. "opus ducibile") ist wegen seiner Bedeutung, Größe und ausgedehnten Verwendungsmöglichkeit an erster Stelle zu nennen 286 ). Daß die später häufig bezeugten "nostallen" ebenfalls Drehkraftflachgeschütze waren und dasselbe bedeuteten wie die treibenden Werke, geht aus den Nachrichten über die Anfertigung, Ausbesserung und das Geschoßmaterial hervor. Verschiedene Ratsrechnungen enthalten Ausgaben, welche die Notstalen deutlich als Drehkraftflachgeschütze kennzeichnen 287 ). Als Geschoßmaterial für den Notstal ist in Rostock wie auch in anderen Hansestädten eine besondere Pfeilart belegt; wiederholt werden diese "nostalles pile" in den Stadtrechnungen von den kleineren Armbrustpfeilen unterschieden 288 ).


284) M.U.B. 13 Nr. 7717: ".. unde wy ratmanne van Rozstocke unde Wysmer scholen beyde volghen .. mit enem dryvende werke unde mit ener blyden unde mit werkmesteren, der darto behof is ..". Ähnlich M.U.B. 13 Nr. 7797; M.U.B. 15 Nr. 8936, Nr. 8937 usw. Bezeichnend für die städtische, speziell auch für die Rostocker Kriegsmacht ist es, daß in den verschiedenen Bündnissen Geschützmaterial nur von Seiten der Stadtkommunen gestellt wurde, während sich die Leistungen der Fürsten und Herren lediglich auf die Stellung von Truppen beschränkten.
285) M.U.B. 7 Nr. 4886 (1328): "in longa platea iuxta balistarium sita."
286) M.U.B. 16 Nr. 9761 (1368).
287) M.U.B. 14 Nr. 8722 (1360); M.U.B. 15 Nr. 9107 (1362); Nr. 9239 (1364) usw.
288) M.U.B. 15 Nr. 9239 (1364); M.U.B. 14 Nr. 8722 (1360): "pro uno centenario majorum telorum ...".
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Die Blide wird in den lateinischen Quellen meist als "machina" bezeichnet. Sie war eine Schleudermaschine, die das Geschoß im Bogenwurf gegen das Ziel trieb. Ihre Aufgabe bestand vor allem darin, in steilem Einfallswinkel Mauerwerk und Befestigungsanlagen mit schweren Feldsteinen von oben her zu durchschlagen, während die treibenden Werke oder Notstalen in wagerechter Richtung Balken oder große Pfeile schossen und im flachen Bogenwurf kernschußartig gegen Mauern wirken sollten.

Die häufig bezeugten "balistae" waren ebenfalls Schleuderwaffen. Nach ihnen hieß das Haus, in dem das gesamte Antwerk aufbewahrt wurde, in Rostock "balistarium", - in Greifswald dagegen wurde es nach den Bliden "Blidenhaus" genannt 289 ). Die Balisten wurden wegen ihrer geringeren Herstellungskosten zahlreicher als die Notstalen und Bliden angefertigt; an Bedeutung und Größe jedoch blieben sie hinter diesen zurück. Wegen der Dürftigkeit der Quellen und der vielfach wechselnden Namen ist im Einzelfalle nicht immer mit Sicherheit festzustellen, ob die verschiedenen "balistae" und späteren "armborsten" Schußwaffen des Einzelnen oder kleinere Wurfmaschinen auf Schießgestellen waren (wie z. B. die im Jahre 1368 bezeugten "Katten" 290 ). Sicher ist, daß einzelne Balisten als sogenannte Bank- oder Wagenarmbrusten 291 ) eine kleinere Abart der Notstalen waren und im Gegensatz zu diesen und den Bliden, die recht eigentlich das schwere Belagerungsgerät der damaligen Zeit bildeten, das leichte Drehkraft- und Ferngeschütz darstellten.

Die verschiedenen Wurf- und Schleudermaschinen haben sich neben dem um 1360 in Rostock neu eingeführten Feuergeschütz, das in erster Linie die Aufgaben der fernschießenden Drehkraftflachgeschütze, der Notstalen, übernahm, noch lange im städtischen Geschützwesen behauptet. Der Vorteil des Antwerkes bestand vor allem darin, daß es als die technisch vollkommenere Waffenart eine schnellere Schußfolge erlaubte und jene ältesten kleinkalibrigen, erst in der Entwicklung begriffenen Pulvergeschütze noch erheblich an Schußwirkung übertraf. Vor allem wurde auch wohl die Unterhaltung der Drehkraftgeschütze wegen Ersparung des anfänglich hohen Pulverpreises bedeutend


289) Fock a. a. O. 2, S. 137.
290) M.U.B. 16 Nr. 9761 (1368).
291) Max Jähns a. a. O. S. 338; O. Fock a. a. O. S. 137.
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billiger, so daß Rostock wie auch die benachbarten Hansestädte noch zwei volle Jahrzehnte hindurch an diesen altbewährten Kriegsmaschinen festhielten. Noch im Laufe der beiden dänischen Kriege gegen König Waldemar (1362, 1368) bildeten Werke und Bliden fast ausschließlich das schwere Geschütz, das von den Stadtkommunen ins Feld geführt wurde 292 ).

So leistungsfähig an sich die Schleuder- und Wurfmaschinen waren, so lag doch ihr großer Nachteil in der allzu großen Empfindlichkeit der Haarseile, Sehnen und des Tauwerkes gegen Witterungseinflüsse; die Spannbündel mußten häufig nachgespannt oder gar völlig neu ergänzt werden. Wieviel Arbeit, wie hohe Unkosten die Erhaltung der Torsionsgeschütze erforderte, beweisen die sich ständig wiederholenden Ausgaben für Ausbesserungsarbeiten und Instandhaltung 293 ). Dieses mögen mit die wichtigsten Gründe gewesen sein, die jene wirksamen Drehkraftgeschütze und Wurfmaschinen aus der Reihe der Rostocker Kampfmittel und des städtischen Geschützbestandes im ausgehenden 14. Jahrhundert ausscheiden ließen. Nach 1380 werden Bliden und Notstale in den Ratsrechnungen wie auch in den Schutz- und Trutzbündnissen der Hansestädte nicht mehr erwähnt. Die in den 60er Jahren eingeführten Feuerbussen hatten inzwischen solche Fortschritte in ihrer Entwicklung gemacht, daß sie das bisher gebräuchliche Antwerk verdrängten.

Die kleineren Drehkraftflachgeschütze, die auch von einem einzelnen Menschen leicht zu handhabenden Balisten oder Bankarmbrusten, bildeten dagegen noch im Anfang des 15. Jahrhunderts einen wichtigen Bestandteil des städtischen Geschützbestandes neben den Feuerbüchsen, wie die sich ständig wiederholenden Neuanschaffungen in den Weinrechnungen dieser Jahre bezeugen 294 ). Die Tatsache, daß diese kleineren Tor-


292) H.R. I Nr. 440 A § 10 (1368); M.U.B. 19 Nr. 11247 (1380); vgl. S. 79 Anm. 290.
293) Außer den bereits angeführten Belegstellen liefern die im M.U.B. veröffentlichten Ratsrechnungen des 14. Jahrhunderts das Ouellenmaterial für die mitgeteilten Ausführungen über das Rostocker Drehkraftgeschütz. Vgl. M.U.B. 13 Nr. 7448, Nr. 7581, Nr. 7898; M.U.B. 14 Nr. 8200, Nr. 8532; M.U.B. 15 Nr. 9107, Nr. 9239, Nr. 9251, Nr. 9317 usw.
294) G.R. 1408/09: "Pro 1 baliste ad theatrum." G.R. 1412/13: "Pro 1 baliste in warnemunde." Ähnlich G.R. der folgenden Jahrzehnte; W.R. 1413/14; W.R. 1424/25. Ähnlich W.R. der folgenden Jahrzehnte.
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sionsgeschütze sich im Rostocker Waffenbestand solange behaupteten, ist gewiß darin begründet, daß Lot- und Handbussen im Gegensatz zu dem schweren und großkalibrigen Feuergeschütz nur ganz allmählich zur Entwicklung und technischen Vervollkommnung gelangten. Ausschlaggebend dürfte ferner die Tatsache gewesen sein, daß das "Feuerschießen" mit den Balisten von jeher ein beliebtes und häufig angewandtes Kampfmittel im städtischen Heerwesen bildete. Auch noch während des 15. Jahrhunderts, als die Bliden und schießenden Werke schon lange von den Bussen verdrängt waren, behielten Feuerpfeile und Brandgeschosse ihre Bedeutung als Belagerungswaffe, wofür die für "vuorepyle" und "swarschote" gebuchten Ausgaben beredtes Zeugnis ablegen 295 ).

In wie großer Zahl die verschiedenen Wurf- und Schleudermaschinen im Rostocker Balistarium vorhanden waren, wissen wir nicht. Urkundliche Belege und schriftlich niedergelegte Bestandsaufnahmen, entsprechend den Bussenverzeichnissen des 15. Jahrhunderts, sind nicht erhalten. Trotzdem lassen die häufig erwähnten Ausgaben für Neuanschaffung und Ausbesserungsarbeiten, vor allem der starke Verbrauch an Schleudermaterial und Wurfgeschossen, auf eine stattliche Zahl von Torsionsgeschützen und Belagerungsmaschinen im Laufe des 14. Jahrhunderts schließen.

Das Sturmzeug.

Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang noch die schon früh bezeugten "tartzen" 296 ). Aus ihrer Herstellungsweise aus Flechtwerk, Holz- und Eisenmaterial geht hervor, daß sie ursprünglich in Form von großen Setzschilden den vorgehenden Truppen Deckung und Schutz gegen feindliche Geschosse bieten sollten. Vermutlich haben wir in den "stormtacien" oder "stormtarzten", die wiederholt in den Ratsrechnungen des 15. Jahrhunderts zusammen mit "bussenwagen unde stritwagen" erwähnt werden 297 ), gleichzeitig eine Art


295) G.R. 1411/12; W.R. 1413/14: "Item hinrich luchtermaker pro XX vuorepyle". Ähnlich W.R. 1418 usw.
296) M.U.B. 13 Nr. 7898; K.R. 1354 und der folgenden Jahre.
297) W.R. 1425/26: "Item vor de stormtacien to beslande 3 mr. ..." W.R. 1449/50: "Item VIII mr. 4 ß vor 2 poppelen to den stormtacien; item .. vor de stormtacien unde bussenwagen to makende, .. vor den bussen- unde stormtacien unde stritwagen verdich to makende" ff. Ähnlich W.R. des 15. Jahrhunderts.
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von fahrbaren Sturmböcken und Mauerbrechern zu erblicken, die mit den von Rathgen angeführten "Tummlern" identisch sind 298 ).

2. Pulverwaffen und Feuergeschütze.

Die Einführung der Pulverwaffen führte - wenn auch nur allmählich - einen gewaltigen Umschwung in der Entwicklung des städtischen Geschützwesens herbei.

Im Jahre 1362 ist für die Stadt Rostock zum ersten Male das Vorkommen des Pulvergeschützes bezeugt 299 ). Die Stadtrechnungen der Vorjahre sind uns nur lückenhaft erhalten; wir erfahren daher nicht, ob diese neue Waffengattung schon vor 1362 in Rostock verwendet worden ist.

Wahrscheinlich ist es, daß Rostock seiner damaligen Machtstellung entsprechend als eine der ersten Stadtkommunen der Ostseestädte den Gebrauch der Feuerbussen eingeführt hat 300 ). Auch gibt das nur unvollständige Urkundenmaterial keinen sicheren Aufschluß darüber, von wo etwa die Anregung zu diesen ersten Versuchen mit der Pulverwaffe gegeben wurde 301 ).


298) S. 26 Anm. 73.
299) M.U.B. 15 Nr. 9107: "Item III marc. sol. pro pixide igneo."
300) Zur Beweisführung Focks (a. a. O. Anhang III, Die ersten Spuren der Anwendung des Schießpulvers im Norden Europas) über das Aufkommen der ersten Pulverwaffen in den Ostseestädten ist zu bemerken, daß sich Fock in der Begründung seiner Behauptungen durch den Ausdruck "vuorschutte" hat täuschen lassen; vgl. Rathgen S. 621: "Die in den alten Chroniken häufig vorkommende Bezeichnung "Feuerschütze" hat vielfach zur Verwirrung der Begriffe geführt und zu der Annahme, daß das Wort "Feuer" (vuor) sich bereits auf die treibende Kraft beim Schießen bezöge, und daß der Feuerschütze also bereits mit Pulver aus Büchsen geschossen hätte. Lange vor der Zeit, in der das Schießpulver als Treibmittel Verwendung fand, waren Brandsätze von ähnlichem Gemenge im Gebrauch." - Die "Schießpulverschützen" werden seit ihrem ersten Aufkommen stets "bussenmestere", seltener "werkmestere" genannt (vgl. S. 91 ff.), während die "vuoerschutten" Armbrustschützen waren, die Brandpfeile schleuderten ("sagittarii, experti in tali arte, .. tela fulminantia et ignita sagittare") und gleichzeitig die "vuorepile" herstellten.
301) Das erste Pulver bezog Rostock 1362 wahrscheinlich aus Lübeck (vgl. M.U.B. 15 Nr. 9014).
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Die Vermutung liegt nahe, daß die Kenntnis vom Feuergeschütz aus den größeren Stadtkommunen Südwestdeutschlands, in denen der Gebrauch des Pulvers bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts bekannt war, zu den Ostseestädten gelangte, daß von hier aus längs der Küste das Feuergeschütz seinen Siegeszug nach dem Osten bis nach dem Ordensstaat fortsetzte 302 ).

In den Jahren nach 1362 schweigen die Ratsrechnungen über die Beschaffung von Pulverwaffen; ebenso werden sie bei den Kriegsrüstungen der Hansestädte gegen Dänemark in den 60er Jahren nicht erwähnt. Erst von 1380 an werden Bussen wieder in den Quellen genannt. Vielleicht ist der vereinzelte Versuch vom Jahre 1362 mit der kleinkalibrigen Bleibusse wenig ermutigend ausgefallen, so daß von der Einführung dieser neuen Waffengattung zu Gunsten des technisch vollkommenen Antwerkes Abstand genommen wurde.

Von 1380 an häufen sich die Ausgaben für Feuergeschütze. Über die "bussen" selbst erfahren wir nichts Näheres, nichts über ihre Anzahl und Größe. Wohl aber bezeugen die Weinrechnungen, daß die Stadtobrigkeit, die frühzeitig die Bedeutung der neuen Kampfmittel erkannte, trotz des anfänglichen Mißerfolges dem Ausbau und der Vervollkommnung der Feuerbüchsen weiterhin große Aufmerksamkeit zuwandte. Denn mit den 1380 erwähnten "pixides" kündet sich der bereits vollzogene Übergang zu dem nächsten Entwicklungsabschnitt der Pulverwaffen an: Die ersten größeren Steinbussen werden in den Rostocker Geschützbestand aufgenommen 303 ).

In den folgenden Jahrzehnten lassen die Weinrechnungen erkennen, daß die Stadtobrigkeit bestrebt war, die Leistung des Geschützwesens durch Vermehrung und Vervollkommnung der "bussen" zu steigern. Die Quellen sprechen von "umge-


302) Das erste Vorkommen der Pulverwaffen ist für Aachen 1346, Frankfurt 1348, Naumburg 1349, Regensburg vor 1350, Bremen 1358, Lübeck um 1360, Rostock 1362, Dänemark 1372, den Deutschen Ordensstaat 1374 bezeugt. (Vgl. Rathgen a. a. O. S. 705 ff.; Barthold a. a. O. Bd. 2 S. 46; Daenell a. a. O. Bd. 2 S. 470 Anm. 1.)
303) M.U.B. 15 Nr. 9107, 9239; M.U.B. 20 Nr. 11667: "pro fabricione trunci, in quo pixis jacet, ff." (Vgl. hierzu Rathgen a. a. O. S. 581 Anm. 5.)
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gossenen, neuen und großen" Büchsen 304 ). Es ist nicht möglich, auch nur annähernd im einzelnen Größe und Kaliber anzugeben. Nur in einer Weinrechnung (1450) erfahren wir zufällig von zwei Bussen das Gewicht, "item 63 mr. 9 ß vor 2 bussen myt 4 kameren, de wogen 1 schippunt III1/2 lispunt unde 1 markpunt (3-4 Zentner)".

Einen weiteren Fortschritt für das Geschützwesen bedeutet die Einführung der Hinterlader- oder Kammerbussen. Leider geben uns die Ratsrechnungen keinen bestimmten Anhalt, in welchem Jahre die neue Waffengattung der Kammerbüchsen in Rostock angefertigt wurde. Die in den Urkunden erhaltenen Nachrichten reden fast durchweg nur allgemein von "bussen", ohne die Geschützart als solche (Kammerbussen) zu kennzeichnen. So werden z. B. häufig Hinterladebüchsen, auch wenn sie nicht besonders als Kammerbussen bezeichnet werden, nur durch die für jedes einzelne Geschütz vermerkte Anzahl von Kammern als Hinterladebüchsen erkenntlich 305 ). Der große Vorteil dieser neuen Geschützart bestand vor allem darin, daß die Handhabung beim Laden erheblich vereinfacht wurde. Ferner gewährten mehrere, auswechselbare Kammern für einunddasselbe Geschütz die Möglichkeit eines schnelleren und sicheren Feuerns, zumal das zeitraubende und umständliche Vor- und Zurückbringen der hinter einer Deckung stehenden Bussen nach dem Abschuß fortfiel.

Die Hinterladebüchsen, die durchweg kleineren Kalibers waren als die Steinbussen, spielten vor allem in den offenen Feldschlachten eine wichtige Rolle, da sie den Anforderungen der immer beweglicher werdenden Kampftechnik am besten genügten. Fast gleichzeitig geht daher die Ratsobrigkeit dazu über, Angriffs- und Belagerungsgeschütze, für deren Transport anfangs große Wagen gedient hatten, auf fahrbaren Lafetten zu befestigen. In diesen Bussen haben wir das erste Aufkommen des eigentlichen Feldgeschützes im Rostocker Geschützwesen zu erblicken. Das Bestreben, die Verwendungsmöglichkeit der


304) W.R. 1418; W.R. 1423/24: "de ere bussen umme to ghetende"; W.R. 1424/25: ".. de groten bussen tovorende .., dat kopper tor groten bussen" usw.
305) W.R. 1424/25: "Item 18 mr. vor 10 lotbussen unde vor ene grote busse unde vor twe kameren to ghetende Mattigesse deme bussenghetere." W.R. 1460/61: "44 mr. vor 8 bussen myt 33 kameren" usw. Vgl. S. 86 Anm. 314.
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Feuerwaffen vor allem in den Feldschlachten zu steigern, führte zur Einführung der "stritwagen" und "bussenwagen" 306 ). Diese Kriegsfahrzeuge, welche die Hauptneuerung bei der Kampfesweise der Hussitenheere bildeten und als Wagenburgen eine große Rolle spielten, führten zu einer völlig neuen Kriegstaktik 307 ). Bereits um 1430 gelangte diese Neuerung in Rostock wie auch in anderen deutschen Stadtkommunen zu Bedeutung, wie die häufig gebuchten Ausgaben für Streit- und Heereswagen beweisen.

Als Besatzstücke für die "stritwagen" 308 ), von denen manche die stattliche Anzahl von 8 Bussen trugen, dienten die kleinen und großen Lotbussen 309 ). Diese bildeten im Gegensatz zu den schweren Steinbüchsen und Geschützen mittleren Kalibers, den "Vöglern" und späteren "Schlangen" 310 ), die leichten und kleinkalibrigen Feuerrohre. Die kleinen Lotbussen, die die ersten Vorläufer der eigentlichen Handbüchsen waren, trugen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts durchaus noch den Charakter des kleinen Geschützes.

Die Ratsrechnungen lassen zwar erkennen, wie sich von Jahr zu Jahr die Geschützzahl Rostocks durch neue und umgegossene Bussenarten vermehrte - zuweilen wird sogar die Höhe der von den Wein- oder Zeughausherren beschafften Geschütze genannt, wie in den Jahren 1426/27 311 ) -; aber sie gestatten noch keineswegs einen Rückschluß auf den städtischen Büchsen-


306) W.R. 1425/26: "... vor de stritwagene to makende, item ... 8 par raderen to den stridenwagen. Item 501/2 mr. smedelon vor den nyen bussenwagen unde vor de stridewagen ... Item .. vor den bussenwagen unde stormtacien unde stritwagen verdich to makende" ff. Ähnlich W.R. 1426/27 usw.
307) M. Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften, Bd. 1 S. 304 (München, Leipzig 1890/91); Barthold a. a. O. Bd. 2 S. 105, 108 ff.; Rathgen a. a. O. S. 127 ff.
308) Siehe S. 86 Anm. 314.
309) Es waren das Fahrzeuge, die zum Transport und gleichzeitig als Schießgerät dienten; Rathgen a. a. O. S. 284.
310) W.R. 1481: ".. vor de slangen to beslande .., vor de forme tor slange .., vor twe rade tor slangen" ff.; Van de Rostocker Veide, S. 4: "Item alle de Hovetbussen, Stenbussen, Scharmbreker, Scharpentinen, Karenbussen und Slangen alle wurden se up dat marcket gebracht."
311) In diesem Jahre werden für 16 Bussen, 1 Stritwagen und Pulver über 250 Mark gebucht (W.R.).
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bestand. Die Ausgaben für das Geschützwesen beliefen sich in den Jahren 1424/25 auf etwa 210 Mark 312 ).

Einen ungefähren Einblick in Rostocks Bussenbestand gestatten uns zwei zufällig im Lib. arbitriorum erhaltene Bestandsaufnahmen. Wir erfahren aus dem Jahre 1434, daß der städtische Burgvogt zu Tessin über folgende Feuerbüchsen verfügte: "Item to tessin is en vogeler mit twen kameren. Item II lotbussen, de en schut to beiden enden. Item en halve tunne pile, de is nich vulle. Item en halff veren dele bussenkrud" 313 ).

Eine zweite Bestandsaufnahme bemerkt: "dit zint der stadt bussen (hiir nascreven): de bussen, de uppe waghen ligghen, der is VI van eren ghaten, voghelers grot unde kleyne van ere ghaten XVIII, hiir horen to XXXIV kameren van ere gaten unde eyne nyge busse myt eyner kameren, de ghekofft wart, unde eyn vogheler myt eyner kamer to tessyn, alle van ere. Item XII voghelers myt eren kameren von yseren smedet unde eyn vogheler to tessin van yseren. Item VIII klene voghelers van yseren up eynen waghene achter unde vorne. Item II yseren bussen, dar me pile mede schut, unde ene klene knybbusse mit IV kameren van yseren. Item III grote lodbussen achter myt haken, van ere ghaten. Item III klene lodbussen van ere gathen. Item eyne busse van yseren gathen, III kameren" 314 ).

Diese Bestandsaufnahme gibt uns in erster Linie sicheren Aufschluß über die in Rostock vorhandenen Geschütztypen. Ferner gewährt sie einen Rückschluß auf die Anzahl der städtischen Bussen. Wahrscheinlich enthält die Bestandsaufnahme nur die Zahl der auf dem Bussenhaus aufbewahrten Geschütze, während die auf den Zingeln und sonstigen Verteidigungsanlagen aufgestellten Bussen wie auch die in Warnemünde und den übrigen Stadtburgen vorhandenen Abwehrgeschütze überhaupt nicht erwähnt sind 315 ).


312) Vgl. Anm. 311; W.R. 1424/25: "Item hebben se utegeven to der stat bussen .. Summa 210 mr. 11 ß." Zu berücksichtigen ist noch die Tatsache, daß Ausgaben für Balisten und Armborsten mit dem zugehörigen Schleuder- und Pfeilmaterial besonders gebucht wurden.
313) Lib. arb. Fol. 98 a (Deckelblatt).
314) Lib. arb. Fol. 84.
315) Auffallend wäre es sonst, daß der zur festen Burg ausgebaute Hafenort Warnemünde, der doch zweifellos für die militärische (  ...  )
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3. Die Geschoßarten.

Wohl begreiflich ist es, daß man in Rostock wie auch in anderen deutschen Stadtkommunen 316 ) für die Pulvergeschütze zunächst noch das bewährte Geschoß der von ihnen verdrängten Torsionsgeschütze, den Pfeil, beibehielt 317 ). Selbst noch in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts besaß die Stadt Feuerbüchsen, die allem Anschein nach ausschließlich pfeilartige Bolzen "pile" verschossen 318 ). Trotz der langjährigen Verwendung des Pfeiles erfolgte schon frühzeitig, bereits seit der Einführung der ersten "pixides ignei" um 1360, der Übergang zur Verwendung von Blei- und Steinkugeln. Die Geschoßart richtete sich natürlich in erster Linie nach der jeweiligen Geschützart und nach den ihr besonders zufallenden Aufgaben und Zielobjekten. So dienten z. B. gegossene Bleikugeln den ersten noch kleinkalibrigen Feuerrohren als Geschoßart, ebenso den schon technisch vervollkommneten Lotbussen, wie ihr Name schon besagt. Wie bereits auf S. 85 erwähnt, wurden Lotbussen mit ihren kleinen durchschlagskräftigen Bleigeschossen als Ar-


(  ...  ) Sicherheit der Stadt eine weit größere Bedeutung als die landeinwärts gelegene "borg to tessin" besaß, völlig von Geschützmaterial entblößt wäre. Nach dem Zeugnis der verschiedenen Ratsrechnungen des 15. Jahrhunderts waren auf der "nygen" und "groten borg" zu Warnemünde zahlreiche Bussen als Sperr- und Verteidigungsgeschütze aufgestellt. Fast alljährlich wurde Pulver- und Geschoßmaterial nach Warnemünde gebracht, während dieselben Sicherheitsmaßnahmen für die anderen Stadtburgen nur in seltenen Fällen und in weit geringerem Umfange von Rostocks Ratsobrigkeit getroffen wurden. - In fast allen Gewettrechnungen des 15. Jahrhunderts heißt es: "item 4 mr. vor 1 armborst uppe de borch" ff.; G.R. 1413/14: ".. pro II armborste .., dat ene is to warnemunde, altera pastow." W.R. 1432/33: "vor 1 half tunne, dor pyle in quemen to der munde ff. W.R. 1435/36: ".. vor mykken (Ziel- und Visiereinrichtung, vgl. Grimms Wörterb.) .. de quam to warnemunde ..., dat quam to warnemunde myt bussenkrude." G.R. 1439/40: ".. do de bussenschutte mester nicke uppe de borch lach .." ff. G.R. 1443/44: ".. vor bussen unde vitallie tor munde to vorende uppe de borch" ff. Ähnlich G.R. des 15. Jahrhunderts. - W.R. 1480: "Item .. pro 1 Wippe uppe de borch to goldenisse."
316) Rathgen a. a. O. S. 124, 401.
317) M.U.B. 21 Nr. 12195, ".. pro pulveribus dictis salpetra ad pixides sagitarias ..".
318) Vgl. S. 88 Anm. 320; vgl. S. 86 Anm. 314.
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tilleriebestückung der Streit- und Heereswagen vornehmlich gegen lebende Ziele in offenen Feldschlachten mit Erfolg verwandt.

Als weitere Geschoßart neben den "Loten" - oder Bleikugeln finden wir die Steinkugeln, die bereits im 14. Jahrhundert von der Blide geschleudert wurden. "Bussenstene" bildeten ihrer geringen Kosten wegen das gebräuchliche Geschoßmaterial. Der große Verbrauch an steinernen Kugeln, zu deren Herstellung sämtliche einheimischen Maurermeister durch Ratswillkür verpflichtet waren, beweist deutlich, daß Büchsensteine Jahrzehnte hindurch das am meisten verwendete Schleudermaterial in Rostock waren 319 ). Der Nachteil, daß diese Geschoßart an festen Granitmauern wirkungslos zerschellte, veranlaßte die Stadtobrigkeit, um die Mitte des 15. Jahrhunderts eisengeschmiedete und eisengegossene Bussenkugeln herstellen zu lassen. Für die Geschütze mittleren Kalibers, für die "vogeler", werden alle drei Arten, Stein-, Bleikugeln und Pfeile, als Geschoßmaterial genannt. Eine besondere Erwähnung verdient ein Bericht aus dem Jahre 1450, nach dessen Wortlaut in Rostock schon damals schrapnellartige Geschosse bekannt waren 320 ).

Es ist selbstverständlich, daß die Stadtobrigkeit darauf bedacht war, die Herstellung und Ausbesserung des Kriegs- und Geschützmaterials nach Möglichkeit in der Stadt selbst vornehmen zu lassen. Die Ratsrechnungen erwähnen häufig die Bezahlung, welche einheimische Kriegshandwerksmeister, wie die balistarii, sagittarii usw. (vgl. S. 90) für Lieferung fertiger Waffen, Kriegsmaschinen und Zubehör erhielten 321 ). Bisweilen waren diese vielbegehrten Waffenmeister wandernde


319) In fast sämtlichen Weinrechnungen werden Ausgaben für "bussenstene to howende, bykken to den stenen to howende unde to scherpende, vor bykken to makende unde to scherpende unde to stalende" oder ähnlich gebucht. - Lib. arb. Fol. 83 b (Amtsrolle der Maurermeister): "§ 4 Item schal en islik mester howen der stat teyn bussenstene wenner de rad dat van em des iares eschend'is."
320) W.R. 1450/51: "Item 2 mr. to ver tunnen to bussenkrude, to pylen unde hagelschote" (Kugeln in Größe von Hagelkörnern, vgl. Niederdeutsch. Wörterb., Schill. u. Lübb.).
321) Nur einmal während des 14. Jahrhunderts bezeugen die Stadtrechnungen, daß Rostocks Ratsobrigkeit von Nachbarstädten (Wismar) Kriegsmaterial bezog. (M.U.B. 14 Nr. 8722): "item 24 mr. pro XVI balistis emptis a balistatore in Wysmaria."
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Handwerker, die von Stadt zu Stadt zogen und dort ihre Kunst lehrten 322 ). Einzelne Handwerksmeister scheinen - wie auch in Lübeck und Wismar - vertraglich gebunden gewesen zu sein 323 ), alljährlich eine bestimmte Zahl von Schleudermaschinen und Torsionsgeschützen gegen entsprechende Bezahlung der Stadtobrigkeit zu liefern.

Das Ratskollegium Rostocks legte großen Wert darauf, die neu aufkommenden Feuergeschütze in eigenen städtischen Werkstätten herzustellen. Bereits im Jahre 1385 machten Rostock und die benachbarten größeren Hansestädte den Versuch, durch besondere Statuten den Besitz von Feuerwaffen und Pulvergeschützen sich vorzubehalten: "In keiner Stadt sollten Feuerbussen für solche gegossen werden, die außerhalb der Städte angesessen seien" 324 ).

Zu wie großer Selbständigkeit und hoher Blüte sich die städtische Waffenfabrikation bereits in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts entwickelt hatte, bezeugt die Ausfuhr von "bussen" und anderem Kriegsmaterial 325 ), ferner die Tatsache, daß in der bereits erwähnten Bestandsaufnahme (S. 86) nur ein einziges Geschütz unter der hier angeführten Zahl als "gekauft" bezeichnet wird. "Lange besaßen Rostock und die mächtigeren Hansestädte nicht nur die größten, sondern auch weitaus die meisten Geschütze, und oft noch im späteren Jahrhundert mußten Fürsten und Herren von ihnen Geschütze entleihen" 326 ). So bat z. B. Herzog Albrecht von Mecklenburg


322) Rathgen a. a. O. S. 644 ff.; St.Fr. III, 3 Fol. 1 b (1278): "Conrad factor armorum, qui est de Norwegia."
323) Schäfer a. a. O. S. 304 Anm. 3; in den 50er Jahren des 14. Jahrhunderts werden mehrere Jahre hindurch in den Ratsrechnungen dieselben Summen (ca. 24 Mark) für die Lieferung einer "machina" gebucht. Vgl. M.U.B. 13 Nr. 7448, 7898 usw.
324) H.R. I, 2 Nr. 293 § 4; 294, 298 § 3. - Wiederholt werden in den Ratsrechnungen des 15. Jahrhunderts Ausgaben für Schmelzöfen und Kupferschmieden, für ihre Ausstattung mit Bussen- und Kugelformen gebucht. Alle sachlichen Ausgaben und Unterhaltungskosten, Rohmaterial an Kupfer, Eisen und Holz wurden vom Rat bestritten (vgl. W.R. 1424/25, W.R. 1427/28 usw.).
325) Sch.R. 1432/33: "Item mattias 31/2 mr. vor ene busse, de hertoghe Johan krech." Sch.R. 1440/41: ".. vor den armborsten, de unse herschop scholden hebben." Sch.R. 1441/42: ".. 60 mr. vor de bussen, de hertoch hinrich van stargarde ..". Ähnlich Sch.R. 1449 usw.
326) Daenell a. a. O. Bd. 2 S. 470.
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während des nordischen Krieges gegen Königin Margarete den Rostocker Rat, "si balistarius vester aliquas bonas balistas habuerit, ipsum cum ipsis versus Kalmeren nobis destinetis ..." 327 ).

Der Rostocker Rat unterhielt schon in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine eigene Pulvermühle und eine besondere Pulverkammer, um den hohen, ständig anwachsenden Verbrauch an "bussenkrut" zu decken, das anfangs in Ledersäcken am Gebrauchsort lagerte, später der größeren Menge wegen in Fässern aufbewahrt wurde 328 ). Über die Zusammensetzung des Pulvers aus Salpeter, Schwefel und Kohle erfahren wir nichts; aus dem lib. arb. geht hervor, daß der städtische "Salpetersieder" durch Amtseid zur Geheimhaltung des Pulverrezeptes verpflichtet war 329 ).

Zur Herstellung der Geschütze, des Geschoßmaterials und des Pulvers benötigte die Stadtobrigkeit natürlich zahlreiche Handwerksmeister. Der Rat war daher bestrebt, geschulte und erprobte Kräfte in feste Stadtdienste zu stellen und sie somit zeitlebens an Rostock zu fesseln. Im Jahre 1348 hören wir zum ersten Male, daß ein Balistenmeister mit Namen Eberhard in einem fest geregelten Dienst- und Lohnverhältnis zu der Stadtobrigkeit stand 330 ); im Jahre 1354 sah sich der Rat genötigt, einen zweiten "balistarius" anzustellen; im 15. Jahrhundert bildeten die "balistarii" und " sagittarii" ihrer großen Zahl wegen bereits ein besonderes Handwerkeramt 331 ). Weiter gehörte zu den fest besoldeten Waffenmeistern die wichtige Persönlichkeit des Pfeilsteckers oder "Luchtemakers"; dieser hatte vornehmlich den nötigen Vorrat an Brand-, Feuerpfeilen und anderen Geschoßarten herzustellen.

Das Aufkommen des Feuergeschützes bedingte neben den bereits genannten Kriegshandwerksmeistern die Bildung eines


327) M.U.B. 15 Nr. 9251.
328) W.R. 1424/25: "Item .. de bussenstene to halende van der kolen mole ..". W.R. 1454/55: ".. 1 slot vor de kameren, da dat bussenkrude unde salpetere ynne is."
329) Lib. arb. Fol. 42 b: "des salpeterssieders eidt. Ich gelobe unde schwore ... und in sondergen in dem mir bevohlenen ampte des salpetersiedens nach alter gebuhr verhalen."
330) M.U.B. 10 Nr. 6826; M.U.B. 12 Nr. 7422; M.U.B. 13 Nr. 7581, Nr. 7898; M.U.B. 14 Nr. 8200 usw.
331) Lib. arb. Fol. 18 a: "de balestariis et sagittariis."
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neuen Berufsstandes. Die Quellen des beginnenden 15. Jahrhunderts nennen zahlreiche städtische "bussenschutten", "bussenmester", "bussenghetere unde werkmestere". Die oft wechselnde Dienstbezeichnung Büchsengießer und Büchsenschützen für dieselben Personen, ferner ihre Verwendung als Werk- und Bussenmeister auf Zingeln, Stadtburgen und Fredeschiffen wie ihre Beschäftigung beim Büchsengießen beweisen, daß diese Waffenmeister gelernte Handwerker waren, gleichzeitig aber auch die Geschütze bedienten und "Artilleristen" im modernen Sinne waren 332 ).

Abgesehen von einem festen Jahressold, der für die einzelnen Bussenschutten und Waffenschmiede verschieden hoch war und sich wahrscheinlich nach der Tüchtigkeit und Dienstzeit richtete, empfingen sie Sommer- und Winterkleidung. Alle besonderen Dienstleistungen, wie z. B. ihre Tätigkeit als Geschützmeister auf den Wehranlagen, ihre Beteiligung und Aufsicht beim Gießen und Umgießen der "bussen", wurden ihnen besonders bezahlt 333 ). Die eigentlichen Bedienungsmannschaften der städtischen Geschütze waren unter der Oberleitung der Bussenmeister die zahlreichen Mitglieder des "Dregeramtes", die Stadt-Artilleriefahrer 334 ). Bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stellten die Träger aus ihren Reihen geeignete Mannen, die mit dem Transport und der Aufstellung der schweren Schleuder- und Wurfmaschinen bei den Belagerungen von Ritterburgen betraut wurden 335 ). Häufig wird in den Quellen erwähnt, daß von den "dregern" das auf dem Rathaus und dem späteren Bussenhaus aufbewahrte Geschützmaterial zu den Waffenmusterungen auf den Marktplatz gebracht wurde; mit neuen "bussen" zogen sie vor das Steintor, um die Rohre auf ihre Haltbarkeit zu erproben, "do de bussen worden beschoten, unde bussen buten stendore unde wedder in de stat to bringhende" 336 ). Daß die Mit-


332) G.R. 1422/23; W.R. 1440/41; W.R. 1442/43: "Item mattias deme bussenschutten 40 mr. syn lon, item bernde deme bussenschutten 10 mr. an syn lon, item hinrich luchtemaker 12 mr. syn lon." W.R. 1454/55. Ähnlich W.R. des 15. Jahrhunderts.
333) Vgl. Anm. 332.
334) B.G.R. Bd. 9 S. 47.
335) M.U.B. 13 Nr. 7898 (1354).
336) W.R. 1432/33; W.R. 1435/36; W.R. 1452/53: "... den dregheren de bussen up dat market to bringende unde wedder up dat hus." Ähnlich W.R. des 15. Jahrhunderts.
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glieder des Dregeramtes als Bedienungsmannschaften des städtischen Geschützwesens zu der "familia civitatis" gehörten, beweisen die jährlichen, wenn auch im allgemeinen nur geringen Soldzahlungen, ferner die Tatsache, daß sie wie alle fest angestellten Beamten und Stadtsöldner von der Pflicht des Schoßzahlens befreit waren 337 ).

§ 4.

Das Befestigungswesen.

Bereits im 13. Jahrhundert wurde den städtischen Wehr- und Verteidigungsanlagen von Ratsobrigkeit und Bürgerschaft große Bedeutung beigelegt. Die frühesten und häufigsten Ausgaben, die in den ältesten Stadtbuchfragmenten erwähnt werden, wurden für die Errichtung und Instandhaltung der Befestigungsanlagen gemacht 338 ). Strenge Verordnungen erließ die Stadtobrigkeit, um die Wehranlagen stets in Ordnung und kampfbereit zu erhalten. Verstöße hiergegen, wie z. B. die Errichtung von Bauten vor der Stadtmauer, wodurch ein gewaltsames und heimliches Eindringen in die Stadt erleichtert wurde, oder eine Beschädigung des Wallgrabens wurden streng geahndet. Wiederholt werden in den Gewettrechnungen Strafgelder "pro antimurano" gebucht 339 ). Der Rat legte beim Verkauf städtischer Grundstücke längs der Ringmauer Gewicht darauf, "ut in circuitu juxta murum fiat transitus eque latus", um eine sichere und schnelle Besetzung der Verteidigungsanlagen zu gewährleisten 340 ). War gelegentlich in früherer Zeit hiergegen verstoßen worden, so drang das


337) W.R. des 15. Jahrhunderts und G.R. des 15. Jahrhunderts; G.R. 1434/35; G.R. 1435/36; M.U.B. 20 Nr. 11741 (Schoßregister 1387): "Hans Clare, quitus datus, qui lator" und ähnlich; "lator" stets ohne den Vermerk einer Geldsumme.
338) Vgl. Anm. 216.
339) M.U.B. 22 Nr. 12748 (G.R. 1395): ".. 1 mr. pro antimurano". "Velkener 1 mr. pro ductu argille (Tonerde) de fossis civitatis" und ähnlich; G.R. 1408/09.
340) St.Fr. III, 6 (1278-1313) Fol. 5 a. Vgl. hierzu Anm. 115; M.U.B. 5 Nr. 3184.
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Ratskollegium bei Neu- oder Umbau darauf, daß seinen Anordnungen entsprochen wurde 341 ).

Ein klares Bild von der baulichen Entwicklung der Stadtumwehrung Rostocks geben uns vor allem die Rechnungen der Kämmereiherren, denen die Verwaltung der städtischen Schutz- und Verteidigungsanlagen übertragen war.

In ältester Zeit war die Befestigung Rostocks sehr primitiv und unvollkommen. Es ist daher wohl anzunehmen, daß die früheste Stadtumwallung, ein einfacher Plankenzaun und ein davor liegender Graben, kaum hinreichende Sicherheit bot. Hinzu kam noch, daß in den 70er und 80er Jahren des 13. Jahrhunderts die schützende Stadtgrenze noch im Fluß war und daß sich der Rat infolge der Vergrößerung des Stadtbezirkes gezwungen sah, eine Verlegung und Erweiterung des Plankenzaunes vorzunehmen 342 ). In den drei letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts vollzog sich mit der Errichtung einer steinernen Mauer eine wichtige Veränderung im Rostocker Befestigungswesen. Eine genaue Angabe, wann der Rat dazu überging, jenes hölzerne Palisadenwerk durch widerstandsfähigeres Baumaterial zu vervollkommnen, ist nicht vorhanden; jedenfalls wurde vor dem Jahre 1266, d. h. vor der Vereinigung der drei ursprünglich selbständigen Stadtkommunen, nicht damit begonnen. In den beiden folgenden Jahrzehnten wurden wahrscheinlich die letzten Erweiterungen der Stadt vorgenommen 343 ). Im Jahre 1270 ist zum ersten Male eine Stadtmauer bezeugt 344 ). Da in den Quellen mehrere Jahre hindurch (von 1270 bis etwa 1286) "planca" und "murus" erwähnt wird 345 ), kann man wohl annehmen, daß in einer längeren Übergangszeit die ursprünglich hölzerne Ein-


341) M.U.B. 5 Nr. 3184 (1307): ".. unum vach juxta murum ... deponetur ad vie latitudinem, et si cameatam aliquando deponi contigerit vel quocunque modo destrui, ... tantum relinquetur spacium, ut in circuitu juxta murum fiat transitus eque latus."
342) L. Krause, Zur Topographie Rostocks. S. 25 ff., vgl. daselbst Plan 2 (B.G.R. 13).
343) Krause a. a. O. S. 30, 35 ff.
344) M.U.B. 2 Nr. 1198: ".. intra muros ..".
345) Vgl. Anm. 344; St.Fr. 1262-72 Fol. 3 b: ".. hereditatem unam extra muros .."; M.U.B. 3 Nr. 1855 (1286): "Unum ortum extra plancas..".
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friedigung und die steinerne Mauer nebeneinander bestanden; denn zunächst wurden nur die am meisten gefährdeten Stellen und Tore durch festeres Steinmaterial ersetzt, da die Sperrung der Zugänge, der gesicherte Besitz der Stadttore von großer Wichtigkeit für die Verteidigung waren 346 ). Allmählich verdrängte dann die Stadtmauer den Palisadenzaun. Deutlich kann man die Fortschritte des Baues einer steinernen Ringmauer an den in den ältesten Stadtbuchfragmenten gebuchten Ausgaben für Steinmaterial, Zement und Kalk erkennen 347 ). Um 1300 umspannte wahrscheinlich ein einheitlicher fester Mauergürtel Alt-, Mittel- und Neustadt; jedenfalls ist in den Quellen und Stadturkunden, welche um diese Zeit die Stadtumwallung erwähnen, nur noch von "murus" die Rede 348 ). Ja selbst Tor und Mauertürme, wenn auch noch in geringer Zahl, umkränzten schon damals den Steinwall und verliehen Rostock das charakteristische Bild der befestigten und ausgeprägt kriegerischen Stadt des Mittelalters 349 ).

Vor den Toren gewährten alleinstehende Türme und Warten längs der städtischen Grenzmark außerhalb weilenden und flüchtenden Einwohnern ersten Schutz und sichere Aufnahme bei unerwarteten Überfällen 350 ).

Wie hohe Beachtung dem Ausbau und der Vervollkommnung der Stadtbefestigungen im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts vom Ratskollegium geschenkt wurde, bezeugen die Ratsrechnungen: Alljährlich werden von den amtierenden Kämmereiherren zum Teil recht beträchtliche Summen für den Mauerbau verwandt. Die Zahl der Handwerker, Maurermeister, Zimmerleute und Festungsbaumeister mit ihren "cumpanen", die vielfach in ein fest geregeltes Dienst- und Soldverhältnis traten, wuchs ständig 351 ).


346) M.U.B. 2 Nr. 1312 (1274): ".. apud portam antiquam lapideam .."; St.Fr. 1262-72: ".. apud stendor". (Vgl. Krause a. a. O. S. 31-32.)
347) M.U.B. 3 Nr. 1705 (1283).
348) M.U.B. 5 Nr. 2785, 2848, 2875, 3100 usw.
349) M.U.B. 3 Nr. 1626 (1280); Nr. 1778 (1297); Nr. 2256: "turrem juxta portam .." Ähnlich M.U.B. 5 Nr. 3196, Nr. 3401; M.U.B. 13 Nr. 7422.
350) L. Krause a. a. O. S. 68 f; M.U.B. 7 Nr. 4608.
351) M.U.B. 10 Nr. 6826; M.U.B. 13 Nr. 7422, Nr. 7581, Nr. 7898; M.U.B. 15 Nr. 9142, 9238 usw. K.R. des 14. und 15. Jahrhunderts.
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Es ist erklärlich, daß kriegerische Ereignisse den Ausbau der städtischen Wehranlagen besonders beförderten. Bezeichnend hierfür sind die Jahre 1311/12, in denen die Stadt vom Dänenkönig Erich und seinen fürstlichen Bundesgenossen bedroht wurde. Der Kampf, der sich unmittelbar vor Rostocks Mauern abspielte und zu einer Belagerung der Stadt führte, veranlaßte den Rat, die Verteidigungswerke zu verstärken: Während in Friedenszeiten die städtischen und geistlichen Ziegelhöfe das nötige Steinmaterial lieferten 352 ), mußten in diesem Augenblick drohender Kriegsgefahr auch die Bürger gegen städtische Schuldscheine Stein- und Baumaterial für die Befestigungen zur Verfügung stellen 353 ); ja selbst vor dem Abbruch von Privathäusern und Kirchen scheute die Stadtobrigkeit nicht zurück 354 ).

Für die Sturmabwehr wurden die verschiedensten Sicherheitsmaßregeln getroffen: Häufig werden in den Ratsrechnungen des 14. und 15. Jahrhunderts "Rennebäume" und "Fußangeln" erwähnt 355 ); an wichtigen Verkehrsstraßen finden wir bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts neben anderen Vorbrücken "velbrugghen" 356 ). Das Kröpeliner und Steintor werden mit ständigen Wacht- und Beobachtungsposten versehen. Überhängende Wehren, die verhindern sollten, daß die Angreifer sich den Toren und Fallgattern näherten, sind


352) Vgl. S. 94 Anm. 347; L. Krause a. a. O. S. 65 f. (Anhang, "Ziegelhöfe").
353) M.U.B. 11 Einleitung u. Nr. 7199.
354) M.U.B. 7 Nr. 4399: ".. et funditus destructam turrim divi Petri et templi in Warnemundo et ibidem propugnaculum edificatum ex lapidibus"; St.Fr. II, 6 Fol. 1 a: "triangulus Modenhorst fractus fuerit."
355) St.Fr. II, 6 (1313-15) Fol. 2 a: "pro lignis, que ... accepit hameyden (Schlagbaum) in aggere molendinorum constructa ..."; M.U.B. 10 Nr. 6826: "pro instrumentis ferreis, ceris, cathenis et compedibus undique et circumquaque ad valvas .."; M.U.B. 13 Nr. 7581: "... subtili fabro pro compedibus, cathenis et seris faciendis et reformandis .." Ähnlich M.U.B. 13 Nr. 7898; M.U.B. 15 Nr. 9107; M.U.B. 19 Nr. 11247; Sch.R. 1439/40: ".. vor votanghele .." In den R.R. des 15. Jahrhunderts heißt es ständig: "to den ronnebomen, pale to settende by den ronnebomen" und ähnlich.
356) M.U.B. 10 Nr. 6826: "... pro pontibus sancti Petri dictis velbrugghe et aliis 2 pontibus .. et valva molendinorum et ponte velbrugghe ibidem et aliis antipontibus ibidem reficiendis."
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nur für das Kröpeliner Tor nachweisbar, wie heute noch an den Balkenlöchern und den zu ihnen führenden Ausgängen zu erkennen ist.

Die technische Vervollkommnung des Belagerungs- und Sturmgerätes, das Aufkommen der Fern- und Feuergeschütze während des ausgehenden 14. Jahrhunderts, ferner die zunehmende Besorgnis vor fürstlichen Anschlägen auf die städtische Freiheit veranlaßten das Ratskollegium, das Befestigungssystem weiter auszubauen: Die längeren Linien der Stadtmauer wurden in kürzeren Abschnitten mit Wikhäusern und weiteren Türmen versehen, die eine seitliche Bestreichung der benachbarten Mauerabschnitte und gleichzeitig wegen ihrer Höhe den Schützen die Schußwirkung in größere Entfernungen ermöglichten. Der besseren Übersicht halber seien hier kurz die in den Ratsrechnungen erhaltenen Notizen über die verschiedenen Wikhäuser im Auszug wiedergegeben:

  1. 1391 ".. in quodam wichhus sitam in Rammesbergk".
  2. 1421 ".. dat wykhus af to nemenden by de Butzeba (= Turm).
  3. 1434 ".. to den wikhusen achter dem vrowekloster".
  4. 1459 ".. dat wichhus to makende vor deme bramowe dore" 357 ).

Ferner lassen die häufigen Ausgaben für die einzelnen Stadttore, die Kernpunkte der Verteidigungsanlagen, erkennen, daß die wichtigen Zugänge zum Teil burgartig ausgebaut und mit Vorwerken versehen wurden 358 ). Ebenso fällt das Erbauungsjahr der noch heute erhaltenen Mauertürme, des Bussebar und des Rammersturm, in dieselbe Zeit 359 ).


357) K.R. der mitgeteilten Jahre; K.R. 1391 (M.U.B. 22 Nr. 12269); wiederholt werden in den Ratsrechnungen des 15. Jahrhunderts "wichhuser" erwähnt, ohne daß man erkennen kann, wo diese errichtet waren.
358) K.R. 1437/38: "De rynghele ... vor de stendor." G.R. 1437/38: ".. tor borch, de de steyt vor deme bastouve dore." K.R. 1447/48: ".. up de borch vor sante petere dame." Ähnlich K.R. 1446/47 usw.
359) Vgl. Anm. 357; G.R. 1431/32: "in deme busenbare ..". W.R. 1455/56: "dat wichhus af to nemende upe deme rammersberghe .. den torm to buwende. Summa 695 Mark 12 sol.".
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Einen wesentlichen Fortschritt in dem Befestigungssystem bedeutete die Anlage der Zingel in dem ausgehenden 14. und im Anfang des 15. Jahrhunderts. Schon lange genügten die einzelnen vorgeschobenen Türme und Warten (vgl. S. 94 Anm. 350) nicht mehr; sie wurden daher schon früh niedergerissen. Vor dem alten Mauerring wurde eine zweite Verteidigungslinie, der Zingelgraben, angelegt, der das engere Weichbild Rostocks umschloß 360 ). An wichtigen Straßenübergängen wurden feste Durchlässe mit Wehren und Zugbrücken errichtet, "repugnacula" oder "tzinghele", wie sie in den Quellen genannt werden 361 ).

Wann mit dem Bau der Zingel vor den einzelnen Stadttoren begonnen wurde, ist wegen des lückenhaften Urkundenmaterials nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Ihre Entstehungszeit darf man wohl bald nach der Mitte des 14. Jahrhundert zurückdatieren, da die "propugnacula" des Stein- und Bramower Tores im Jahre 1380 als bereits vollendete Befestigungsanlagen erwähnt werden 362 ).

Während die schweren Abwehr- und Verteidigungsgeschütze nur in beschränktem Maße in der älteren und engeren Verteidigungslinie aufgestellt wurden, fanden sie im Anfang des 15. Jahrhunderts vornehmlich auf den brückenkopfartigen Zingeln Verwendung und verhinderten durch Feuerwirkung in die Ferne, daß sich die Gegner der Stadtmauer näherten 363 ). Zum Teil scheinen den Zingeln noch weitere vorgeschobene Sperr- und Wehranlagen als Außenzingel vorgelagert gewesen zu sein, wie aus einem Berichte des Jahres 1487 hervorgeht 364 ).


360) M.U.B. 19 Nr. 11247 (K.R. 1380): "Item .. ad circumfodiendum agrum civitatis. Item pontificandum pontem inter valvam Bramowe et repugnaculum. Item ad reparandum valvam ante valvam lapideam prope murum civitatis et repugnaculum." Ähnlich M.U.B. 21 Nr. 11919.
361) Vgl. Anm. 360; K.R. 1416: "item propugnaculum valve Kropelin .. ad structuram repugnaculi ..". K.R. 1413/14: "item propugnaculum am St. Petri-, Bramower- und Schwaanschen Tor." Ähnlich K.R. 1425/26; 1426/27; 1430/31 usw.
362) Die genaue Lage der Zingel vgl. Krause a. a. O. S. 68 ff.
363) K.R. 1430/31: ".. de vlogelle to bewerden (in Wehr setzen = nd. Wörterb. Schill. u. Lübb.) up de singelen." Ähnlich K.R. 1437/38; W.R. 1434/35: "item den werkmestern 1 mr. to berghelde, do se de singelen wakende 5 nachten." Ähnlich G.R. 1413/14 usw.
364) "Van der Rostocker veide" S. 4: "do warth angesticket de butenste Singel."
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Der Erwerb fester Pfandschlösser und die Errichtung von Stadtburgen bedeuteten ebenfalls eine wichtige Erweiterung des städtischen Verteidigungssystems. Die Befestigungen Rostocks erstreckten sich nunmehr durch die "Außenforts" weit über den eigentlichen Stadtbezirk hinaus. Von unschätzbarer militärischer und wirtschaftlicher Bedeutung waren die an wichtigen Straßenkreuzungen und Verkehrswegen gelegenen Ortschaften Tessin, Sülze, Göldenitz, Pastow, Bandelstorf und "Zakesdorf". Leicht konnten kleinere Besatzungstruppen von diesen militärischen Stützpunkten aus die Zufahrtsstraßen beobachten und unerwartete Angriffe eine Zeitlang aufhalten. Gleichzeitig boten die Außenforts eine sichere Operationsbasis und Zufluchtsstätte und waren außerdem als befestigte Lagerplätze für die Unterbringung von Munition und Proviant geeignet.

Eine wie große militärische Bedeutung diesen Stützpunkten, für deren Verstärkung und Ausbau wiederholt in den Stadtrechnungen Ausgaben gebucht sind, vom Rostocker Ratskollegium beigemessen wurde, geht vor allem daraus hervor, daß gelegentlich recht beträchtliche Opfer für den Erwerb einzelner Ortschaften gebracht wurden. So kaufte die Stadtobrigkeit Stadt und Vogtei Tessin von den Moltkes auf Strietfeld für 1500 Mark Rostocker Pfennige 365 ). Fest angestellte und gut besoldete Vögte, die auf den Stadtburgen gelegentlich sogar Mitglieder des Ritterstandes waren, übten die Kommandogewalt über die Besatzungstruppen aus. Geschütze und Kriegsmaterial wurden zur Erhöhung der Widerstandskraft auf den städtischen Außenforts in Stellung gebracht.

In welchen Jahren die einzelnen Ortschaften dem Ratskollegium "geöffnet" wurden oder in festen Stadtbesitz übergingen, wann sie zu militärischen Stützpunkten ausgebaut und mit Wehranlagen ausgestattet wurden, läßt sich nicht für alle mit Sicherheit angeben. Wie bereits in anderem Zusammenhang (Söldnerwesen S. 76) erwähnt, wurde Stadt und Vogtei Sülze bereits im Jahre 1389 mit Rostock durch einen lebenslänglichen Dienst- und Soldvertrag des Knappen Hartwig Bulle verbunden und das "Öffnungsrecht" der Ratsobrigkeit


365) Schlie, Die Kunst- und Geschichtsdenkmäler des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin, Bd. 1 (1), S. 401 ff.; (2), S. 411 ff. (Geschichte der Stadt Tessin).
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damit eingeräumt. Wahrscheinlich wurde seitdem vom Rostocker Rat dieses Vorrecht nicht wieder aufgegeben, jedenfalls hören wir aus dem Jahre 1413, daß Rostock in Sülze Soldtruppen unterhielt 366 ). 1424 wird der "borchwarer tor zulten" zum ersten Male bezeugt. Wiederholt finden wir in den Ratsrechnungen der folgenden Jahrzehnte Ausgaben für die dortigen Burgvögte, Besatzungstruppen und Befestigungsanlagen 367 ). Im Jahre 1413 wird das Dorf Pastow in den Quellen genannt 368 ); da es jedoch in den folgenden Jahren nicht mehr erwähnt wird, darf man wohl annehmen, daß seine militärische Bedeutung nur gering war. Im Jahre 1420 ging Stadt und Vogtei Tessin durch Kauf mit landesherrlicher Bewilligung in Rostocker Besitz über, erst 10 Jahre später bezeugen die Ratsrechnungen "den voghede to tessin". Eine Erneuerung des Kaufvertrages fand im Jahre 1443 statt 369 ). Über die Art der Befestigungsanlagen wie auch über die Stärke der Besatzungstruppen der "borch zakestorpe", die im Jahre 1429 "ghebuwet wart", geben die Quellen keinen Aufschluß 370 ). Etwa um dieselbe Zeit wurde das Stadtdorf Göldenitz mit Verteidigungsanlagen ausgestattet und zu seiner Verwaltung ein Burgvogt in städtische Dienste genommen. - Wahrscheinlich haben wir in der "bei Göldenitz gefundenen Burgstelle" 371 ) die letzten Ruinen des Rostocker Außenforts aus dem 15. Jahrhundert zu erblicken. - Von nur geringer militärischer Bedeutung war allem Anschein nach "bandemerstorpe", da es in den Stadtrechnungen nur zweimal erwähnt wird. Vor allem läßt die Dienstbezeichnung "bomwarer" im


366) G.R. 1413/14: "Item soldenatoribus missis in sulte 4 mr. ex iussu proconsulum."
367) Sch.R. 1424/25: "Item deme borchwarer tor zulten." Ähnlich G.R. 1427; Sch.R. 1429; Sch.R. 1430 usw.
368) G.R. 1413/14: ".. pro 2 armborsten .., dat ene is to warnemunde, altera pastow .. et pyle ad usum civitatis ..".
369) Vgl. S. 98 Anm. 365; G.R. 1430: "dem voghde to tessin"; G.R. 1437/38: ".. to tessin, do dat buwette wart bezeen." W.R. 1440/41: "den werkmesteren, do se leghen .. to tessin." Ähnlich K.R. 1449/50; W.R. 1441/42; G.R. 1430/31; lib. comput. S. 68 usw.
370) G.R. 1429/30: "Item do her herman herwich reysede myt der stat knechte to zakestorpe, do de borch wart ghebuwet."
371) M.J.B. 51 S. 120; 48 S. 292. W.R. 1424/25; Sch.R. 1429: "deme manne uppe de borch to goldenisse"; Sch.R. 1430: "deme borchwarer to gholdenitze." Ähnlich K.R. der folgenden Jahre.
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Gegensatz zu der sonst üblichen "Burgvogt oder Burgwahrer" darauf schließen, daß es sich um eine nur kleine Wehr- und Sperranlage handelte 372 ). Art und Lage der 1448 erwähnten "tessenowe borch" ist unbekannt 373 ), wie auch die der Burg in Rövershagen 374 ).

Diese weit vorgeschobenen Stützpunkte und Außenforts dienten in erster Linie der städtischen Sicherheit nach der Landseite hin; wichtiger aber als sie alle war der Hafenort Warnemünde, der Lebensnerv für den gesamten Seehandel und Schiffsverkehr Rostocks. Häufig richtete sich im Kriegsfall der Angriff der Feinde gerade auf Warnemünde, um durch Sperrung des Hafens, durch Unterbindung jeglicher Aus- und Einfuhr Rostocks Widerstandskraft zu brechen. Die wiederholten Zerstörungen, die ständige Wiedererrichtung von Sperrtürmen und sonstige Wehranlagen, die heftigen Kämpfe um Warnemünde während des 14. und 15. Jahrhunderts kennzeichnen die militärische Bedeutung, die Warnemünde beigemessen wurde. Nicht eher ruhten Rat und Bürgerschaft, als bis mit dem Fall und der Schleifung der Dänenburg 1323 die Warnowmündung frei wurde und der Hafenort in festen Stadtbesitz gelangte 375 ).

Dem Ausbau des Hafens wie den zu seiner Sicherung angelegten Befestigungen wurde seitdem die größte Aufmerksamkeit von der Stadtobrigkeit gewidmet: Die Aufsicht über Warnemünde bildete einen besonderen Zweig der städtischen Verwaltung; die Bewohner von Warnemünde wurden in der Mitte des 14. Jahrhunderts durch eine besondere Ratswillkür verpflichtet, unentgeltlich zu der Errichtung von Schutz- und Wehranlagen beizutragen und ihre Verteidigung zu übernehmen 376 ). Ebenso hatten die Bauern der Stadtdörfer mit ihren Spann- und Fuhrdiensten, "zu denen die umherliegenden Dorfschaften nach altem Herkommen verpflichtet waren" 377 ),


372) Sch.R. 1431: "Item deme bomwarer to bantemerstorpe." W.R. 1454/55: ".. vor en armborst uppe de molen to bantemerstorp."
373) G.R. 1448/49: "Item .. to murende to tessenowe borch."
374) G.R. 1411/12: "Item carpentatoribus ad burgum in rovershagen laborantibus ..".
375) Die Befestigungen Warnemündes von E. Dragendorff (B.G.R. III, 3 S. 69 ff.).
376) M.U.B. 14 Nr. 8696 (1359).
377) v. Maurer a. a. O. S. 491.
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zu der Erbauung und Verstärkung der Warnemünder Schutzwehren beizutragen 378 ). Wiederholt weilten Bürgermeister und Ratsherren in Warnemünde, um sich von dem Bau und der Instandhaltung der dortigen Burg zu überzeugen 379 ).

Trotz der spärlich fließenden Quellen des 14. Jahrhunderts kann man wohl annehmen, daß bald nach der Zerstörung der Dänenburg der Warnemünder Leuchtturm mit den nötigen Sperr- und Schutzanlagen umgeben wurde 380 ). In der Ratswillkür vom Jahre 1359, welche die einzelnen Dienstpflichten der Warnemünder festsetzt, tritt uns unzweifelhaft zum mindesten die Absicht des Rostocker Rates entgegen, zum Schutz des Hafenorts Befestigungen zu errichten "ad structuram et custodias propugnaculorum". Bereits in der Kämmereirechnung vom Jahre 1352 heißt es: "subtili fabro pro compede et cera in Warnemunde"; ebenso unterscheidet die Gewettrechnung 1395 ausdrücklich Ausbesserungsarbeiten an dem Bollwerk, dem Leuchtturm und solche an anderen Anlagen und Wehren 381 ). Erst sehr spät - im Jahre 1412 - wird einwandfrei das Vorhandensein eines "propugnaculum" bezeugt 382 ).

Das lückenlose Material der Stadtrechnungen des 15. Jahrhunderts gestattet uns ein klares Bild von der Entwicklung der Warnemünder Befestigungen. Um 1420 wurden die veralteten Wehranlagen niedergerissen und an Stelle des "propugnaculum" eine neue Burg errichtet 383 ). Nach einer Zerstörung der dortigen Burg im Jahre 1430 durch Herzogin Katharina ging die Stadtobrigkeit dazu über, ein weit aus-


378) Vgl. Anm. 376.
379) Vgl. Anm. 383.
380) Entgegen der von Dragendorff vertretenen Ansicht, daß im 14. Jahrhundert noch keine Befestigungen erbaut seien (vielleicht weil es sich Fürst Heinrich im Kaufvertrag 1323 ausbedungen hatte), geht aus den angeführten Stellen hervor, daß zweifellos schon damals Befestigungen - wenn auch nur unbedeutende - in Warnemünde vorhanden waren.
381) M.U.B. 13 Nr. 7895 (1352); M.U.B. 15 Nr. 9126; M.U.B. 22 Nr. 12748.
382) G.R. 1412/13: ".. pro 1 baliste in warnemunde .. ad propugnaculum in warnemunde."
383) G.R. 1421/22: "Item do de borgemestere .. radmannen unde de .. weddemesteren to warnemunde wesen to besinde, de borch dale to nemende. Item de spogeborch dale to nemende ff."
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gebautes Festungssystem anzulegen. Jahrzehnte hindurch werden von den amtierenden Gewettherren zum Teil recht beträchtliche Summen gebucht, die für die "nyge borch, grote borch, vogedie, perdestalle", Wallgraben, Schlagbäume und sonstige Anlagen bezahlt wurden 384 ).

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384) G.R. 1431/32: "... unde to der borch to warnemunde, do de stal gerichtet wart .." ff.; G.R. 1433/34; G.R. 1436/37; G.R. 1437/38: "to warnemunde .. tor groten doren tor borch, .. tor nyen borch .., do de borch wart gerichtet, to deme perdestalle unde tor borch" ff. - Ähnlich G.R., W.R., K.R. von 1430 bis 1450. - Im Jahre 1437/38 (G.R.) beliefen sich die Ausgaben für Warnemünde auf etwa 630 Mark, im Jahre 1439/40 auf mehr als 550 Mark.
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II.

Leonhard Christian Sturms
religiöse und kirchliche Stellung.

Nach Briefen in der Staatsbibliothek Berlin

von

Theodor Wotschke.

Vignette
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D er Schweriner Baudirektor und Kammerrat ist in der einschlägigen Literatur wohl bekannt. Gurlitt nennt ihn in seiner Geschichte des Barockstils und Rokokos in Deutschland "den wissenschaftlichen Vertreter der norddeutschen protestantischen Hochrenaissance vor ihrer Befreiung aus spießbürgerlicher Befangenheit durch Schlüter". Seine Verdienste besonders um den protestantischen Kirchenbau sind verschiedentlich gewürdigt, seine Arbeiten über die Grundrißbildung der evangelischen Gotteshäuser als bahnbrechend anerkannt 1 ). Auch seine theologischen Schriften haben schon die Unschuldigen Nachrichten, die erste theologische Zeitschrift, seit 1713 rezensiert, den Streit, den sie hervorriefen, hat bereits 1724 Johann Georg Walch in seiner Einleitung in die Religionsstreitigkeiten außer der ev.-lutherischen Kirche (VI, 190) skizziert. Aber was Walch und die Unschuldigen Nachrichten bieten, gibt doch von der religiösen Eigenart und der theologischen Stellung unseres Mathematikers und Architekten nur ein ganz blasses Bild. Vornehmlich unter Verwertung seiner Briefe an August Hermann Francke, den Vater des hallischen Pietismus, die die Staatsbibliothek Berlin besitzt, wollen wir es in klareren Farben zeichnen.

In Altdorf, wo er am 5. November 1669 als Sohn des Professors der Mathematik und Physik Joh. Christoph Sturm 2 ) geboren ist, stand unser Sturm schon als Kind, dann seit 1683 auch als Student unter dem Einfluß des Freundes seines


1) Vgl. O. Sommer, Der Dombau in Berlin. Westermanns Monatshefte 1890 S. 370 ff.; Der Kirchenbau des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart. Herausgegeben von der Vereinigung Berliner Architekten. 1893 S. 74 ff.; Mecklb. Jahrb. 56 (1891) S. 241; Schlie, Denkm. II, S. 578, und III, S. 292, und den wertvollen Artikel in der Allgem. deutschen Biographie.
2) W. Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg S. 512, nennt Joh. Christoph Sturm einen der namhaftesten Physiker seiner Zeit und meldet, daß die Leucorea ihn 1691 gern als Lehrer gehabt hätte.
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Elternhauses, des Professors der Logik Georg Paul Rötenbeck 3 ), eines tief religiösen Mannes, der, von der herrschenden Kirchlichkeit nicht befriedigt, sich der Mystik zugewandt hatte, dann auch mit Spener und Francke Verbindung suchte, aber auch mit den englischen Enthusiasten, besonders ihrer Prophetin Jane Leade, Beziehungen anknüpfte, für den Chiliasten und Schwärmer Petersen sich erwärmte, mit dem Mystiker Friedrich Breckling in Holland korrespondierte, zu dem Sporergesellen Rosenbach, diesem Propheten und Wanderapostel, sich bekannte, ja schließlich sogar Johann Michaelis sich näherte, diesem schroffsten aller Separatisten, der Pietisten und Orthodoxe in gleicher Weise verdammte, babylonische Hurenchristen schmähte und eine eigene neuapostolische Gemeinde gründen wollte. Die Eindrücke, die Sturm von Rötenbeck, diesem Freunde des radikalen Pietismus, gewann, waren bestimmend für sein Leben. Sie haben ihn, den Mathematiker und Architekten, zu fleißigem Studium der Bibel und steter Beschäftigung mit theologischen Fragen geführt und von vornherein zu einem Gegner des herrschenden Geistes gemacht, zu einem Parteigänger der Stürmer und Dränger, die in der Kirche Babel sahen und bekämpfen zu müssen meinten. Rötenbeck war es auch, der ihn auf Christian Thomasius, den ideenreichen Bannerträger einer neuen Zeit, hinwies. Er ging zu ihm nach Leipzig, besuchte ihn auch in Halle, als 1694 hier die Universität eröffnet wurde. Bei dieser Gelegenheit empfahl ihn der Jurist Stryk einem Wolfenbüttler Minister, der seine Berufung in eine Professur an der dortigen Ritterakademie veranlaßte.

Sein warmes religiöses Interesse führte Sturm zum Besuch nach Quedlinburg, wo, wie man höhnte 4 ), "die Spenerschen Kreaturen jetzt vollbrachten, was einst Christian Hoburg, dem Erzschwärmer, nicht gelungen war". Zwar die Tage waren vorüber, da hier die Magd Magdalene Elrich Verzückungen hatte und täglich von Hunderten aufgesucht und angestaunt wurde und da der Goldschmied Kratzenstein ärgerliche Händel


3) Über Rötenbeck vgl. Wotschke, Neue Urkunden zur Geschichte des Pietismus in Bayern, Zeitschrift f. Bayrische Kirchengeschichte 1931 S. 40 ff. Petersen, Lebensbeschreibung S. 285: "Sonderlich habe ich mich an dem H. Professor Rötenbeck erquickt, dessen gleichen ich wenig gefunden, der ein rechter Nathanael und Israelit war, in dem kein Falsch zu finden."
4) Beschreibung des pietistischen Unfugs S. 103.
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verursachte und auf die innere Stimme Gottes sich berief. Aber war auch die schlimmste Schwärmerei überwunden, der enthusiastische Geist war in der alten Stiftsstadt doch noch nicht gebrochen. Noch wirkte hier der Hofdiakonus Sprögel 5 ), der mit allen Neuerern in Verbindung stand, samt seiner Frau mit dem Theosophen Gichtel in Amsterdam korrespondierte, sein Haus zu einer Sammelstätte von Phantasten und Enthusiasten machte, noch lebte hier Gottfried Arnold 6 ), der Mystiker und Kirchenhistoriker, dem die Weltförmigkeit der Kirche, ihre Gebundenheit an den Staat, ein Greuel war, noch schrieb hier ihre erbaulichen Traktate Frau Anna Katharina Scharschmied, die Freundin der Gedankenwelt eines Jakob Böhme und Valentin Weigel, und der Stiftshauptmann Stammer mit seiner Frau, der warmen Verehrerin und Herzensfreundin August Hermann Franckes, hielt seine schützende Hand über Pietisten, Mystiker, Separatisten. Wir verstehen es, daß Sturm, voll von religiösen Fragen, zur Aussprache gern in Quedlinburg einkehrte, hier im Kreise der Erweckten sich so wohl fühlte, aus ihm sich auch die Lebensgefährtin wählte, Ludmilla Katharina, die Tochter des Quedlinburger Rektors Samuel Schmidt. 1700 schrieb und widmete er dem Herzoge Rudolf August "Zehn kurze Betrachtungen über die Offenbarung Johannis"

Mit August Hermann Francke war er bisher noch nicht in Verbindung getreten, da bot sich ihm dazu im Sommer 1701 Gelegenheit. Er hörte, daß der hallische Theologe selbst auf ihn aufmerksam geworden sei und seine Dienste zum Besten seines Waisenhauses wünsche. So schrieb er denn Wolfenbüttel, den 13. Juni, an ihn. Auffälligerweise redet er ihn Doktor an. Er muß also nicht gewußt haben. daß Francke diese akademische Würde verschmäht hat.


5) Sprögels Verbindung mit Spener und Francke ist bekannt. Schon 1692 sehen wir ihn auch bei Joh. Heinr. Horb in Hamburg. Dieser unter dem 7. Okt d. J.: "H. Sprögel aus Quedlinburg ist bei mir gewesen und wir haben vom jetzigen Zustand unserer Kirche viel Vertrauliches geredet. H. Sprögels Relationes von allen Begebenheiten mit Rosamunde (der Prophetin Petersens) und ihren Schwestern habe vernommen, auch gehört, was Royens hin und wieder wahrgenommen. Heut kommt auch die Frau Schwartz (Franckes Debora), und ist ein Brief aus Moske an mich kommen an Wolters, daß ich hoffe, ihn selbst bald zu sprechen."
6) Quedlinburg, den 23. Mai 1698, G. Arnold: "Wir haben hier immer Gelegenheit, an Leade zu schreiben. Wofern zuweilen etliche Zeilen zu senden beliebte, wollte ich es treulich bestellen."
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"Nachdem ich herzlich gewünscht, mit meinem H. Doktor bekannt zu werden und bereits lange Zeit nach Gelegenheit dazu getrachtet, hat mir diese H. Legationsrat Alexander gewährt, als er mir zu verstehen gegeben, wie mein H. Doktor Verlangen trüge, daß ich mit meinen wenigen Anschlägen zu der Holzkahrung in dem Waisenhause einigen Beitrag tun möchte. Hierauf habe länger nicht verschieben wollen, zu der längst verlangten Bekanntschaft mir einen Eintritt durch gegenwärtige Zeilen zu machen mit Vermelden, daß es mir eine innige Freude sein wird, mit einigen Diensten, sie seien so gering, als sie wollen, etlicher Maßen die ungefälschte Liebe und Hochachtung an den Tag legen zu können, die ich aus meines H. Doktors christlichen Schriften gegen ihn geschöpft und bisher aufrichtig behalten habe. Nun bin ich willens, gegen den Anfang des Monats Juli nach Gottes Willen mit meiner Ehefrau über Halle eine Reise nach Altdorf zu tun, meinen lieben alten Vater in diesem Leben noch einmal zu sehen. Alsdann werde nicht ermangeln, meinem geehrten H. Doktor persönlich meine Dienste anzutragen und zugleich möglichst zu erweisen, wie ich nach meinen Kräften unter Anrufung göttlicher Hilfe beflissen sei, einen Freund nach den alten Regeln des wahren Christentums abzugeben in der Hoffnung, Sie werden mich dann in Dero werteste Freundschaft aufzunehmen kein Bedenken tragen. Ich will auch gleich itzo erweisen, wie ich zu Ihrer Aufrichtigkeit ein großes Vertrauen habe. Ich eröffne, wie der liebe H. Meier 7 ), ehemaliger Generalsuperintendent, vor drei Tagen mich Unbekannten mit seinem ganz unvermuteten Besuche geehrt und erfreut hat und im Vertrauen gemeldet, daß er von H. Generalsuperintendenten D. Fischer 8 ) aus Halle den Auftrag habe, sich zu erkundigen, ob ich wohl gesonnen wäre, hiesige professionem matheseos mit der zu Halle zu vertauschen. Weil ich nun


7) Bartholomäus Meier (1645-1714), Professor in Stettin, Generalsuperintendent in Wolfenbüttel, hier 1692 seines Amtes entsetzt, weil er das Dekret wider den Pietismus nicht unterschreiben wollte, 1694 Pastor in Hage (Ostfriesland). Über seinen Briefwechsel mit Francke vgl. Wotschke, Pietistisches aus Ostfriesland, Zeitschrift für niedersächsische Kirchengeschichte 1930, S. 77.
8) Joh. Fischer (1637-1705), Superintendent in Sulzbach, 1674 Generalsuperintendent in Livland, 1701 durch Speners Vermittlung in Magdeburg. Doch hat er die Berliner Pietisten stark enttäuscht.
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außer diesem keine weiteren particularia von ihm erfahren können, habe ich meinen H. Doktor hiermit dienstlich und im Vertrauen ersuchen wollen, was hiervon etwa wissend sein möchte, mir zu eröffnen. Ich melde aber und bekenne, daß, wenn es Gottes Wille wäre, ich ganz wohl geneigt wäre, solche Veränderung einzugehen. Und dies würde die vornehmste Ursache sein, als mein Gott weiß, über die wahre Theologie und Auslegung der h. Schrift mehr Konversation zu haben, als ich hier finden kann. Denn sonst ist mir bereits die Professur der Mathematik in Frankfurt a. O. angetragen worden, und möchte ich wohl genötigt werden, bald darauf eine endliche Resolution von mir zu geben. Wäre es nun an dem, daß meine wenigen Dienste in Halle verlangt würden und mir eine sichere Besoldung könnte gemacht werden (die ich höchst nötig habe zu meinem Unterhalt, weil ich nichts gesammelt habe, auch inskünftig nicht groß zu sammeln geflissen sein werde, damit ich es mit Auszahlung der Besoldung auf die lange Bank könnte verziehen lassen), so bekenne ich, mehr Neigung zu diesem als zu dem ersteren Orte zu haben. Doch will ich ganz ruhig Gottes Schickung abwarten, dem es gedankt sei, daß ich hier eine schöne Besoldung, vergnügliches Auskommen und eine gnädige Herrschaft habe und mich über nichts mehr zu beklagen habe, als über Mangel gottgefälliger Gesellschaft und Zeitverkürzung in der Konversation."

Leider hören wir nicht, was Francke ihm für Aussichten hat eröffnen können, vernehmen auch nichts, wie wohl sich Sturm in Halle im Gedankenaustausch mit Francke, Freylinghausen, Wiegleb, Elers u. a. gefühlt hat. Jedenfalls blieb Sturm von nun an in Verbindung mit dem hallischen Waisenvater, sandte ihm auch bald zur Beurteilung seine Gedanken über den Schöpfungsbericht der Bibel, die er niedergeschrieben hatte. Als Francke sie ihm mit einigen anerkennenden Worten zurückschickte, dem Paket auch Arznei, Essentia dulcis, die das Waisenhaus bekanntlich bis nach Rußland hin vertrieb und um die unser Architekt gebeten hatte, beilegte, antwortete er unter dem 6. Mai 1702:

"Was meinem H. Gönner beliebet hat, von meinen wenigen Gedanken zum ersten Kapitel der Genesis zu urteilen, hat mich recht empfindlich ergötzet. Es wird mir zur Aufmunterung dienen, unermüdet in der Furcht Gottes

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solche tentamina zu machen. Ich bedaure aber, daß meine gar vielen Geschäfte, so mir von meiner Profession obliegen, nicht so viel Zeit dazu vergönnen, als erforderlich ist, solche zufälligen Gedanken ordentlich et non tumultuarie zu Papier zu bringen, hernach wohl zu überlesen und mit einigen Zierden äußerlicher Rede zu verbessern. Noch mehr aber schmerzt mich, daß ich noch niemanden erlangen können, der meine Gedanken frei zu beurteilen annehmen möchte. Denn vielen, die es im Besitz reicher geistlicher Gaben tun könnten, auch aus Begierde nach Erbauung gern tun möchten, darf ich es wegen ihrer häufigen wichtigen Amtsgeschäfte nicht zumuten. Anderen fehlt es an der wahren, von Schultheologie unbefleckten Gelehrsamkeit, anderen an dem Willen, mit dergleichen Dingen sich einzulassen, anderen an der Aufrichtigkeit in Entdeckung ihrer Meinung usw. Deswegen laß ich den lieben Gott und sein selbständiges Wort lediglich meinen Lehrmeister sein und erwarte in Geduld, ob und wann es ihm gefallen wird, in diesem Leben mich zu einem recht festen Grund gelangen zu lassen. Ich werde aber meines H. Professors Rat gar gern befolgen und nicht allein diese Arbeit bei mir behalten, sondern auch die, welche nach ihr über die Offenbarung angefangen und horis succisivis nach und nach auszuführen gedenke, wenn mir Gott wie bisher Gnade und Segen dazu verleihen will. Ich nehme mir aber die Freiheit, auch von diesen geringen Gedanken einige Bogen zu übersenden mit der dienstlichen Bitte, wenn es ohne Beschwernis sein kann, sie etwas durchzusehen und mir mit wenigen Worten Ihre Bedenken frei zu entdecken. Ich habe zwei Hypothesen, eine de fundamento inveniendi termini, a quo chronotaxis apocalypticae, die andere de capite apocalypseos primo tum de verbo Dei hypostatico, domino nostro Jesu Christi, tum vero simul de verbo scripto tanquam effigie eius intelligendo, welche den meisten fremd vorkommen möchten, bekenne aber, daß ich noch nichts wichtiges dawider gesehen. Übrigens wünsche ich wohl sehnlich, wenn Gott es mir nützlich befindet und es sein gnädiger Wille wäre, an einem solchen Orte zu leben, da ich eine Gesellschaft haben hönnte, die mit mir in dergleichen Gesprächen einen Zeitvertreib zuweilen haben könnte. An hiesigem Orte ist der Mangel solcher Gesellschaft sehr groß."

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"Für die übersandte Arznei danke dienstlich. Ich habe erst am verschiedenen Sonnabend sie zu gebrauchen anfangen können, weil ich die Beschreibung derselben nicht eher bekommen konnte. Ich kann also von ihrer Wirkung noch nichts zulängliches berichten. Doch versichere ich, daß ich bereits spüre, wie die bisherige Müdigkeit in den Gliedern durch Gottes Segen ziemlich nachgelassen. Damit ich nun mit kontinuieren und sie zugleich nebst meiner Frau gebrauchen könne (welche fast gleiche Krankheit zu bekommen scheinet, weil wir beide einige Jahre her, ehe wir uns in die gütigen Gerichte Gottes ein wenig schicken lernen, große Angst und Traurigkeit über zeitliches Ungemach mit einander ausgestanden haben), so bitte, für mitkommenden Preis mir aufs eheste noch zwei Lot, doch jedes apart in einem Gläschen. damit nicht alle Tage so oft geöffnet werden dürfte, zu übersenden. Das Lot, das ich habe kommen lassen, ist bereits über die Hälfte verbraucht. Wir haben einer Nachbarin, die schon zwei Tage in Kindsnöten laborietet, eine gute Quantität davon abgegeben. Zehn Stunden hernach ist sie auch eines lebenden Kindes durch Gottes Beistand glücklich genesen. Über dieses gebe ich sie noch meinem kleinen Söhnlein, welches, als es auf die Welt kommen, oben an der Nase von der Wehemutter mag zu hart gedrückt sein und von derselben Zeit an immerdar Verstockung an solchem Orte hat."

"Weil ich nun auch weiß und sehe, daß der gütige Gott Armen zum Besten meinem H. Professor viel schöne und rare remedia contra morbos vel desperatos zuweist, ich aber nun in die drei Jahre nebst meiner Profession zu einem unschuldigen Zeitvertreib die Medizin doch nur autodidaxi studiere, doch nur soweit, als einem Hausvater dienlich und sicher sein mag, den Seinigen und Armen in Notfällen vernünftig beispringen zu können, so ersuche dienstlich, wenn mein H. Professor etwa eine oder andere Deskription non inter maxime arcana hat, mir ohne Beschwernis davon etwas zukommen zu lassen. Ich verheiße davor sancte, 1) wenn es begehrt wird, ohne dessen Konsens es niemandem weiter zu eröffnen, 2) weder Ehre noch Geld von den Menschen dadurch zu suchen, sondern 3) alles mit Gebet und Behutsamkeit 4) allein Gott zu Ehren mir, den Meinigen und anderen Notdürftigen ohne alles Entgelt auszuspenden.

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Den gedruckten Bogen vom Gebrauch der Arznei bitte dienstlich mit zuschicken."

Welches Urteil hat Francke über die ihm zugesandte Arbeit über die Offenbarung gefällt, in der Sturm eigene Wege gegangen ist, wie er erklärt, von der Schultheologie sich nicht hat beeinflussen lassen? Gewiß hat er ihrer Veröffentlichung dringend widerraten. Sie mußte neuen Streit entzünden, Widerspruch hervorrufen, und Francke haßte das theologische Gezänk. Sodann hatte er zu befürchten, daß man ihn vielleicht für Sturm und seine Exegese verantwortlich machen, ihm den theologisierenden Mathematiker und Architekten anhängen würde, und seine Rechtgläubigkeit war von orthodoxer Seite, den Wittenbergern, ohnehin bestritten. Noch 1702 nahm Sturm den Ruf nach Frankfurt an, um an der Viadrina die Mathematik zu lehren. Stadt und Universität waren hier von dem neuen religiösen Leben ganz unberührt, noch weniger als in Wolfenbüttel fand Sturm hier einen Kreis, mit dem er religiöse Fragen besprechen konnte. Er fühlte sich fremd, und als Fremdling wurde er auch angesehen. Studenten und Bürgern fiel der Gegensatz bald auf, in dem er zu dem ganzes Lehrkörper und dem Geiste der Hochschule stand. Sie merkten, daß ein Feuer in ihm brannte, von dem die anderen nichts wußten, und mancher fühlte sich gerade zu ihm und in sein Haus gezogen 9 ). Aber was Frankfurt ihm nicht bieten konnte, war in Berlin zu haben, das damals ja mehr und mehr eine pietistische Stadt wurde. Dort suchte er auch seinen Kreis. Hat er noch um Speners Freundschaft geworben und in seinem Hause verkehrt? Ich weiß es nicht. Aber wir sehen ihn bei dem, in dessen Händen damals alle Fäden, die der Pietismus


9) Der Buchdrucker Winterberger in einem undatierten Briefe: "Ich sitze hier in Frankfurt a. O. und mache ein halblutherisch und halbcalvinisch Gesicht. Denn hier sitzen die Friedemacher, die unsere Religion mit der ihrigen concilieren wollen. Dr. Strimesius ist der vornehmste. Der Zustand hiesiger Universität ist konfus. Wenn H. Professor Sturm nicht hier wäre, bei dem ich logiere und bereits vergangenen Montag nebst des rectoris magnifici Frau und einem Professor medicinae seinem neu geborenen Kinde zu Gute in öffentlicher Kirche Vicegevatterstelle vertreten habe, so hätte ich hier nichts verloren. Mit den Studiosis kann ich hier nicht umgehen, es sind meistens Debachanten. Ich habe aber schon Bekanntschaft unter den Herren Professoren und ihren Weibern gemacht, die mich als einen gereisten jungen Gesellen gar ehrlich halten." Staatsbibliothek Hamburg, sup. epist. Quartband 28, Bl. 339.
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in Berlin spann, zusammenliefen, bei dem Freiherrn von Canstein, dem Verehrer Speners, dem Freunde Franckes. Auch mit den mancherlei Schwärmern, die damals in Berlin Boden zu gewinnen suchten, ich denke an Dippel 10 ), Rosenbach, Klein, Nikolai, Sebach, wird er Verbindung gesucht, mit dem Superintendenten Lange in Prenzlau, der um seines Pietismus willen aus Altdorf hatte weichen müssen, alte Bekanntschaft erneuert haben. Freiherr von Canstein meldet unter dem 27. Februar 1706: "H. Professor Sturm von Frankfurt ist hier. Er erbietet sich auf alle Art und Weise mit großer Treue Ihrem Pädagogio zu dienen in Präparierung eines Subjekts, das bei ihm mathesin wollte lernen. Er ist ein sehr fähiger Mann und hat einen guten Grund", d. h. doch, er wurzelt fest im rechtschaffenen Wesen in Christo, wie man sonst in pietistischen Kreisen sagte. Und am 2. Juni 1708 meldet der Freiherr: "H. Sturm hat an H. Elers verschiedentlich geschrieben, daß er nach dem Tode seiner Frau die professionem mathematicam zu Halle mit ebendem wenigen Gehalt annehmen und die jetzige in Frankfurt fahren lassen wollte."

Also hatte er seine Frau verloren. Nach nur dreizehnjähriger Ehe hatte sie ihre Augen geschlossen. Schon nach zwei


10) Berlin, den 15. Juni 1707, v. Canstein an Francke: "Dippels Schrift wollte mit dieser Post übersenden, allein, wie ich vernehme, haben Sie sie schon gelesen. Als ich sie gelesen, war ich überzeugt, daß sein Gemüt nicht von der geringsten Furcht Gottes gebunden und daß er nicht ein viel geringeres Gericht als D. Mayer (Professor und Generalsuperintendent in Greifswald) über sich zieht. Sehr vielen ist er hierdurch offenbar geworden, und glaubt man, er werde nicht mehr lange sich hier aufhalten können. Ihm darauf zu antworten, werden Sie nicht nötig finden. Denn er sucht nur mit Ihnen in Streit zu kommen. Ich halte es hier für meine Pflicht, Sie in Halle zu warnen vor einem Menschen Pupping, einem sonderen discipulus von Dippel, ob er wohl hier bei H. Winckler vorgibt, daß er seine Prinzipien verläßt. Wo ich recht habe, haben Ew. Hochw. ihn vor einigen Jahren an mich empfohlen. Er hat hier Dinge getan, die eine rechte Tiefe der Bosheit an ihm zeigen, und sind sie schändlich zu sagen. Wenn mit ihm nach weltlichen Rechten allein gehandelt würde, sollte er eine häßliche Belohnung zu gewarten haben, und alles dessen ist er klar überführt. H. Winckler ist vor ihm gewarnt, allein er nimmt sich seiner an und meinet, er habe ihn auf bessere Wege gebracht. Die Wahrheit davon soll er mit seinem Schaden erfahren." Den folgenden 22. Juni: "Ich fürchte für den Grafen von Lippe, welcher in Dippels Händen. Ich habe ihn darüber gesprochen, aber ohne Frucht. Gott erhalte ihn auf seinen Wegen!"
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Monaten ging er eine neue Verbindung ein mit der jüngsten Tochter seines Lehrers Rötenbeck. Natürlich erregte diese schnelle Heirat großes Aufsehen und starken Anstoß, und auch wir finden es heut befremdlich, selbst wenn wir seine Vereinsamung in Frankfurt, die ihn nach dem Tode seiner frommen Frau aus dem Quedlinburger Pietistenkreis doppelt drückte, berücksichtigen, erwägen, daß er in seines frommen Lehrers frommen Tochter einen vollen Ersatz für seinen Verlust zu finden hoffte. Um noch einen religiös angeregten, theologisch gebildeten Hausgenossen zu haben, der zugleich seine Kinder zum rechtschaffenen Wesen in Christo führe, schrieb er zugleich an Francke wegen eines Kandidaten der Theologie. Am 1. Juli 1709 stattete er ihm seinen Dank ab, daß er ihm einen solchen geschickt:

"Nachdem ich nunmehr meine, den Herr Cäsar sattsam erkannt zu haben, und er verhoffentlich mein und meines Hauses Wesen auch genugsam wird angesehen haben, kann ich nicht umhin, meinem H. Professor herzlichen Dank für die mit Sendung dieses lieben und erwünschten Menschen erwiesene Liebe abzustatten. Der grundgütige Gott hat gewißlich seine Hand in dieser Sache mit gehabt, indem dieser liebe Mensch sich sehr gut schickt, meine beiden Kinder zu Gott zu führen. Derselbe wolle meinem Herrn Professor davor wiederum hundertfältige Liebe und reichen Segen widerfahren lassen, mir und meinem Hause aber die Gnade gewähren, daß wir den werten Mann zu seiner selbsteigenen Vergnügung lange bei uns behalten. Ich werde ihm nicht nur die versprochene Station nebst jährlich 10 Taler bar Geld leisten, sondern auch außerordentlich nach meinem geringen Vermögen gutes tun. Zur Abzahlung dessen, was ich der Apotheke des Waisenhauses schuldig bin, habe ich sichere Anstalt gemacht."

Von seinen Bemühungen, auch in Frankfurt das zur Geltung zu bringen, was ihm innerste Herzenssache war, lesen wir in seinem Briefe an Francke vom nächsten 22. November. Da er ihm wieder eine religiöse Schrift zur Beurteilung übersendet, schreibt er nämlich:

"Ich nehme mir die Freiheit, hierbei die primitias meiner Erklärung von dem allein guten Weg zum wahren Christentum zuzuschicken und mir eine geneigte, aber frei-

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mütige Zensur darüber auszubitten. Wenn meine Hauptabsicht damit auf den öffentlichen Nutzen an anderen Orten wäre gerichtet gewesen, möchten vielleicht alle meine Entschuldigungen in der Vorrede nicht statt genug finden, dadurch ich mein redliches und von der Eigenheit befreites Absehen zu behaupten bemühet bin. Ich kann aber wohl versichern, daß meine Begierde überaus groß ist, einigen sensum pietatis in hiesige Stadt zu bringen, hingegen der Widerstand noch viel größer sich bezeiget, nichts Gutes hereinzulassen, daß nicht nur jedermann sich fleißig hütet, Speners, Franckes, Schades, Freylinghausens und dergleichen Bücher ja nicht zu lesen, sondern auch die Buchführer, sie ja nicht an sich zu handeln und einzuführen. Darum habe vor der Hand kein besseres Mittel gefunden, als mit dergleichen Schrift, die einen Titel von der Sache führet, davon jetzt so viel Redens und Deliberierens ist, die hier ganz unbekannte, obschon sonst im Christentume zuvorderst stehende Vermahnung zur wahren Buße ein wenig unter die Leute zu bringen. Wenn ich nun ansehe, wie viel ein so gar geringes Werkzeug bereits hier an einigen Seelen gewirket und was für große Bewegung eine einige Predigt von dem lieben H. Lange 11 ) angerichtet, so werde ich gänzlich überzeugt, daß der liebe Gott auch hier noch einen guten Acker verborgen hat, und bete deswegen mit den Meinigen immerdar, daß uns Gott doch, der gütige Vater, einen Lehrer nach seinem Herzen, sonderlich aber einen redlichen Inspektor verleihen wolle. Gewißlich hoffte ich sodann, weil hier der ganz rohen Sünder eine viel größere Menge als an anderen mir bekannten Orten, daß auch die Bekehrung hernach desto stärker werden möchte. Denn gemeiniglich sind solche Leute noch eher zu bekehren als die Werkheiligen. Kann demnach mein geehrter Herr Professor samt anderen lieben Männern Gottes in Berlin 12 ) etwas ausrichten, unserem in der Seelenpest fast geistlich ausgestorbenen Frankfurt einen oder mehrere gute Seelenärzte zu bringen, so wollen Sie gewiß glauben, daß Ihre Mühe von Gott sehr gesegnet sein wird. Meine und der Meinigen Seelen würden dadurch sonderlich gute


11) Joachim Lange (1670-1744), Rektor in Köslin und 1698 Berlin, seit 1709 Professor in Halle, oder Joh. Mich. Lange in Prenzlau.
12) Francke weilte damals mehrere Wochen in Berlin.
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Hilfe finden, weil es uns fast unerträglich fällt und fast unmöglich, in dieser allgemeinen Not unangesteckt zu verbleiben. Mein geehrter Herr Professor wolle mir zu gut halten, daß ich mich so frei äußere. Die übrigen beikommenden Exemplare bitte H. Porst 13 ) und nach Belieben anderen Freunden Gottes zu geben und Ihre Urteile mir zu eröffnen. Dem Herrn Hofprediger Porst bitte ich auch mich bestens zu empfehlen."

Seine Bemühungen, dem Pietismus in Frankfurt Boden zu gewinnen, seine herbe und scharfe Kritik der Predigten, die er hörte. und der kirchlichen Einrichtungen, sein Fernbleiben von Beichte und Abendmahl brachte ihn in Zerwürfnis mit der Geistlichkeit der Stadt. Schalt er die Pastoren unbekehrt, meinte er aus ihrer Hand das Abendmahl nicht nehmen zu dürfen, löste er sich also von der Gemeinde, so verhingen sie über ihn den Kirchenbann. Darauf beschloß er, sich hinfort zu den Reformierten zu halten. Ist seine jetzt radikalere Stellung zur lutherischen Kirche und ihren Pastoren durch seine Frau, die Rötenbecksche Tochter, beeinflußt? Oder erklärt sie sich durch seine Verbindung mit Dippel oder anderen Schwärmern, die den Ausgang aus Babel predigten? Am 2. Februar 1711 setzt er Francke von seinem Konfessionswechsel in Kenntnis:

"Seit dem Tage, da ich Sie das erstemal gesehen und predigen hören, habe ein so wunderbares Vertrauen zu Ihnen als einem von dem Herrn recht freigemachten Mann gefaßt und habe mich darin nach genauer Konversation nicht betrogen gefunden. Weil ich nun versichert bin, daß zwischen denen kein Hauptdissidium sein kann, die von einem Geist der Liebe und der Wahrheit getrieben werden, und ich mich versichert halte, daß mein jetziges Tun aus demselben Trieb geht, so habe für gut befunden, meinem geehrten Herrn Professor ein höchst wichtiges, aber noch bis dato in meinem Herzen verborgenes Vorhaben zu entdecken des festen Vertrauens, wenn ich darin durch die Tücke meines Herzens sollte auf unrechte Wege geführet sein, daß durch Ihre liebreiche und gründliche Gegenvorstellung ich auf die rechten Wege wieder geführet werde. Ja in alle Wege recht behut-


13) Johann Porst (1668/1728), 1698 Pastor in Malchow bei Berlin, 1704 in Berlin selbst, 1709 Hofprediger der Königin, 1713 Propst von Nikolai.
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sam zu gehen, habe eben dieses Schreiben noch an einen gottseligen Theologen, zu dem ich großes Vertrauen habe, ergehen lassen 14 ). Ich muß aber die Sache, wie man redet, von vorn anfangen. Wie ich hier über die Artikel von der Exorcismo, Beichtstuhl und Abendmahl mit den Predigern der lutherischen Gemeinde in Streit geraten und wie sie mich darüber quasi als extorrem ab ecclesia gnesios lutherana erkläret haben, wird aus beikommendem Manuskript zu ersehen sein. Ich habe aber seitdem nicht nur diese Artikel hiesigen reformierten Theologen überreicht, sondern auch ihnen eröffnet, wie ich nebst dem erstlich wirkenden und suffizienten allgemeinen Gnadenberuf aller Menschen auch den darauf bei denen, die solchen nicht annehmen, teils und partikulariter nach der freien Wahl Gottes erfolgenden Beruf erkenne, der nach 1. Kor. 1, 16 nicht viel Weisen nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltigen, nicht viel Edlen widerfährt. Dieselben aber haben sich mit mir in diesem allen zu konsentieren erklärt. Da ich nun vermerket, wie meine Absonderung von der hiesigen lutherischen Kommunion (dabei ich bei so bekannten Sachen ohne grobe beiderseitige Heuchelei nicht habe bleiben können) Irrung an meiner Person gemacht, anbei erwogen, daß ich als ein civis imperii Romani doch verbunden bin, mich zu einer öffentlichen Gemeine zu bekennen und ratione doctrinae mich unvermerkt der reformierten näher als der lutherischen, an dieser aber ratione praxeos christianismi keine mehreren scandala als an jener gefunden, habe ich nicht nur Neigung bekommen, mich zu dieser zu bekennen, sondern sie auch nach langem herzlichem Gebet und bei stetem Wachsen des inneren Menschen eine lange Zeit her beständig behalten. Die eine Sorge hat mich noch immer zurückgehalten, daß manche glauben möchten, ich hätte zeitliche Absichten dabei. Anitzo aber kann ich diesen Gedanken leicht begegnen, halte auch, es werde mein Herr Jesus bald durch das Kreuz zu erkennen geben, daß ich in dieser Sache nach der Überzeugung und Aufrichtigkeit meines Herzens gehandelt habe. Dennoch ehe ich losbreche, will ich erst erwarten, ob mein


14) An Gottfried Arnold? Ob dieser, wenn er nach Berlin gekommen ist, auch den Weg nach Frankfurt nicht gescheut und Sturm aufgesucht hat?
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hochgeehrter Herr Professor mir nicht etwa kräftige Ursachen dagegen einzuwenden habe, die ich als ein redlicher Mann beachten und als vor Gottes Angesicht zur Leitung meines Gewissens prüfen werde 15 )."

Was riet ihm Francke? Er schwieg. Nach einem halben Jahre unter dem 7. September 1711 schrieb ihm darauf Sturm:

"Wenn ich auf allerhand Umstände genau sehen wollte, müßte ich fast in Sorge geraten, daß die Entdeckung meines Gewissens und die wichtige Frage, die ich an meinem geehrten Herrn Professor getan, dessen Vertrauen und Liebe gegen mich cito nicht aufgehoben, doch gemindert habe. Wie ich mir aber einer ganz ungefälschten und ungeänderten Liebe gegen ihn bewußt bin und nach derselben stets das Beste hoffe, so schlage ich mir auch obige Gedanken wieder aus dem Sinn. Zu gegenwärtigem Schreiben aber gibt mir dieses Anlaß, daß H. Cäsar mich auch verlassen will und ganz unvermutet in beikommendem Schreiben seine Entlassung von mir verlangt. Meist den ganzen Sommer her bis auf wenige Tage war ich willens, nach seinem mir eröffneten Verlangen ihn mit meinem Sohne diese Michaelis nach Halle zu schicken, da er nichts von alledem gedacht, was er nun in diesem Schreiben vorbringt. Kurz aber vorher, ehe er dieses an mich geschrieben, hatte ich ihm eröffnet, daß nach langer und reifer Überlegung ich bis dato noch nicht für praktikabel finden könne, meinen Sohn nach Halle zu schicken. Ich wollte aber nach aller Möglichkeit, diesen Winter über es einzurichten suchen, daß es, so Gott uns Leben und Vermögen verleihe, auf künftige Ostern vor sich gehen könnte. Es hat mir zwar dieser gute Mensch neulich einmal gesagt, daß er sich hier fast nicht mehr tauglich finde, meinem Sohne mit der Information länger vorzustehen, weil der Knabe in den Sprachen und in der Erkenntnis der


15) In einem Nachtrage schreibt Sturm noch: "In dem beikommenden Manuskript werden sich 20 alte Dritteil finden für die trankebarische Mission. Ich hatte Ihnen wie bewußt ein mehreres zugedacht, aber es hat sich eine Notdurft gefunden, auch in dem armen Prenzlau eine Charität zu erweisen, sonst aber in meinem Vermögen für dies Mal sich nicht mehr gefunden als noch zwanzig solche Stücke. Wenn Gott mehr bescheret, werde ich auch mit mehrerem den lieben Aposteln unseres Herrn mit freudigem Herzen dienen."
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Lehre Christi so weit komme, daß er scheine, einen in den Sprachen, sonderlich in der lateinischen und auch in der Theologie gelahrteren Informator nötig zu haben. Da mir aber dieser Mensch gar lieb ist wegen seiner sonderbaren Aufrichtigkeit gegen Gott, habe ich lieber meinen Sohn etwas versäumt wissen und bloß bei der Wiederholung des bisher Gelernten bleiben lassen wollen, als jenen entlassen. Nachdem er aber nun seine Dimission so inständig fordert, kann ich sie ihm nicht versagen, bin aber wegen meiner armen Kinder und auch wegen meines Gesindes sehr verlegen, die er alle willig unterwiesen und sie auch alle in Liebe gern Unterweisung von ihm angenommen. Demnach würde mein geehrter Herr Professor mir eine sehr große Liebe erweisen, wenn Sie mir an Ihrem Orte wieder einen gottesfürchtigen, in der hebräischen und griechischen Sprache, wie auch in elegantia stili latini wohl geübten Menschen ausmachen und sobald als möglich hieher senden wollten 16 ). Ich will ihm neben der freien Station das Jahr noch 24 T. und noch 6 T. an Weihnachts- und dergleichen Geschenken geben, so lange mir Gott die Mittel lässet, die er mir bisher gegeben."

Der Grund, weshalb Hauslehrer Cäsar Sturms Haus verlassen wollte, war wohl dessen Übertritt zur reformierten Kirche und der Anstoß, den sein Hausherr damit weiten Kreisen gegeben hatte. Auf Grund von Verhandlungen, die Herzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg seit dem November 1710 mit Sturm gepflogen, und nach seiner Ernennung zum Oberbaudirektor am 27. März 1711 war er nach Schwerin übergesiedelt 17 ). Den mißlichen Verhältnissen in Frankfurt und


16) Schwerin, den 29. November 1711, meldet Sturm Francke, daß der neue Informator Domke bei ihm eingetroffen sei. "Er steht mir zur Zeit noch sehr wohl an, zweifle auch nicht, Gott werde an ihm meines Herrn Professor Liebe und meine gute Intention segnen und mich die Freude an ihm erleben lassen, die ich an den vorigen beiden Herren Runge und Cäsar gehabt, beides gute Schüler der hallischen Gottesgelahrtheit. Meines H. Professor Anmerkungen über meine Schrift wider das Frankfurter Ministerium und über die Frage von meiner Änderung der Gemeinschaft der äußerlichen Kirche erwarte mit Freude und Begierde. Weil bei dieser Gelegenheit H. Prof. Lange mir seine Schrift von der Absonderung zugestellt, habe dadurch Anlaß genommen, mich gegen ihn noch freimütiger auszulassen."
17) Vgl. Jahrb. 56 (1891), S. 241.
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dem bösen Streite mit den dortigen Geistlichen war er damit entrückt, er hätte abwarten können, wie in Schwerin sich die Pastoren zu ihm stellen würden. Der erste Geistliche Schumann war ja hier auch nichts weniger als ein Eiferer für die reine Lehre und gegen den Pietismus. In dem Briefe vom 7. September 1711, der schon aus Schwerin geschrieben ist, bemerkt denn Sturm auch: "Der neue Präzeptor findet hier an dem H. Superintendenten Schumann einen genuinen Schüler Speners und bei den übrigen Predigern zum wenigsten gute äußerliche Gaben." Aber in seinem radikalen Pietismus seit Jahren gewöhnt, in der offiziellen Kirche mehr oder minder Babel zu sehen, zum Indifferentismus geneigt, durch das Entgegenkommen der Frankfurter Reformierten gelockt, ratione praxeos christianismi, wie er oben schrieb, keine mehreren scandala bei den Reformierten findend als bei den Lutheranern, hatte er doch den entscheidenden Schritt getan, war er zur reformierten Kirche übergetreten und hatte seine Gründe in einer kleinen Schrift zu rechtfertigen gesucht. Natürlich hatte er damit auch in seinem neuen Wohnort die Geistlichen wider sich aufgebracht. Den 7. April 1712 schrieb Hermann Kütemeyer an den Dresdener Superintendenten Löscher, einen der Führer der Orthodoxie und Herausgeber ihrer Zeitschrift, "der Unschuldigen Nachrichten":

"Ein vornehmer Mann hiesiger Stadt, der vor diesem Professor der Mathematik zu Frankfurt gewesen, nun aber hier Oberbaudirektor worden, hat eine schändliche Schrift bei hiesigem Buchdrucker drucken lassen, die ich Ew. Hochw. hiermit übersende. Ich habe mir vorgenommen, tecto nomine sie zu widerlegen, auch schon verschiedene Dinge zusammengetragen. Wollten Ew. Hochw. Ihre Gedanken und Anmerkungen mir auch davon mitteilen, wird es mir sehr lieb sein."

Doch stammt wohl nicht aus seiner Feder die Widerlegung, die wir in den Unschuldigen Nachrichten 1713 S. 82-96 finden unter dem Titel: "Eines zu den Calvinisch-Reformierten Abgefallenen ausgebreitete Skrupel nebst kurzer Beantwortung derselben" 18 ). Nach dem Beiwort hat die Skrupel eine Gemeinde,


18) Wittenberg, den 9. April 1714, Wernsdorf an Löscher: "In dem ersten Stück der Unschuldigen Nachrichten von 1713 finde ich einige Motive, so ein Ungenannter eingeschickt, wodurch ein gleichfalls Ungenannter ad religionem nostram cum calviniana per- (  ...  )
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doch wahrscheinlich Sturm selbst unter fingiertem Namen zur Widerlegung eingereicht 19 ). "Dieser Mann setzt uns täglich sehr zu und machet viele irre, weil wir des Disputierens unerfahren sind und an einem geringen Orte leben, da wir keine mächtigen Theologos an der Hand haben. Er spricht uns immer vor, wie er nichts in der Theologie leiden könne, als was nervös, kurz und doch einfältig ohne intrikate Schulwörter gesetzt sei. Alles weitausschweifige Wesen, sonderlich wenn viel scholastische Distinktionen vorkämen, seien gewisse Anzeigen von Lügen und der falsch berühmten Kunst." Die lutherischen Pastoren hatten bald auch weiteren Grund, über Sturm zu klagen. Um ihn, auch in seinem Hause, scheinen sich gesammelt zu haben die Separatisten, Chiliasten, die hie und da zerstreut sich auch in Mecklenburg fanden. Die orthodoxe Landesuniversität mit ihrem Haupte Johann Fecht 20 ), die ortho-


(  ...  ) mutandam soll bewogen worden sein. Ich weiß nicht, ob Ew. Magnif. eine nähere Kenntnis davon haben. Wo nicht, will ich damit dienen." Welcher Geistliche Schwerins mag Wernsdorf unterrichtet haben? Dann meldet er unter dem folgenden 26. April: "Der, so durch die in den Unschuldigen Nachrichten refutierten Motive sich zum Calvinismus verleiten lassen, ist der vormalige Professor der Mathematik in Frankfurt, der vor zwei Jahren in das Mecklenburgische gezogen, daß also vermutlich einige aus Schwerin, wo nicht gar die Prediger diese Motive an Ew. Magnif. eingesandt haben werden. Die Motive sind sonst vorher im Druck herumgegangen, und ist gut, daß sie so nervös widerlegt werden. Übrigens ist wahr, daß der Mann in theologia maxime polemica keine Fundamente hat. Über dies gehts ihm wie anderen Mathematikern, daß sie alles abmessen und umzirkeln wollen. Praeterea plus ingenii quam iudicii habet. Mag auch ein schlechter Historicus sein, weil er glaubt, Arnold habe die Historie wohl geschrieben."
19) Vgl. Unschuldige Nachrichten 1716 S. 886.
20) Fecht, einst Freund Speners und auf dessen Verwendung 1690 nach Rostock berufen, war allmählig ein entschiedener Gegner des Pietismus und seiner Vertreter geworden und hat dann verschiedentlich gegen seine Anhänger die Feder gespitzt. Rostock, den 20. Dez. 1705, schreibt er an den Gothaer Kirchenrat Cyprian: "Quae vindiciarum specimina adversus Arnoldum edidi, accepisti. Nec posthac cessabo, si vires mihi vitamque concesserit Deus, donec a monstris, quae iisdem obiectavit Arnoldus, purgavero. Quo attentius ad huius hominis allegata doctorum testimonia respicio, eo magis animus exhorrescit, cum inter centena non facile reperiatur unum, quod bona fide sit adductum. Fama est, successurum esse Spenero Arnoldum. Neque mihi incredibilis res ista videtur, si indolem ministrorum aulae Prussicae intueor. Nolunt, ut pro certo mihi relatum est, unionem illam ecclesiarum approbare vel Breitscheidius vel (  ...  )
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doxe Geistlichkeit des Herzogtums hatte doch vereinzeltes Einströmen der neuen religiösen Welle nicht hindern können 21 ). Rötenbeck hatte 1708, kurz bevor er seine Tochter unserem Baudirektor zur Frau gab, an den Babelstürmer Michaelis nach Altona geschrieben: "Ich wünschte, ich hätte das Glück, Sie in Person auf etliche Wochen zu sprechen, aber mein Alter, Amt und die Ferne des Weges wollen es nicht leiden." Sollte jetzt nicht Sturm, mit seinem Schwiegervater in der religiösen Überzeugung ganz eins, hinübergeflogen sein nach dem nahen Altona, eine seiner vielen Dienstreisen dorthin ausgedehnt haben, um dort den fast 80jährigen Greis kennen zu lernen, der seit dreißig Jahren Babel den Kampf angesagt hatte und ein "apostolisches Christentum" predigte? Sollte er nicht die Freunde des Schwärmers in Mecklenburg aufgesucht und den Verkehr mit ihnen gepflegt haben, bei denen der hochbetagte Separatist seinen Lebensabend zubringen zu können gemeint hat? 22 ) Jedenfalls sehen wir den herzoglichen Baudirektor in Verbindung mit einem der bekanntesten Vertreter des Radikalismus, mit Johann Konrad Dippel, dem Christianus Demokritus. Als dieser aus Altona flüchten mußte, nahm er ihn in sein Haus auf 23 ). Doch wohnte er damals schon nicht mehr in Schwerin, sondern in Rostock.


(  ...  ) Breithauptius, ea vero gratissima res est Arnoldi, ut hoc quasi passu ad omnis religionis indifferentiam procedere possit. De Petersenio, quae fama circumferat, deque centurione Pensylvano ciusque uxore filioque nec tibi erit ignotum. Prophetissa illius Asseburgica inter domesticos est Arnoldi."
21) Den pietistischen Wolfenbüttler Generalsuperintendenten Meier sehen wir 1692 in Mecklenburg. Vgl. Wotschke in der Zeitschrift für niedersächsische Kunstgeschichte 1930, S. 108.
22) Michaelis am Sonntage Jubilate 1707 ex Patmo (Altona) an Joh. Heinrich May in Gießen: "Ich reiste verwichenen Sommer im Mecklenburgischen und Holsteinischen bei den Holländern als meinen alten Bekannten herum in Meinung, ob ich bei ihnen den wenigen Lebensrest zuzubringen eine Stelle finden könnte. Weil aber mit Noä Taube ich nicht fand, da mein Fuß ruhen konnte, kam wieder nach Altona, sitze noch, so lange Gott will. Gott wird sich ja endlich meiner erbarmen und mir Armem heraushelfen." Er hat doch noch über zehn Jahre darauf warten müssen. (Hamburger Staatsbibliothek sup. epist. Bd. XV, Bl. 180 ff.)
23) Hamburg. den 18. Mai 1715, Dormann an May: "H. D. Dippel hält sich anitzo hier auf als Kanzleirat J. K. Maj. von Dänemark und ist mein nächster Nachbar und wird seine Bekanntschaft von vielen gesucht, auch so gar einigen unseres Ministerii, die er aber nicht zulassen wollen, da er sonst keine Schwierigkeit (  ...  )
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Im Jahre 1714 erschien "Leonhard Christoph Sturms, mecklenburgischen Kammerrats und Baudirektors mathematischer Beweis von dem h. Abendmahl, daß 1) die Worte der Einsetzung nie recht aus dem Griechischen übersetzt worden, 2) an der Art, wie es von den Lutheranern gehalten wird, viele Punkte nicht so indifferent, als man bisher angegeben, sondern höchst schädlich und gefährlich sein". Nicht "das ist mein Leib", sondern "dergleichen ist mein Leib" müßten die Einsetzungsworte übersetzt werden, die Beichte vor dem Mahl zeige zehn Mißstände, die Darreichung des Sakraments selbst zwei, das Brot würde nicht gebrochen, Hostien, Oblaten wie von dem römischen Antichristen gebraucht. Wie ein Kampfruf wirkte in der theologischen Welt die Schrift, die die reformierte Abendmahlslehre und -zeremonien rechtfertigen wollte. Allenthalben erhoben sich sofort Streiter, um den Mecklenburger Baurat zurückzuweisen. In Hamburg tat's der berühmte Polyhistor Johann Albrecht Fabricius und der Pastor an der Michaeliskirche Ernst Mushardt. Als Philologe untersuchte jener vornehmlich die Sturmsche Exegese: "Mathematische Remonstration, daß Sturm seine neue Erklärung der Worte der Einsetzung nicht bündig demonstriert hat", als Pastor verteidigte dieser die abgelehnten Ordnungen und Zeremonien: "Etwas wider Sturms in seinem prätendierten Beweise von dem hl. Abendmahl angeführte Gründe". Beiden antwortete der Baurat 24 ) und beide auch wieder ihm. Auch der immer


(  ...  ) macht, sich sprechen zu lassen, wenn er nicht mit dem Laborieren beschäftigt ist. Er redet aber sehr wenig. Wie ich vermute, sucht er Gold, obgleich er eine Medizin gefunden anitzo, und unsere Herren Pastoren suchen solches gleichfalls bei ihm, als deren zwei den Namen haben, daß sie ihr Äußerstes tun, den lapidem zu finden, H. D. Heimson, der auf alle Dinge kurios ist, und H. Pastor Winckler." Dann unter dem 30. April 1718: "H. Dippels Aufenthalt ist ungewiß. Einige wollen vermuten, er lebe in Rostock bei H. Sturm, andere vermeinen, er sei in Bremen bei H. General Willing." Staatsbibliothek Hamburg, sup. epist. XIII, Bl. 191 ff.
24) Gegen Fabricius schrieb Sturm: "Fernere Ausführung und Versicherung, daß er seinen Beweis von dem h. Abendmahl so abgefasset, daß er sich einiger gründlichen Widerlegung nicht bedürfen darf." Er hat die Schrift wie die meisten anderen kleinen Streitschriften im Selbstverlag herausgegeben. Fabricius setzte ihr entgegen: Antwort auf H. Sturms fernere Ausführung, Hamburg 1714.
Gegen Mushard ließ Sturm ausgehen: Völlige Verantwortung seines mathematischen Beweises vom H. Abendmahl gegen Mushards sehr leicht befundenes Etwas und gegen Fabricius' 61 übel ange- (  ...  )
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auf dem Posten stehende Hamburger Zionswächter Sebastian Edzardi, der unermüdliche Streiter für die Orthodoxie, den Wernsdorf gern als Professor neben sich in Wittenberg gehabt hätte, spitzte seine Feder, diesmal fast noch schärfer als sonst. Unter dem Decknamen Pragemann veröffentlichte er: "Brandmale des Sturmschen Gewissens nebst beigefügtem Beweis, daß die Sturmsche Verdrehung der Worte der Einsetzung von Laien und Gelehrten allerdings zu verwerfen ist." Als der scharf Angegriffene drauf eine "Abfertigung der Lästerschrift" schrieb, griff ihn Edzardi von neuem an: "Das ungöttliche Wesen im Sturmschen Unwesen". Der Pastor in Siebenbäumen bei Lübeck, Kaspar Heinrich Stark, als Historiker wohl bekannt, wurde zum Polemiker. Er warf in den Streit hinein: "Die gottlob vergeblich bestürmte ev.-lutherische Kirche in dem Punkte vom h. Abendmahl und begegnete dann dem "Herostraten" noch einmal: "Abgedrungene Ehrenrettung wider den unnützen calvinischen Lästerer Sturm". Der Husumer Rektor Heinrich Bockemeier prüfte ähnlich wie Fabricius Sturms Exegese nach und kam zu ihrer völligen Ablehnung: "Das völlig entwaffnete Toiuto oder Beweis, daß Sturms neue Dolmetschung nicht bestehen könne, sondern einen höchst ungereimten Verstand gebe." In Breslau verteidigte den lutherischen Standpunkt der erste Geistliche der Stadt, Inspektor oder Superintendent Kaspar Neumann: "Kleine Anmerkungen über Sturms großsprecherische Schrift von dem Abendmahl des Herrn." Den 27. Januar 1715 starb Neumann, aber Freunde gaben die kleine Schrift heraus, die Sturm in zwei Entgegnungen zu entkräften suchte 25 ). Auch Henning Huthmann ließ den mathematischen Beweis nicht gelten: "Grammatikalische Gedanken über Sturms mathematischen Beweis vom h. Abendmahl", ebensowenig in Berlin der Propst Joh. Gustav Reinbeck,


(  ...  ) brachte und unechte Instanzien. Mushard replizierte: Noch etwas wider Sturms so genannte völlige Verantwortung seines mathematischen Beweises und Sturms Schreiben an Mushard samt dessen Antwortschreiben. Hamburg 1714. Sturm meinte seinem Gegner nicht das letzte Wort lassen zu dürfen, 1715 ließ er drucken: Antwort auf das theologische Antwortschreiben, welches Mushard durch öffentlichen Druck einem Privatschreiben entgegengesetzt hat, so der Autor des mathematischen Beweises an ihn abgehen lassen.
25) "Widerlegung der kleinen Anmerkungen Neumanns und nun mehr völlig hervorleuchtender und gewiß unwidersprechlicher Beweis, daß der wahre Verstand der Einsetzungsworte kein anderer sein kann als dieser: desgleichen ist mein Leib."
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der bekannte Verehrer und Anhänger des Philosophen Christian Wolf: "Vorstellung an H. Sturm, daß sein unwidersprechlicher Beweis nicht allein widersprechlich, sondern auch offenbar falsch ist". Am 2. Mai 1716 schrieb ihm Sturm 26 ): "Durch einen guten Freund in Hamburg habe ich Ihre Schrift wider mich bekommen, ist sie auch in ziemlichem Eifer, sodoch in christlicher contenance und moderation geschrieben". Reinbeck hat den Brief liebenswürdig beantwortet, dann Sturms Entgegnung auf seine Schrift mit Anmerkungen herausgegeben 27 ), in einem Schlußwort unter Hinweis auf die Apin und Senstius angebotene Wette, von der wir gleich hören werden, den Baudirektor auch aufgefordert, die gewechselten Schriften einer juristischen und theologischen Fakultät zur Beurteilung und Entscheidung des Streites einzureichen. "Die Unkosten bei der theologischen Fakultät will ich tragen, die bei der juristischen mag H. Sturm über sich nehmen. So kommt H. Sturm zu seinem Zweck, und ich will dabei beruhen". Natürlich durften auch die Rostocker Theologen nicht schweigen. Johann Fecht lag auf den Tod darnieder 28 ), so griffen die anderen zur Feder.


26) Vgl. A. Fr. Büsching, Beiträge zu der Lebensgeschichte denkwürdiger Personen I, 147.
27) Vgl. Leonh. Christoph Sturms und Joh. Gustav Reinbecks Wechselantwort, Berlin 1717, bei Gottfried Gedicke.
28) Wittenberg, den 18. Mai 1716, Wernsdorf an Löscher: "Gestern empfing Briese aus Rostock, daß H. D. Fecht am 5. Mai nach einem fast langwierigen Lager selig verstorben. Hac nive liquefacta vereor, ne multi fiant in Saxonia inferiore luti. Gott gebe, daß nicht dem Mecklenburger Lande geschehe, wie den Afrikanern nach dem Tode Augustins! .. Das Mecklenburger Manifest will auch verschaffen. Wäre höchst nötig, daß der Plunder kurz und kräftig widerlegt würde. H. Elswig sollte sich wohl dazu schicken." Unter dem 15. Oktober 1714: "H. D. Fecht hat nach einer zweijährigen Ruhe von seinem Podragra ein hartes Lager ausgestanden. Habe auch bei dieser Messe zwei Briefe von seiner eigenen Hand empfangen, woraus ich schließe, daß es ihm weder an Geistes- noch Leibeskräften sonderlich fehle. Gott hat den lieben Mann seiner Kirche zum besten so viele Jahre erhalten, er kann ihn auch weiter fristen und stärken. Wollte man es zu einer formalen Exspektanz kommen lassen, dürfte es den lieben, verehrten Mann kränken und ers dahin deuten, als lebte er dem Hofe zu lange und könnte man seinen Tod nicht erwarten. Mithin sollte wohl gar aliquid invidiae auf mich fallen, daß ich mich zu seinem Nachfolger bei lebendigem Leibe bestellen lassen. Kurz eine Exspektanz anzunehmen, kann ich mich deshalb nicht entschließen. Sollte sich aber der Fall wirklich ereignen, qui utinam serissime eveniat, so wird mit der Zeit auch Rat kommen." Bei Löscher war angefragt worden, ob der Witten- (  ...  )
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Franz Albert Apin wehrte dem Angriff in einer Dissertation "de privata confessione", und als ihm Sturm darauf eine Wette von tausend Talern" anbot, er wolle die Theologen der Landesuniversität entweder zum Schweigen oder zur Selbstprostitution bringen, eine juristische Fakultät könne Richterin sein, zeigte er das Törichte, einen Glaubensstreit in dieser Weise austragen zu wollen: "Bedenken wider Sturms Vorschlag einer Wette, dadurch er vermeinet, seine Kontroverse mit den Rostocker Theologen am besten auszumachen". Joh. Joachim Weidner hatte vom Herzoge die zehn Punkte erhalten, die Sturm diesem am 31. März 1714 überreicht und darin er kurz zusammengefaßt hatte, was sein mathematischer Beweis bot. Er beantwortete sie, Sturm replizierte am 11. Mai, als er darauf am 12. entgegnete, noch einmal am 14., worauf Weidner mit seiner Endantwort am 15. Mai die Kontroverse abschloß, dann auch den Briefwechsel herausgab: "Korrespondenz mit Sturm über einige Punkte vom h. Abendmahl". Auch Professor Johann Senstius hat mit Sturm die Klingen gekreuzt. Er schrieb: "Toiutismus, verbis institutionis sacrae, coenae insidiosus, a Sturmio invectus, theologica ast veritate reiectus", und als der Baudirektor hierauf geantwortet, "Abgenötigte Antwort auf Sturms abgelassenes Schreiben". Auch von pietistischer Seite flog ein Pfeil wider den mathematischen Beweis. Joh. Franz Buddeus in Jena, ein Freund und Verehrer Franckes, dazu ein hervorragender Theologe, stellte 1715 in der "Sylloge recentissimarum de sacra coena controversiarum" fest, daß Sturms Auslegung den alten Kirchenvätern widerstreite. Auch diesem Gelehrten gegenüber konnte der Baudirektor nicht schweigen, 1717 ließ er ausgehen: "Anzeige aus alten Stellen der ersten Kirchenväter, daß die Worte der Einsetzung von der ganzen Kirche in jenen Zeiten so verstanden worden: "Vergleichen ist mein Leib". So hoch die Wogen des Streites gingen, den Sturm entfacht hatte, in seinen Briefwechsel mit Halle schlugen sie vorläufig noch in keiner Weise hinein. Am 30. Mai 1713, als seine Skrupel längst


(  ...  ) berger Theologe vielleicht Fechts Nachfolger werden wollte. Wernsdorf deshalb auch an Löscher: "Wegen der Anfrage von Schwerin bin Ew. Magnif. gar sonderlich verbunden. Man kann nicht wissen, was Gott hierunter verborgen haben möchte. Mag also sogar abrupte nicht antworten. Ew. Magnif. wissen, daß mirs an mächtigen Feinden bei unserem Hofe nicht fehlt, und hier habe ich auch recht empfindlichen Verdruß."
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gedruckt umliefen, von ihm wohl bereits auch an Löscher nach Dresden gesandt waren, schrieb er aus Schwerin an Francke:

"Bei meinem Sohne will die Privatinformation nicht mehr ausreichen. Der gute Domke von Elbing, den der H. Professor mir vorgeschlagen, hat in der Theologie und den Sprachen eine gründliche gute Wissenschaft, ist auch sonst in seinem Leben untadelig. Doch während der liebe Cäsar, den ich vor ihm gehabt, mit gar großem Eifer die Übung der Gottseligkeit in meinem Hause so getrieben, daß es Kinder und Gesinde zuweilen geschreckt, ist H. Domke allzu zaghaft und sanft. Er hat auch kein donum proponendi und fehlet ihm sonderlich die Gabe, sich vor Kindern und Gesinde Autorität zu machen. Doch habe ich dies in Liebe getragen, weil ich ihn sonst treu erfunden habe. Anitzo aber, da der Knabe soweit vorgeschritten, daß ich fürchten muß, es möchte die Achtung gegen den Präzeptor bei ihm gar wegfallen, muß ich auf eine Änderung bedacht sein. Habe deshalb abermal den Entschluß gefaßt, ihn nach Halle zu bringen künftige Michaelis. Denn mit dem Bedenken gegen D. Heineccii 29 ) hat es jetzt weniger zu bedeuten, weil er sich offenbar als ein Feind gegen mich aufführt, womit der gute Mann mir unwissend Gutes tut. Könnte ich den Knaben zu einem alten gottesfürchtigen Studenten auf die Stube bringen, daß er ihn zu gottseligem Leben, Reinlichkeit und anständigen Sitten aufmuntere, und wie viel würde ich ihm loco honorarii dafür zu geben haben? Weiter, könnte ich nicht meiner Kinder mütterliches Erbe, ein Kapital von zwei- bis dreitausend T. zu Halle gegen gerichtliche Hypothek auf liegende sichere Gründe unterbringen, damit die gewöhnlichen Zinsen zu meines Sohnes Unterhalt gegenwärtig wären?"

Indessen verschlechterte sich Sturms wirtschaftliche Lage im Laufe des Sommers so stark, daß er nicht daran denken konnte, seinen Sohn nach Halle zu bringen, auch froh war, daß sein Hauslehrer, dem ein Amt in Koburg angeboten war, von ihm ging. Da dieser über Halle reiste, gab er ihm am 9. Oktober folgende Zeilen für Francke mit:

"In meiner hiesigen Station sind meine Einnahmen von Zeit zu Zeit schlechter geworden und cessieren öfters gar,


29) Joh. Michael Heineccius (1674 - 1722), 1699 Diakonus in Goslar, 1708 Pastor in Halle, Konsistorialrat und Professor.
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obwohl ich von dem neuen Herzoge nicht entlassen, sondern in meinem Amte bestätigt worden. Da bei dem jetzigen elenden Zustande der mecklenburgischen Sachen das Bauen fast gar darnieder lieget, habe ich diesen Winter Zeit, meine Kinder selbst zu unterrichten."

Als im nächsten Frühjahr die Bautätigkeit sich etwas belebte, Sturm mehr zu tun hatte, schickte er seinen Sohn dann noch nach Halle. Unter dem 30. April 1714 eröffnete er Francke seine Gedanken über ihn:

"Mein Vater, der des Knaben Taufpate zugleich gewesen, ist vordem in dem Predigtamte gewesen, hat es aber hernach mit der professione mathematica vertauscht. Ob er sich nachdem ein Gewissen darüber gemacht, weiß ich nicht. Mich unterrichtete er zwar in der Mathematik, drang aber stets darauf, ich sollte nur ein Nebenwerk daraus machen, alles dahin richten, daß ich einmal ins Predigtamt käme. Als dieses anders geraten, hat er mich kurz vor seinem Tode fast genötigt, ihm gleichsam ein Gelübde zu tun, alles zu schaffen, daß der Zweck, den er an mir gehoffet, an diesem erhalten werde, welches ich ihm auch verheißen. Nachher habe ich den Unfug solchen Gelübdes erkannt, weil es bloß auf göttlichen Beruf in solchen Dingen ankommen muß. Doch habe ich die ganze Information des Knaben also angestellt, daß er bloß in der Theologie und in den drei Sprachen unterwiesen wurde, in Geographie nur etwas weniger lernte, zur Mathesi habe ich ihn gar nicht geführt. Nur vor etlichen Wochen habe ich angefangen, die Elemente Euklids ihm ein wenig zu zeigen., worin sich solche junge Leute nicht leicht verlieben. Doch hat er aus eigenem Trieb hier und da etwas aufgeschnappt. Jetzt wollte ich, daß er im Pädagogio nebst der notitia theologica die drei Sprachen triebe, dabei aber das einig Nötige hauptsächlich lernte, die Kreuzschule unseres Herrn lieben, und mehr und mehr geübt wurde, seinen Fußstapfen nachzufolgen. Sollte ich mit den Jahren etwa eine Hoffnung äußern, daß ihm Gott wolle die Gabe der Keuschheit und Enthaltung verleihen, würde ich auch daraus das erste Omen nehmen, daß ihn der Herr zu seinem Dienst, seinen Willen zu verkündigen, ausgesondert habe. Dem Informator bitte anzubefehlen, daß er fleißig mit mir korrespondiere und aufrichtig von des Knaben Verhalten berichte."

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Als der Baudirektor diesen Brief schrieb, brannte der durch ihn entfachte Abendmahlsstreit lichterloh, doch gedachte er seiner in seinem Schreiben mit keinem Worte. Als er aber ein Jahr später (1715) wieder eine kleine Streitschrift ausgehen lassen wollte und für sie nirgends einen Verleger finden konnte, war er so naiv, sich aus Rostock 30 ), wohin er übergesiedelt war, sich an Breithaupt, Francke und Lange, die Professoren der hallischen theologischen Fakultät, zu wenden und sie zu bitten, seine Schrift zu approbieren und durch die Druckerei des Waisenhauses zu veröffentlichen. Er meinte wirklich, mit seinem Kampfe gegen die lutherische Abendmahlslehre der Pietät zu dienen und deshalb der Unterstützung Halles sicher zu sein. Was Breithaupt, der Senior der Fakultät, und Francke ihm geantwortet, wissen wir nicht. Aber Lange wies ihn kurz und nachdrücklich zurück, nicht ohne seinen Schmerz zu bekunden über den Streit, den Sturm entfacht habe. Dieser hat dann eine Erklärung seiner Meinung von dem h. Abendmahl gegen die Herren Professoren der Theologie zu Halle ausgehen lassen und ihr seine Briefe an die drei Professoren, auch Langes Antwort, beigegeben. Francke hat ihm deshalb nicht gezürnt. Vielleicht war es ihm sogar ganz lieb, daß Sturm selbst vor aller Welt bekundete, daß er in Halle keine Sympathien besitze, man dort gut lutherisch sei, durch Pflege der Pietät sich doch nicht zum Indifferentismus verleiten lasse.


30) Hamburg, den 18. Mai 1715, Dormann an den Pietisten Prof. May in Gießen: Rostochienses haben in ihren Mauern anitzo genug zu schaffen, daß sie wohl vergessen werden, auf Ihre wiederholte Lehr- und Ehrenrettung zu antworten. Sie sind im Ministerio ihrer Oberen halber in Uneinigkeit geraten. Etliche verteidigen Ihren Rat, der weggeführt vom Herzoge von Mecklen-burg, etliche aber schelten ihn als schuldig auf öffentlichen Kanzeln und halten die, so wider Ihre Durchl. sind und dem Rat affektionieret, vom Abendmahl ab. Sie wollen deshalb von der Universität angefochten werden, aber der Herzog schützt sie, welche sind H. D. Seystius und die Gebrüder Becker, welche meines sel. Vaters Schüler sind und sich den haeretificibus widersetzt haben." Der Kollektant Günther, Pfarrer vom Klingenmünster, der 1722 f. für seine Gemeinde in Niedersachsen, Holstein, Mecklenburg sammelte, unter dem 26. Juni 1723 an Löscher: "In Rostock verspürt man an den dortigen Juristen und Politikern mehr Gutes als an andern Orten. Sie lassen die Theologen in mehrerem Frieden und sind auch den Prinzipien des Thomasius wenig ergeben. H. Wolff aber scheint Beifall mit seiner Philosophie zu finden, wiewohl sie auch nicht in allem mit ihm zufrieden sind."
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Im Jahre 1716 überraschte unser theologisierender Baumeister die wissenschaftliche Welt mit einer neuen Schrift "Auflösung des größten Problems aus der arithmetica sacra von der apokalyptischen Zahl 666". Was ist nicht alles über diese Kennzahl des Tieres, des Antichristen, in der Offenbarung geschrieben worden? Wer zählt die Deutungen, die die Zahl im Laufe der Zeiten gefunden hat? Sturm meinte, in ihr die Päpste Bonifaz III., Gregor VII., Leo X. angezeigt zu finden und trug seine Ansicht wieder als unantastbare Wahrheit vor. Dies Anspruchsvolle, Rechthaberische mußte auch die wider ihn einnehmen, welche sonst aus konfessionellem Gegensatze sich seine Erklärung hätten gefallen lassen. Dazu wirkte noch die Erbitterung über seinen Abfall zur reformierten Kirche und seine Streitschriften wider die lutherische Abendmahlslehre nach. Erdmann Neumeister, der streitbare Hauptpastor in Hamburg, der gern eine scharfe Klinge schlug, auch darin einig mit seinem Herzensfreunde, dem oben genannten Edzardi, tat ihn beißend ab. In seiner Gegenschrift " Eilfertiges Sendschreiben an Herrn Sturm" fand er in der Zahl des apokalyptischen Tieres einen Hinweis auf den Mecklenburger Baudirektor selbst, brachte aus der Zahl auf dreizehn verschiedene Weisen Sturms Namen und Titel heraus. Schärfer konnte er ihn nicht treffen, gründlicher und boshafter zugleich ihn nicht abführen 31 ).

Als ausgesprochener Pietist zeigte sich unser Mathematiker und Architekt in dem Traktat "Zufällige Gedanken von weltlichen Ergötzlichkeiten", den er 1716 veröffentlichte. Jedes Spiel, jede Freude, die müßige Stunden ausfüllt, vor allem das Tanzen erklärte er als sündhaft, hier den schroffsten und engherzigsten Vertretern der neuen Frömmigkeit nicht nachstehend. Pietistische Kreise schätzten dies Schriftchen, aber sonst wurde es nach-


31) Wittenberg, den 23. Mai 1716. Wernsdorf an Löscher: "Gestern ist mir von einem guten Freunde aus Hamburg (wohl von Sebastian Edzardi oder von Neumeister selbst) ein sogenanntes Sendschreiben "Sturmii vollkommene Auflösung der apokalyptischen Zahl 666" zugeschickt worden. Sturm ist darin nicht wenig prostituiert und derb abgewiesen worden. Sollten Ew. Magnif. es noch nicht haben, so will ich es nächstens senden. Von der mecklenburgischen Schrift habe nur ein Exemplar erhalten, und weil ich sorge, es wird droben noch nicht bekannt sein, habe ich es beilegen wollen. Man kann daraus sehen, wie sehr die hallischen Prinzipien de polygamia et concubinatu auch überhaupt de matrimonio überhand nehmen."
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drücklich abgelehnt. Dagegen fand seine "Verständliche Erklärung etlicher Stellen heiliger Schrift" die 1719 in Frankfurt herauskam, da er die Bibel gegen manche Einwendungen der Kritik verteidigte, auch auf orthodoxer Seite Beifall. Hier tadelte man es nur, daß er, in seiner Schwärmerei befangen, in jeder Schriftstelle einen dreifachen Sinn finden wollte, einen buchstäblichen, typischen und mystischen. Eine Exegese, die von dieser Anschauung sich leiten läßt, kann ja auch alles aus der Bibel herauslesen. Noch einmal betrat Sturm das Gebiet der Polemik und erregte vielfachen Anstoß. Gleichfalls 1719 gab er heraus: "Auszug der bedenklichen Stellen in der Formula Concordiae". Die Unschuldigen Nachrichten, die das Buch erst nach dem Tode des Verfassers anzeigten, schrieben von ihm: "Das ist das letzte Buch des unruhigen Sturm, mit dem er seinen Lauf, den er in den letzten Jahren zum Schaden der Kirche gerichtet, vollendet. Er gibt vor, aus Notzwang des Gewissens geschrieben zu haben, tut auch sonst gar fromm und zuweilen wider seine Art liebreich, allein die Ismaelsart waltet doch überall vor."

Auch an einer Evangelienharmonie hat Sturm gearbeitet. Rostock, den 2. September 1718, schrieb er an Francke:

"Meine besten Freunde, die Gott redlich lieben, haben gehalten, daß beide beikommenden Manuskripte gewissen Nutzen haben würden, wenn sie durch den Druck gemein würden. Dies hat mich bewogen, das von der Harmonia. evangeliorum bei der hiesigen Fakultät zur Censur einzureichen, wohl wissend, daß darin nichts den symbolischen Büchern oder auch anderen placitis der lutherischen Kirche zuwider sein könne. Als es aber eine gar lange Zeit daselbst gelegen und ich von einem gewissen Studenten der Theologie versichert wurde gleichsam im Vertrauen, daß es von H. D. Krackewitz der Fakultät nicht vorgetragen sei, dessen Ursache ich etwa erraten könne, habe ich es wieder abgefordert und um so mehr Bedenken getragen, noch das andere Scriptum dahin zu geben, ob ich schon wußte, daß darin ebensowenig etwas wider die lutherische Konfession wäre. Denn die Hoffnung verging mir, daß an diesem Ort mir würde nach der Liebe begegnet werden. An andere auswärtige Fakultäten sie zu schicken, mußte ich mich wegen der Unkosten scheuen, weil mich der liebe Gott in gnädiger und väterlicher Absicht in solche Armut geraten lassen, daß ich

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solche Unkosten wahrhaftig den Meinen an ihrem höchst nötigen Unterhalte abziehen müßte. Indessen begreife ich wohl, daß ohne eine solche Approbation ich keinen Verleger zu diesem Werkchen finden werde. Da habe ich endlich die Zuversicht gefasset, in der ich von anderen christlichen Herzen bekräftiget worden bin, daß die hällische theologische Fakultät mir ihre Zensur und Approbation ohne oder mit wenigen Kosten widerfahren lassen werde. Daher ich mir die Freiheit genommen, meinem hochverehrten Herrn Professor diese beiden Manuskripte zuzusenden und um die sonderliche Liebe zu bitten, sie der theologischen Fakultät vorzulegen und zur Zensur und Approbation bestens zu empfehlen. Ich zweifle nicht, daß Gott mir auch in diesem Stück ein gewisses Pfündlein verliehen habe, welches ich nicht vergraben soll. Sollte ich auch meinem Herrn niemanden dadurch sammeln, werde ich doch auch nichts dadurch zerstreuen. Hoffe demnach eine gewährige Antwort darauf zu erlangen, die mit Gelegenheit nach Hamburg an H. Matth. Maaß, Bürger und reitenden Diener des Magistrats, adressiert werden kann, weil Sie hierher nicht leicht gute Gelegenheit finden möchten. Könnten diese Traktätchen zu Halle gedruckt werden, würde es mich sehr erfreuen. Ich verlange von dem Verleger nichts dafür, als was ich für das Abschreiben habe geben müssen, welches bei dem einen Traktat 2 1/2, bei dem anderen einen Reichstaler austrägt. So genau zu menagieren, treibt mich nicht der Geiz, sondern die liebe Not. Daneben verlange nur noch etwa nach seiner Diskretion ein oder ein paar Dutzend Exemplare. Aus Hamburg ist mir vor kurzem H. D. Heineccius als ein zu fürchtender hällischer Antichrist 32 ), der noch schlimmer als D. Mayer wäre, beschrieben worden. Wenn es wahr wäre, wiewohl mir keine particularia wissend worden, müßte ich die Gerichte Gottes billig bewundern."

Aus der tiefen Not, in die er in Rostock geraten, da die herzogliche Kasse ihm kein Gehalt zahlte, erlöste ihn Ostern 1719 die Berufung zum Baudirektor nach Blankenburg. Noch erinnert er aus Rostock unter dem 1. April Francke an die


32) Über den Gegensatz zwischen Francke und Heineccius vgl. Wotschke, Die Gewinnung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm für den hallischen Pietismus, N.K.Z. 1930 S. 704 ff.
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beiden Manuskripte und seine Bitte um ihre Zensur: "Weil ich bis dato keine Antwort noch Nachricht erhalten habe und im Willen habe, nach der Fügung Gottes noch vor Pfingsten Rostock zu verlassen und zu dem braunschweigischen Herzog zu Blankenburg in Dienst mich zu begeben, so ersuche durch diese Zeilen meinen hochgeehrten Herrn Professor um eine Nachricht." Es ist sein letztes Schreiben, denn schon am folgenden 6. Juni hat ihn der Tod allen weiteren Enttäuschungen und Kämpfen entrückt. Lägen die Briefe noch vor, die Sturm an Rötenbeck, DippeIl Rosenbach, Joh. Michaelis gerichtet, sie würden das Bild, das seine Schreiben an Francke von ihm geben, wesentlich ergänzen und abrunden. Aber auch so ist es klar und deutlich. Voll warmer, tiefer Frömmigkeit wünschte unser Mathematiker eine innerlichere, ernstere, entschiedenere Auffassung des Christentums, als er um sich zu sehen meinte, voll regen Interesses für theologische Fragen, beschäftigte er sich gern mit ihrer Lösung und ging hier eigene Wege. Daß diese ihn der reformierten Lehre entgegenfiihrten, bewahrte ihn vor Separatismus. Er löste alte Bande doch nur, um alsbald neue zu knüpfen, im ganzen eine beachtenswerte Erscheinung in jener Zeit gärenden, quellenden neuen religiösen Lebens 33 ).



33) Einen orthodoxen Pietismus vertrat später in Mecklenburg Christian Albert Döderlein, ein entschiedener Gegner des Rationalismus. Bützow, den 14. Dez. 1779, schreibt er: "Des H. Geheimrats Wieland Abhandlungen gegen den H. D. Bahrdt in dem deutschen Merkur hat mir in den allermeisten Punkten sehr wohl gefallen. Es ist gut und eine weise Fügung Gottes, daß jetzt solche Männer anfangen aufzutreten, die sich durch ihre anderweitigen Schriften bei dem von neumodschen Witz trunkenen Publikum in Ansehen gesetzt haben und dem Pöbel des lesenden Publikums das Blendwerk vor Augen legen, womit es bisher geäfft und hintergangen worden. Dergleichen Schriften werden vielleicht bei dem größesten Haufen, der nur bloß von Autoritäten geleitet wird, eher Eindruck machen als die gründlichsten wissenschaftlichen Untersuchungen. Über des H. D. Semler Antibahrdt hat man ebenfalls Ursache sich zu freuen. Ich habe mit Verwunderung gelesen, wie der Mann seine Behauptungen so geschwind geändert und in einer anderen Sprache redet und jetzt mancherlei zugestanden und bejaht hat, was er vorhin und auch ehemals im fameusen hitzigen Streite gegen meine theologische Inauguraldisputation so heftig angegriffen und bestritten hat. Jedoch ist hierbei noch von Herzen zu wünschen: 1) daß dem H. D. Semler alles, was er hier geschrieben hat, recht aufrichtig von Herzen gehen möge, woran ich inzwischen nicht zwei- (  ...  )
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Als Anhang gebe ich Mecklenburger Briefe an A. H. Francke bei, die ebenfalls die Staatsbibliothek in Berlin aufbewahrt.

1. Groworth an Francke.

Hochehrwürdiger und hochgelahrter, hoch geehrter Herr Pastor! Wenn ich vor einigen Jahren, da von dem hochsel. Herrn H. Herzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg nach Ranstädt zu Ihro Kön. Maj. von Schweden geschickt ward, im Durchreisen zu Halle die Ehre gehabt, mit Ew. Hochehrw. mich bekannt zu machen und die ruhmwürdigen Anstalten des dort angelegten Waisenhauses unter Dero Aufführung in Augenschein zu nehmen, so habe um so viel lieber auf gnädigsten Befehl meines gnädigsten Herrn, jetzo regierenden H. Herzogen Carl Leopold, mit Vermeldung dero gnädigsten Grußes vernehmen wollen, ob Sie nicht Ihren anderen Geschäften sich so lange entziehen und eine Reise ins Mecklenburgische fördersamst tun und sich etwa zu Rostock einfinden wollten. Ihre Maj. 1 ), die


(  ...  ) feln will. 2) daß nicht ein hallischer Bahrdtianer eine Parallele zwischen diesem Buche des H. D. Semler und dessen anderen Schriften und Behauptungen anstelle. 3) daß, wenn dergleichen geschehen sollte, der H. Semler offenherzig und aufrichtig bekennen möge, daß er vorhin manches nicht recht eingesehen habe, wo es hinaus wolle, und sich in manchen Behauptungen übereilt habe. Denn wenn er dieses nicht tut, sondern seine anderweitigen Dinge zugleich mit beibehalten und verteidigen will, so wird er nicht nur seiner eigenen Ehre Schmach antun, sondern die gute Sache wird überhaupt von seinem jetzigen Verhalten mehr Schaden als Vorteil haben. Es liegt ja doch vor Augen, daß er den Samen auf eine künstliche Art seit langer Zeit her von all dem ausgestreut hat, womit andere jetzt offenbar und grob herausplatzen."
1) Über den melancholischen Geisteszustand der preußischen Königin Sophie Luise vgl. Wigger im Meckl. Jahrbuch Bd. 41 (1876). Freiherr v. Canstein an Francke aus Berlin unter dem 14. Febr. 1713: "Hier ist alles anitzo in der größten Konsternation. Der König hat sich den Zustand der Königin so zu Gemüte gezogen, ob man es ihm wohl ausreden wollen daß er vorgestern in eine Krankheit gefallen, eine Beklemmung der Brust mit einem starken Fieber, daß niemand geglaubt, er würde diese Nacht überleben. Diesen Morgen hats sich gebessert auf der Brust, darauf er auch geschlafen. Der Herr helfe ihm diesmal auf! Wir geraten in solche Umstände, die den Untergang des Landes nach sich ziehen. Es läßt sich nicht alles schreiben. Die Königin ist auch immer in einem sehr kläglichen Zustande, und da man sie von dem Orte, wo sie itzo ist, nicht weiter nach Grabow wollte reisen lassen, ist sie in eine große Wut geraten, so gar daß einige Leute herausgesandt worden zu verhindern, daß sie nicht, wie sie gedroht, selbst aus dem Fenster springe. Die Lügen gehen auch hier um, dem Könige auszureden, daß nicht der Gram ein vieles dazu beigetragen." Unter dem 21. Februar: "Die Königin ist heut nach Grabow geflohen."
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Königin von Preußen, verlangen gar sehr Ew. Hochehrw. einmal zu sehen 2 ), und mein gnädigster Herr hätten auch ein und anderes mit Ihnen zu reden. Ich erwarte hierauf Dero beliebige Erklärung und verharre mit Ergebung göttlichen Schutzes

Ew. Hochehrw., ganz ergebener Diener Groworth,
fürstl. mecklenburger Geh. Rat.

Rostock, den 9. Oktober 1713.

Meine Briefe gehen alle auf Schwerin, von da ich sie sicher empfange.

2. Herzog Carl Leopold an Francke.

Unseren gunstgnädigsten Gruß zuvor! Wohlwürdiger und Hochgelahrter, lieber Andächtiger und besonders Lieber! Als Wir von dessen riihmlicher Gelahrtheit und ernstlicher Liebe zur wahren Gottesfurcht, auch anderen christwürdigen Wissenschaften uns viel Gutes vermelden lassen und auch teils aus dessen Schriften davon versichert sind, daher gerne sehen, daß Wir von ihm ein quali-fiziertes Subiektum erhalten könnten, welches von dessen Umgange profitiert hätte, so haben Wir in solchem gnädigsten Vertrauen gegenwärtigen Kandidaten der Theologie Johann Schröder ihm hiermit zur Aufsicht empfehlen wollen mit dem gnädigsten Ansinnen, er wolle demselben mit guter Anleitung ferner assistieren und absonderlich ihn fleißig zu einer wahren Gottesfurcht und dem rechtschaffenen Wesen in Christo führen helfen, damit Wir hiernächst Uns auf dessen conduite verlassen können. Wie nun dies eine Gelegenheit sein wird, unsere längst erwünschte Intention zu erreichen, uns durch einige Korrespondenz dessen aufrichtig gemeinten theologischen Rats zu bedienen, also zweifeln wir nicht, er werde Uns hierunter bestmöglich willfahren. Welches Wir jederzeit mit besonderen. deren Gnaden zu erkennen geneigt sein werden. Geben auf unserer Festung Dömitz unterm hochfürstlichen Handzeichen und beigedrucktem Insiegel Anno 1721, den 6. September. Ew. Ehrw. sehr affektionierter Carl Leopold.

3. Herzog Carl Leopold an Francke.

Ew. Hochw. kann nicht unbewußt sein der siebenjährigen von dem Allerhöchsten harten Heimsuchung meiner Herzogtümer und Lande. Wie nun bei meinem ins fünfte Jahr allhier in Danzig Aufenthalte wir Dero Predigten über die Evangelien gebrauchet, so sind anno 1723 mit besonderen merkwürdigen Umständen mir zwei Bücher als von dem Neuen Menschen und Theologische Send- schreiben von A. v. Franckenberg 3 ) nebst besonderen Kupfern überliefert worden, wie denn auch noch vor wenigen Monaten bei einem evangelischen Bürger, wo ich im Hause, ein ganz aus der Art ge-


2) Über die Wertschätzung, der sich Francke bei der Königin erfreute, vgl. Wotschke in dem Jahrbuch für brandenburgische Kirchengeschichte, 1930, S. 216.
3) Abraham von Franckenberg (1593-1652), schlesischer Mystiker.
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lassenes Buch gefunden, genommen ans Tauleri Schriften, als finde ich bei mir eine besondere Überzeugung vor der Wichtigkeit dieser Sache, und wie der Allerhöchste vor 19 Jahren mir hiervon etwas zu erkennen gegeben, welches denn niemalen aus meinem Herzen kommen können, als bin um so mehr dadurch angefrischet, Ew. Hochw. zwei Exemplare im Vertrauen zuzuschicken, um Dero Approbation und Rat darüber zu vernehmen nebst dem Ersuchen, Ew. Hochw. wollen ein Subiektum, wozu Sie ein völliges Vertrauen setzen können und den Sie vor einen Wiedergeborenen halten, im ganz Geheimen mir zuschicken, damit ich mit selbigem reden und mit Ew. Hochw. koncertieren könne, was zu Gottes Ehren und Lob in meinem Lande in dieser wichtigsten Sache könnte befördert werden, weil bis dato in Kirchensachen die freie Hand behalten und die vielen Pfarren, so jährlich besetzt werden, bei diesen Umständen einen großen Skrupel machen. Ich zweifIe nicht, Ew. Hochw. werden dieses in aller Stille bei sich behalten und mein Vertrauen zu Ihnen nicht anders als wohl aufnehmen. Denn wie dergleichen Sachen von den meisten unserer Theologen mit vorzeitigen Urteln angesehen werden, haben Ihro Hochw. in Deren Predigten zur Genüge dargetan, indem der natürliche Mensch nichts begreifet, was des rechten Geistes ist. Der ich hingegen vor Gott versichere, daß es treulich meine, auch so wenig Überbringer dieses als einige andere Seelen hiervon wissen, und bei Gelegenheit bezeigen werde, wie ich ganz unverändert bin Ew. Hochw. ganz freundwilliger Carl Leopold. Danzig, den 9. Januar 1726.

Sollte jemand überkommen, hat er nur einen versiegelten Zettel in des Regierungsrat Wolffen Haus in der Brotbänkengasse zu senden mit der Aufschrift: an den Kammerdiener Fister, und soll die Reise zu Dank bezahlt werden.

Unter dem 19. Januar antwortete Francke, daß er die über-sandten Bücher "Herzenspiegel und Abbildung des verborgenen Menschen" (dessen Autor ein Schweizer Nik. Tscheer 4 ) sei, der sich sonst im Witgensteinschen aufgehalten habe) nicht empfehlen könne. Der Vortrag gehe von den in der Schrift üblichen Redensarten manchmal weit ab, auch würden die Gemüter durch fremde mystische Figuren und hohe Spekulationen von der lauteren, einfältigen Schrifterkenntnis auf falsche Höhen und Phantasien geführt. "Auf der Universität Rostock haben Ew. Hochfürstl. Durchl. drei wackere Männer D. Sibrand, professorem iuris, D. Detharding, medicum (der auch ein schönes Büchlein von dem Kennzeichen eines Wiedergeborenen geschrieben), und den Professor und Prediger Becker 5 ),


4) Nikolaus Tscheer, ein Böhmist, Pastor in der Schweiz, dann bei der verwitweten Fürstin zu Waldeck schließlich in Holland. Über in Walch, Religionsstreitigkeiten außerhalb der lutherischen Kirche IV 1120.
5) Der Pietist Hahn, der im Spätherbst 1723 von Rostock nach Stettin als Rektor (vgl. Wotschke, Der Pietismus in Pommern, Pommersche Blätter 11, 32) ging, an Francke: "In Rostock waren sie in der facultate theologica alle der Wahrheit recht zuwider. Ich nahm daher Gelegenheit, privatim mit einigen zu konferieren, fand (  ...  )
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der auch einen feinen Bruder zu Grabow hat. Diese drei Männer liebe ich und glaube gewiß, daß sie sich über Ew. Durchl. gute Intention sehr erfreuen und sie, soweit sie des Landes geistliche Besserung betrifft, mit guten consiliis und sonst aufs möglichste unterstützen werden. Wenn Ew. Durchl. die Universität Rostock mit recht christlichen und tapferen Professoren und Predigern besetzen würden, wird das die gesegnete Quelle sein, dadurch Dero ganzes Land mit Wasser des Lebens gewässert und gebessert werde. Ich weiß wohl, wie verhaßt ich der Orten bin. Daher ists gut, daß


(  ...  ) aber wenig Eingang. Der moderateste unter ihnen war der D. Äpinus, der noch ziemlich modest alles anhörete und in aller Bescheidenheit antwortete. Aber es hatte doch nicht den Effekt, den ich gewünscht. In dem Ministerio war es nicht viel besser bestellt, ausgenommen der H. Prof. Becker, bei dem ich im Hause und am Tische war. Da fand ich nicht nur in seinen Predigten, sondern auch in seiner täglichen Konversation viel Gutes und Erbauliches. Wie er denn von Herzen Gott fürchtete und gar wohl das große Verderben der Kirche einsah und es recht zu Herzen nahm, aber auch dabei, wie es gemeiniglich geht, viel leiden mußte. Außerdem war in der juristischen Fakultät der H. D Siebrand und in der medizinischen H. D. Detharding, die beide die Wahrheit liebten. Sonderlich aber habe bei H. D. Siebrand eine recht lautere Einfalt im Christentume und ein sonderbares Maß der Gaben Gottes gefunden, daß ich mich darüber recht herzlich gefreut. Überdies bin ich mit einigen Privatpersonen bekannt geworden, bei denen ich eine große Begierde zu der Wahrheit gefunden. Unter ihnen muß ich billig rühmen des H. Prof. Beckers Schwester, so im ledigen Stande bis in ihr 50. Jahr beinahe gelebet, mit viel Kreuz und Leiden sowohl leiblich als geistlich von Gott geläutert und geprüft worden und dadurch zu einer großen Erkenntnis und Erfahrung kommen. Weil sie von Ew. Hochw. unterschiedliche Schriften gelesen, so hat sie zum öftern davon gesprochen und nichts mehr in dieser Welt von Gott gewünscht, als daß sie nur eine Stunde ihrer Seele wegen mit Ihnen sprechen könnte. Denn sie wird in großer Dürre die meiste Zeit von dem lieben Gott gehalten und muß fast beständig mit schweren Anfechtungen kämpfen. Ich habe gewiß manche Stunde mit sonderbarer Freude im erbaulichen Gespräch mit ihr zugebracht, daß ich nach der Zelt Gottes Weisheit in dieser meiner Führung nach Rostock nicht genugsam preisen können. Vor einigen Jahren, da ein gewisser Maler und Schuster, welche sie wegen ihrer Frömmigkeit und Einfalt recht herzlich geliebt, leider auf Abwege gerieten und deswegen von dem Ministerio eine scharfe Untersuchung angestellt wurde, hat sie auch viel ausstehen müssen nebst ihrem Bruder, dem H. Prof. Becker, wiewohl sie sich so wohl verteidigt und erkläret, daß sie ihr nichts anhaben können, wiewohl sie dennoch nicht außer allem Verdacht bei der Welt sind. Mit der studierenden Jugend durfte ich nicht direkt etwas Praktisches vornehmen, weil es contra statuta, jedoch habe bei ihrer Zusprache öfters Gelegenheit genommen, mit ihnen von dem Heil ihrer Seelen zu sprechen, und ihnen das Verderben unserer Kirche und ihrer Lehrer zu zeigen , welches bei manchen nicht ohne alle Frucht gewesen."
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meiner wenigstens zu Anfang nicht dabei gedacht werde. Was ich aber beitragen kann in der Stille und im Verborgenen, das werde ich gewiß nicht unterlassen. Es wird durch Briefe vieles geschehen können, da ganz unmaßgeblich raten wollte, Dero gnädigste Handschreiben unter einem Kuvert und gemeinen Siegel an mich zu schicken und auf das Kuvert schreiben zu lassen: H. Heinr. Julius Elers im Buchladen des Waisenhauses in Glauche abzugeben. Halle.

4. Herzog Carl Leopold an Francke.

Dero Antwort ist mir nebst dem Überschickten wohlbewahrt eingekommen. Ich danke gar sehr vor die überschickten Sachen, gütige Vorsorge und Antwort, sehe mit Verlangen nach dem Versprochenen aus, auch ist mir lieb in Ew. Hochw. Antwort zu vernehmen, daß nebst den übrigen Anmerkungen Wahrheiten in den beiden übersandten Büchern sind. Finde auch eine große Konfirmation in Arndts Schriften, wovon mir noch ein besonderes Traktätlein über gleiche Materie hier zu Händen gekommen, wovon, geliebt es Gott, als dann wie auch allem übrigen ein mehreres. Ich ergebe Dieselben dem göttlichen kräftigsten Schutze zur Beförderung seines aller-heiligsten Wesens Ehre. Verbleibe mit aller Aufrichtigkeit Ew. Hochw. ganz freundwilliger Carl Leopold. Danzig, den 29. Januar 1726.

5. Herzog Carl Leopold an Francke.

Es ist der Kandidat Callenberg 6 ) den 22. d. M. hier wohl angekommen und hat Ew. Hochw. Schreiben nebst übrigen mir wohl überbracht. Ich danke denn zuförderst nochmals gar sehr vor die gütige Bezeigung und Vorsorge. Wie ich nun ersehe. daß Ew. Hochw. die Person in wichtigen Sachen gebrauchen, als habe so viel möglich ihn bald abfertigen und Ihnen wieder zuschicken sollen. Beziehe mich auf den an den Kandidaten Callenberg getanen Vortrag, welcher hoffentlich getreulich berichten wird. Meine Überzeugung und Absicht gehet hauptsächlich auf den Hauptpunkt. Denn wenn wir das A und 0 von einer Verklärung in die andere zu bringen trachten bis zur vollkommenen Mannheit in uns, ist wohl der einzige Weg und alles in allem. Dieses ist so überzeugend, daß, wenn es recht fleißig gelehrt wird, ohne großen Zuwachs nicht bleiben kann, und wem Gott die Erkenntnis gibt und schon vor anderen den schweren KIeinodskampf vollendet, auch mit der Krone in allem gekrönet, achte ich, schuldig zu sein, seinen Nächsten mit zu erbauen, denn sonsten den Spruch 1. Joh. 3, 17 man sich zuziehen möchte, jedoch mit Aufsicht, die seinigen zu prüfen. Ew. Hochw. Gutfinden über den Generalvortrag der jetzigen Situation und Umstände des Kandidaten Callenberg werde erwarten, in meinem Schwersten äußerlichen Zustand mit dem Psalmisten: "Herr, wer wird wohnen in deiner Hütte und wer wird bleiben auf deinem heiligen Berge?", mich trösten und sehen, wie es der Höchste schicken


6) Joh. Heinrich CaIIenberg (1694-1760), 1727 außerordentlicher, 1735 ordentlicher Professor in Halle.
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wird. Die Reisekosten kommen hierbei wieder über nebst einem kleinen Andenken für die schönen übersandten Bücher, wie es hiesigen Orts ist zu bekommen gewesen, welches Ew. Hochw. in Güte aufnehmen werden, der ich Dieselben zum kräftigsten Schutze des großen Gottes zur beständigsten Beförderung seines heiligsten Wesens befehle und aufrichtig verbleibe Ew. Hochw. freund- und gutwilliger Carl Leopold. Danzig, den 27. März 1726.

6. Herzog Carl Leopold an Francke.

Hochwürdiger Herr Francke! Desselben Antwort vom 6. und 13. dieses habe wohl erhalten. Ersehe daraus, daß der Kandidat Callenberg umständlich referiert und was Ew. Hochw. desfalls führende Intention. Ich werde in allem es der Direktion des Höchsten überlassen. Wenn also Ew. Hochw. wollen von der Güte sein, mit ein paar Intimen, denen Sie sicher alles anvertrauen können, in höchster Verschwiegenheit (worum ich Ursache habe sehr zu ersuchen) wegen der Person es abgeführter Maßen zu veranstalten und auszufinden. Vor allem aber müßte es einer, worinnen Ew. Hochw. ein völliges Vertrauen setzen, und in unserem Hauptvorhaben christlich gegründeter Mann sein, welcher denn in aller Stille nebst noch einem tüchtigen Subjekte in der Theologie anhero kommen und gleich wie der Callenberg seine Adresse hier einschicken müßte, so könnte er alsdann alles vernehmen und seine conditiones machen, wozu denn die Reisekosten wieder erstattet werden sollen. Und finde ich für gut, daß bis dahin alles in statu quo verbleibe. Denn die Landesumstände mir so bekannt, daß auch die aller-unschuldigste Sache, wo sie nicht vorher wohl überlegt und präkaviert, viele Verdrießlichkeiten nach sich ziehen kann. Danzig, den 27. April 1726.

7. Francke an Herzog Carl Leopold.

Wie ich Ew. Hochfürstl. Durchl. am 13. April geschrieben, daß in dem Punkte, einen klugen und recht christlichen ministrum zu empfehlen, ich mich zwar, weil diese Sache außer meiner Sphäre sei, nicht kapabel finde, jedoch vielleicht darin reussieren möchte, wenn E. H. D. mir die Freiheit geben wollten, mit ein paar gottseligen und mir intim bekannten Grafen davon zu konferieren, also habe ich von dem einen. da hierüber Dero gnädigste Willens-meinung vom 27. April gelesen (daß ich in höchster Verschwiegenheit mit ein paar Intimen wohl darüber konferieren möchte), gesuchet. solches mündlich zu tun indem es schriftlich. wegen vieler Umstände allzu bedenklich gewesen) sie aber nicht eher als itzo finden können, da der H. Graf Reuß Heinrich XXIV. 7 ) aus dem Voigtlande und der H. Graf Henckel 8 ) aus dem Altenburgischen, auf welche ich in meinem Schreiben gezielet, sich nun untereinander auf meine Ver-


7) Über ihn Büsching, Beiträge zu der Lebensgeschichte denkwürdiger Personen II, 3-30.
8) Über ihn Büsching IV, 3-50.
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anlassung verglichen, zu mir anhero zu kommen. Ich habe Ihnen dann Ew. Hochfürstl. Durchl. christliches Verlangen im Vertrauen eröffnet, worauf sie sich sofort im allgemeinen erklärten, alles, was Ihnen diesfalls nur möglich sein möchte, zu Ew. Hochfürstl. Durchl. Vergnügen in aller Stille und Verschwiegenheit zu kontribuieren, auch nach ihrer nicht geringen Kenntnis von geschickten Leuten weit umher gedacht, aber auf keinen solchen Mann, zu dem man ein vollkommenes Vertrauen haben und ihn auch erlangen könnte, gekommen, als auf einen namens Cellarius, der bei ihnen als Vormündern der gräflichen Herrschaft Greiz eine Kanzleiratsstelle bis anhero noch bedient, den sie wohl Ew. Hochfürstl. Durchl. auf ein, zwei, auch wohl drei Monate überlassen wollten, so er nur nach deren Verfließung seine getreuen und ihnen nötigen und nützlichen Dienste ungehindert kontinuieren könnte. Sie versicherten mir anbei seiner ungezweifelten Gottesfurcht, guten Verstandes und gründlicher Gelehrsamkeit auch guten Übung in negotiis publicis. Sobald nun Ew. Hochfürstl. Durchl. Dero gnädigsten Willen mir hiervon würden eröffnet haben, sollte der H. Kanzleirat Cellarius sich zu E. D. begeben. Den zur Reife nötigen Vorschuß wollte ich schon tun. Und sodann hoffe ich auch ein zum Predigtamt taugliches Subjektum mitzusenden, worin sich gleichfalls die erwähnten Herren Grafen anheischig gemacht, die Hand zu bieten, ob ich zwar selbst Sorge tragen werde, daß man was Rechtschaffenes kriegte. Nur muß das Subjektum sich weder von mir, noch von Halle herschreiben, sondern von den Herren Grafen aus Jena angenommen werden, indem ich wohl weiß und in öffentlichen Schriften zur Genüge bekannt ist, wie sehr die Gemüter, sonderlich der Geistlichen in Dero Landen gegen mich und gegen Halle voreingenommen sind...Halle, den 27. Juni 1726.

8. Herzog Carl Leopold an Francke.

Dero Antwort vom 27. des verwichenen Monats Juni habe den Posttag darauf, wie das Avertissementschreiben an den lieben Callenberg abgegangen, erhalten. Ich ersehe daraus die Mühe, so Ew. Hochw. in der bewußten Sache sich gegeben, wovor denn auch vielen Dank sage. Mein hauptsächliches Absehen ist gewesen, nachdem Dieselben durch den H. Callenberg von den Umständen völlig informiert, jemanden mir zu acquirieren, womit wegen der bewußten Umstände und Überzeugung mich nicht allein zu beraten, sondern auch wovon ich versichert wäre von Ew. Hochw., daß er in der Hauptsache wohl gegründet und Sie ein völliges Vertrauen in ihn setzten, zumal ich vermeine, gewiß zu sein des Spruchs Matth. 6, 33. Da ich aber vernehme, daß er noch anderwärts in Pflichten stehet und auf einige Monate nur Erlaubnis, habe Ew. Hochw. ersuchen wollen, mir bei der Überkunft durch einige Zeilen zu vernehmen zu geben, ob man völlig in der Hauptsache sich gegen ihn expektorieren und ob Dieselben von ihm und seiner Verschwiegenheit wie auch dessen Gefährten sich völlig versichert halten. Erwarte also versprochener Maßen die beiden sobald möglich, und werden die Reisekosten zu allem Dank wieder ersetzet werden. Die Verschwiegenheit wird ferner in Ew. Hochw. erleuchtetem Schreiben nötig sein. Nur bitte ich mir

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aus, daß die Subjekta Ihnen bekannt und Sie ein völliges Vertrauen der Hauptsache halber in sie setzen. Die beiden Herren würden mir ein Vergnügen sein, sie kennen zu lernen und ihnen hin wieder Gefälligkeiten erweisen zu können, wozu mit Gott vielleicht Gelegenheit nach diesem sich finden wird. Danzig, den 31. Juli 1726.

9. Herzog Carl Leopold an Francke.

Dero an mich Abgelassenes vom 14. 9 ) und folglich vom 26. August ist mir wohl eingehändiget. Ich danke abermals vor die angewandte Mühewaltung vielmals. Es hat aber bis dato den erwünschten Effekt nicht haben können, indem der Magister Zimmermann 10 ) sich, bis er mit seinen Eltern und übrigen Geschäften in Richtigkeit, zu nichts engagieren wollen. Der Rat Cellarius ist seinem Versprechen nach damit einig, wenn Ew. Hochw. bei den beiden Herren es dahin vermögen, daß sie darin konsentieren. Es wird also der H. Cellarius mir das Zeugnis geben, daß nichts habe ermangeln lassen, das Werk nach Möglichkeit zu befördern. Da er aber ebenfalls unumgänglich vor nötig hält, noch vorher seine ihm obliegende Sachen in Richtigkeit zu bringen, habe ich nebst ihm vor gut befunden, daß er jetzo eher, als nachmals, wenn einige Sachen in Aktivität kommen, zu entbehren, auch desto eher seine Sachen in Richtigkeit zu bringen, als stelle Ew. Hochw. lediglich anheim, wie Sie unter göttlicher Führung die Sachen weiter dirigieren werden, wie ich denn noch nochmals die Verschwiegenheit aufs nachgründlichste will empfohlen haben. Danzig, den 7. September 1726.

Die vorgeschossenen 60 T. sind nebst den anderen Reisekosten bezahlet.


9) Köstritz, den 14. Aug. Francke: "Von dem Regierungsrat Cellarius gebe ich und die beiden Herren Grafen die Versicherung, daß man sich völlig in der Hauptsache, das Reich Gottes betreffend, gegen ihn expektorieren kann und man sich von ihm und seiner Verschwiegenheit völlig versichert halte, nicht weniger auch davon, daß er in iure civili und absonderlich iure publico und in came ralibus nicht nur sehr wohl fundiert, sondern auch exerciert sei. Haben Ew. Hochfürstl. Durchl. ihn erst einmal und finden ihn nach Dero gusto, wer weiß, ob sich dann nicht nach Gottes Willen die Sachen unter der Hand von selbst geben, daß Dieselben ihn länger und beständig behalten können, wiewohl ich dieses nur für mich schreibe. Der Studiosus, den ich mitschicke, heißet Magister Zimmermann und wird von beiden Herren Grafen angenommen, daß er nicht weiß, daß die Sache durch mich gehet. Ich habe aber allhier, da ihn der H. Graf Reuß von Jena herüberkommen lassen, sein rechtschaffenes und wohlgegründetes Wesen im Christentume erkannt, und hat ihn der H. Graf einen Vortrag tun lassen, der sehr gut war, was den guten Grund in der Theologie und die äußerlichen Gaben und Aussprache betraf. Auch achten wir, daß Ew. Durchl. ihn zum Professor zu Rostock und Hofprediger werden gebrauchen können."
10) Joh. Liborius Zimmermann (1702-1734), 1721 Student in Jena, 1728 Hofprediger in Ilsenburg, 1731 Professor in Halle.
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10. Herzog Carl Leopold an Francke.

Ew. Hochw. Bericht vom 17. dieses habe erhalten und daraus vernommen, daß die beiden Personen wohl wieder angekommen. Man muß also die göttliche Führung erwarten und gebe ich es zu Ew. Hochw. fernerer Besorgung über, auch sähe ich so viel möglich die Beschleunigung gern, welche Dieselben bei den Herren Grafen werden vorzunehmen haben, wovon zu meiner Verhaltung mir die Nachricht ausbitte. Wenn ich nur erst jemanden zu Seite, der gegründet, womit mich beraten, meine Intention und Wille ist nun einmal, wie Ew. Hochw. anfänglich berichtet, daß es treulich rneine 11 ). Der Höchste wird durch seine Gnade und Kraft es weiter führen. Es könnten auch Ew. Hochw. nachgehends öffentlicher mit den Subjektis sich herauslassen und der Name desjenigen, so bei mir, erstlich gebraucht werden, bis man sähe, wozu sie resolvierten. Danzig, den 28. September 1726.

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11) Der Herzog hat anfänglich Francke selbst in seinen Dienst ziehen wollen. Dieser unter dem 10. April 1726: "Nachdem ich nunmehr das 63. Jahr zurückgelegt, ist keine Reflexion darauf zu machen, daß ich entweder im Lande oder auch außer demselben einige andere Dienste, welche es auch sein möchten, übernehmen könnte. Denn ich halte dieses nunmehro für den letzten Periodum meines Lebens, und ist dieses täglich vor meinen Augen, daß ich mich vor allen Dingen zur Ewigkeit zuzubereiten habe. Daher ich auch auf alle Weise mich alles dessen entschlage, was mich in neue Weitläufigkeiten setzen möchte. Wiewohl ich bei gegenwärtiger Leibeskonstitution, wenn es Gottes Wille wäre, wohl noch viele Jahre leben kann, so kann ich doch so viel Arbeit nicht mehr tun wie vorhin, viel weniger kann ich neue und ungewohnte Dienste, und da nicht so genau vorher sehen kann, was dabei zu arbeiten sein möchte, über mich nehmen. Dazu kommt auch dieses, daß von meiner vorigen Übernehmung in der Arbeit mir ein gewisser Affekt übrig blieben ist, der mich zwar nicht zu aller Arbeit untüchtig macht, aber doch zu solcher, dazu eine starke Erhebung der Stimme oder auch nur vieles Reden erfordert wird. Welches ich jedesmal bald darauf so empfindlich fühlen kann, daß es seine Zeit haben will, bis der Körper wieder davon sich erholt."
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III.

Unbekannte Werke
des Georg David Matthieu

von

Heinrich Reifferscheid

 

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G. D. Matthieu. Bildnis des Landmarschalls von Maltzan. Mecklenburgische Staatsmuseen, Schwerin.
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W ohl kein deutsches Staatsmuseum leidet in gleicher Weise unter den schwierigen finanziellen Verhältnissen der Jetztzeit wie die Staatsmuseen von Mecklenburg-Schwerin. Die ihnen zugemessenen Ankaufsmittel waren von jeher gering, sie sind in den letzten Jahren überhaupt gestrichen, um wenigstens die reinen Verwaltungsaufgaben aufrecht zu erhalten.

So kann den Schweriner Museen eine Bereicherung nur durch Geschenke kommen, und Geschenkgeber sind dünn gesät im Lande Mecklenburg. Um so erfreulicher ist es, wenn hier einmal von einer recht bedeutenden Schenkung berichtet werden kann, deren Urheber einem der ältesten Adelsgeschlechter des Landes entstammt. Freiherr Ulrich von Maltzan auf Großen Luckow überwies den Mecklenburgischen Staatsmuseen ein von dem Schweriner Hofmaler der Rokokozeit Georg David Matthieu geschaffenes Bildnis seines Vorfahren, des Landmarschalls Vollrath Levin von Maltzan, des Erbauers von Vollrathsruhe, geb. 1716, gest. 1775 (Abb. 1).

Es ist ein Gemälde, und doch ein Kuriosum. denn es handelt sich um eine ursprünglich wohl der Zimmerausstattung eingegliederte, ausgeschnittene und bemalte Holzfigur für die nur Arbeiten Matthieus im Schlosse zu Ludwigslust Vergleichsstücke bieten.

Der Erblandmarschall, in der repräsentativen Vollfigur eines Fünfzigers von fast Lebensgröße, hat Hut und Handschuhe abgelegt, neben einer Rokoko-Kommode Platz genommen und blickt bei aufgeschlagenem Buch auf den Beschauer, während seine rechte Hand würdevoll auf einem Stocke ruht (Höhe 147, Breite 117 cm).

Als Steinmann und Witte im Jahre 1911 ihr grundlegendes Werk über Georg David Matthieu herausbrachten (Ernst Steinmann und Hans Witte, Georg David Matthieu. Ein deutscher Maler des Rokoko [1737-1778]. Leipzig 1911), waren sie sich durchaus darüber klar, daß es ihnen trotz all ihrer Bemühungen doch noch nicht gelungen sei, das Lebenswerk

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dieses deutschen Malers des Rokoko vollständig zusammenzubringen; sie vermißten mit Recht, was Matthieu für sich selber oder im Auftrage von Privaten geschaffen habe.

Das hier vorliegende ist nun eines der Werke dieser Art. Es wird, wie es scheint, bisher nur bei Berthold Schmidt, Geschichte des Geschlechts von Maltzan und von Maltzahn, Abt. II, Band III, Schleiz 1920, S. 75, als ein auf Holz gemaltes und nach der Figur ausgeschnittenes Bild (Vollstück) aufgeführt, das den Landmarschall in höherem Alter darstelle. Zugleich wird eine auf die Brustbildform beschränkte und damit leider ganz uncharakteristische Teilansicht (ebendort, Tafel 1) beigegeben. Von der Zuschreibung des unbezeichneten Bildwerks an Matthieu ist noch keine Rede, wohl aber findet sich bereits der zutreffende Hinweis, daß es ähnliche ausgeschnittene Bilder nur noch im Schloß Ludwigslust in Mecklenburg gebe.

Wie für die Ludwigsluster Holzfiguren hat man als Datierung für das Maltzansche Bildnis an die Zeit um das Jahr 1766 zu denken. Und da gerade bis in dies Jahr hinein ein Maltzahn Karl Gustav von Maltzahn, als Mecklenburg-Schwerinscher Hofmarschall überliefert ist, so ergeben sich Beziehungen ohne weiteres.

In seiner unkonventionellen, lebensvoll frischen, menschlichen Charakterisierung aber zeigt dies Bildnis des Landmarschalls von Maltzan den Ludwigsluster Hofmaler bei aller koloristischen Virtuosität von einer ganz neuen Seite: Matthieu ist ein anderer, wenn er im höfischen Milieu der Konvention sich unterwirft, ein anderer, wenn er frei gestalten, womöglich seine Objekte sich gar noch wählen darf. Aus dieser Erkenntnis heraus gelingt es dann, Matthieus bisher bekanntes Lebenswerk noch um zwei weitere, gleichfalls unbekannte Bildnisse eines Herrn und einer Dame (Höhe je 83,5, Breite je 62 cm) der Schweriner Museen zu bereichern (Abb. 2 und 3).

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Georg David Matthieu. Herrenbildnis und Damenbildnis. Mecklenburgische Staatsmuseen, Schwerin.
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IV.

Zur Geschichte
des Mönchshofes Kotze

von

Gottfried Wentz.

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A m südlichen Rande des Mönch-Sees bei Wredenhagen an der Stelle des heutigen Mönchshof lag im Mittelalter der Zisterzienserwirtschaftshof Kotze 1 ), der dem rheinischen Kloster Altenkamp gehörte und von Brüdern dieses Klosters verwaltet wurde. Der erste Erwerb von Grundbesitz in dieser Gegend im Jahre 1232 2 ) geht zurück auf den Besuch des Kampener Abtes Arnold bei dem jugendlichen Herrn Nikolaus I. zu Werle von 1229 3 ). Im Gegensatz zu der archivalischen Überlieferung des benachbarten Amelungsborner Mönchshofs Dranse 4 ) sind Archivalien aus Kotze nicht erhalten. Unsere Kenntnis von den Schicksalen dieser Zisterzienserniederlassung im südlichen Mecklenburg ist infolgedessen nur gering. Es gehörten zu diesem Kampenschen Besitzkomplex außer dem Mönch-See und dem


1) Literatur über Kotze: J. C. Stein, Epitome historica episcoporum Havelbergensium 1 (v. Ludewig, Reliquiae manuscriptorum VIII [Frankf. u. Leipz. 1727] 281 f., 305-309, 316-318, Küster, Coll opuscul. hist., March, illustr II [Berlin 1753] XIII/XV 69, 88-92, 101-103). - v. Raumer, Der Cisterzienserklöster Kampen am Rhein und Amelungsborn Besitzungen in der Priegnitz (Allg. Archiv f. d. Geschichtskunde d. preuß. Staates VIII [Berlin, Posen und Bromberg 1832] 305-350. - G. C. F. Lisch, über das Land Turne, auch über das Land Lieze und die übrigen alten Gaue des südöstlichen Mecklenburgs (J. f. meckl. Gesch. II [Schwerin 1837] 94). - H. Berghaus, Landbuch der Mark Brandenburg 1 (Brandenburg 1854) 632.-Fr. Schlie, Die Kunst- und Geschichts-Denkmäler des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin V (Schwerin 1902) 547 ff.-M. Dicks, Die Abtei Camp im Niederrhein. Geschichte des ersten Cistercienserklosters in Deutschland 1l23-l8O2 (Kempen a. Rh. 1913) 140, 340.-W. Luck, Die Prignitz, ihre Besitzverhältnisse vom 12. bis zum 15. Jahrhundert (Veröffentl. d. Ver. f. Gesch. d. Mark Brandenburg [Münch. u. Leipz. 1917] 77-79. -. W. Matthes, Urgeschichte des Kreises Ostprignitz (Leipz. 1929) 91, 286 f.
2) M.U.B. I 414 f. Nr. 410.
3) G. Jongelinsis, Notitia abbatiarum ord Cisterc, III ( Colon Agripp. 1640) 34.
4) G. Wentz, Der Urkundenbestand des Bischofsarchivs zu Wittstock (Archival. Zschr. XXXVIII [Münch. 1929] 75).
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Dorf Kieve die fünf heut vergangenen Siedelungen Berlin, Glave, Schönefelde, Winterfeld und Wusterade. Die Verwaltung und Nutzbarmachung dieser entlegenen Grundherrschaft gestaltete sich im Laufe der Zeit für das ferne Kloster immer schwieriger, so daß man schließlich am 10. März 1437 die Güter an die Stadt Wittstock veräußerte 5 ).

Dieser Verkauf indes setzte die Genehmigung des Generalkapitels der Zisterzienser voraus, die am 4. März 1437 erteilt worden ist 6 ), nachdem ein Bericht der Äbte von Walkenried und Michaelstein den hoffnungslosen Zustand der kampenschen Grundherrschaft dargetan hatte 7 ), Man ersieht aus diesem Gutachten, dem die Aussage eines Mönches, der acht Jahrs in Kotze gelebt hatte, und die Schilderung zisterziensischer Verwalter 8 ) die Besteuerung durch den Landesherrn und des damals in Blüte stehenden Raubwesens aus dem Klosterbesitz seit 30 Jahren kein Gewinn mehr gezogen war. Einer Veräußerung dieser Besitzungen, die immerhin über 200 Jahre dem Kloster Altenkamp gehört hatten, konnten insofern keinerlei Bedenken entgegenstehen.

Urkunden.

1. Die Äbte Nikolaus von Walkenried und Johann von Michaelstein empfehlen dem Abt Johann von Citeaux die Veräußerung der Güter des Klosters Altenkamp im Wendenlande. - 1435 April 20.
St.A. Düsseldorf, Urk. Altenkamp Nr. 785, Or., Pg., Siegel der Aussteller.

Reverendo in Christo patri et domino domino Johanni abbati Cisterciensi fratres Nicolaus Walkenredensis et Johannes Lapidis sancti Michahelis monasteriorum abbates undique subiectionis cum reverencia mandatis paternis devota mente semper obedire! Reverende in Christo pater et domine preferende! Quiz auctoritate vestra paterna inspectores sumus deputati quarundam possessionum ad domum Campensem ordinis nostri pertinencium, quas apud


5) Riedel, Cod dipl. Brand, A XXV 64 Nr. 82 (unter falschem Datum).
6) Urkunde Nr. 2.
7) Urkunde Nr. 1.
8) Gemeint sind wahrscheinlich Mönche aus Dranse.
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gentem Sclavorum alias Wandalorum veterem inimicam ecclesie Christi habere dinoscitur, scrutati ergo sumus et veraciter edocti ab uno e fratribus dicte domus, qui resi-denciam per spacium annorum VIII in dicta possessione habuit, necnon a baliis ex nostris, quisitum terre incolarumque detestandos mores optime norunt; et per spacium annorum triginta nichil penitus monasterio cessit de dictis bonis nisi periculum animarum, Nam ea, que ultra victum cottidianum fratres ibidem degentes conponere possunt, seva manus domini exactoris rapaxque latro diripit, devorat vique extorquet. Cum ergo aliud emolumentum dicta domus inde non habeat nisi periculum animarum, hospitalitatem siccariorum, corrupcionem morum, estimamus dicta bona magis esse officinam scelerum, quam granarium militum Christi nec tam steriles ei noxias possessiones ad gremium puri et sancti ordinis nostri ammodo debere pertinere, sed vendendas et in evidenciorem proventum dicti monasterii efficacius convertendas ipsamque vendicionem licitam iudicio nostro decernentes salvo iudicio vestre peramande paternitatis. In testimonium ergo omnium premissorum sigilla abbaciarum nostrarum presentibus duximus appendenda anno Domini M° CCCCXXXV°, XII° kalendas Maii.

Gleichzeitige Dorsualnotiz: Concessio et licencia cupituli generalis, quod monasterium Camp[e]n[se] potuit vendere bonu in Kocz et pecunias inde receptas pro emptione aliorum reddituum plene exponere (betr. den Inhalt von Urk. 2).

Dieser Urkunde ist transfigiert die folgende:

2. Johannes, Abt von Citeaux, gestattet mit Zustimmung des Generalkapitels dem Kloster Altenkamp den von den Äbten von Walkenried und Michaelstein empfohlenen Ver-kauf, - Citeaux, 1437 März 4.
St.A. Düsseldorf ebd., Or., Pg., Siegel ab.

Nos frater Johannes abbas Cisterciensis notum facimus universis presentes litteras inspecturis, quod attenta rela-cione et opinione coabbatum nostrorum de Walkenrede et de Lapide sancti Michaelis contenta in litteris, quibus nostre presentes infiguntur, coabbati nostro monasterii Campensis et conve[n]tui 9 ) eiusdem loci tam nostra quam nostri


9) Or.: convetui.
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generalis capituli auctoritate plenaria, que fungimur, facultatem et auctoritatem dedimus ac tenore presencium damus vendendi seu alienandi vel commutandi possessiones in eisdem litteris, cui presentes infiguntur, designatas et per dictos abbates steriles et noxias iudicatas, proviso tamen, quod pecunie ex huiusmodi possessionibus vendendis recipiende in reemptionem aliarum possessionum pro dicto monasterio Campensi magis utilium totaliter convertantur, super quo predictorum abbatis et conventus consciencias districte oneramus. Datum Cistercii sub appensione sigilli nostri die quarta mensis Marcii anno Domini millesimo quadringentesimo XXXVII°.

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V.

Cornelius Krommeny
und sein Rühner Altar

von

Walter Josephi

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Corn. Krommeny: Herzog Ulrich. 1577/78. Kirche zu Rühn. / Corn. Krommeny: Herzogin Elisabeth. 1577/78. Kirche zu Rühn.
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N och heute erstrahlt vom hohen Chor zahlreicher Stadt- und Landkirchen Mecklenburgs der Goldglanz mittelalterlicher Heiligengestalten: pietätvoll hat die neue Lehre des 16. Jahrhunderts der Gemeinde an heiligster Stätte das ihr durch Jahre und Jahrzehnte lieb Gewordene belassen. Auch der langgestreckte Hallenbau der Klosterkirche Rühn mag ungeachtet aller reformatorischen Stürme seinen ursprünglichen Altar unangetastet bewahrt haben, bis der in Güstrow residierende Herzog Ulrich im Jahre 1575 seinem kunstfreudigen Gemahl Elisabeth " aus kuniglichem Stammen zu Dennemarken" das Kloster "unbeswert und umsunst" schenkte 1 ) und nun Geber und Beschenkte durch Stiftung eines neuen Altars diesem wichtigen Ereignis ein Denkmal errichteten. Der neuen Lehre einen ihrem Kult angemessenen Altar zu ersinnen, wäre keine leichte Aufgabe gewesen. In Rühn ging man über diese Schwierigkeiten hinweg, ließ die Überlieferung walten und blieb bei dem althergebrachten, im Mittelalter entwickelten Typus des großen Wandelaltars, anscheinend ohne Gefühl, daß die alte Form in der neuen Religionsübung Sinn und Zweck verloren hatte. Und so erstand wie vordem, allerdings jetzt in Renaissance-Umrahmung, eine Mitteltafel mit zwei beweglichen Flügeln; wer aber auf die Außenseiten der Flügel zwei große von Bändern umflatterte Wappen und die Stiftung preisende Verse malen ließ, hat zweiffellos nicht mehr an einen Gottesdienst bei geschlossenen Flügeln gedacht, sondern den Wandeltypus nur der Tradition und Gewohnheit zu Liebe beibehalten. Die farbenprächtige Malerei der Mitteltafel bringt die Einsetzung des Abendmahls in prunkvoller Ausgestaltung, die Flügel-Innenseiten zeigen auf grünen Kissen kniend die beiden


1) David Thytraeus erwähnt in seiner "Oratio in Funere inclytae Heroinae Elisabethae", Rostock (1587), die Rühner Stiftung:"Virginibus etiam nobilibus et viduis fortunae tenuioris Xenodochium elegans et splendidum sumptu et industria sua extructum et locupletatum Rhunae prope Buzouiam erexit." Schildt schreibt im M.J.B. 49, 1884, S. 270: "Zum Glücke nahm sich des Klosters die Gemahlin des Administrators selbst, die Herzogin Elisabeth, geb. Prinzessin von Daenemark, mit voller Teilnahme an. Die Akten berichten, daß sie das Kloster 1575 von Neuem wieder erbaute, worunter wir wohl zu verstehen haben, daß sie sowohl die Klostergebäude wieder wohnlich einrichten ließ und besetzte, als auch für Wiederherstellung der Ordnung sorgte."
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Stifter in Vollfigur dazu ihre Wappen und ihre Titel. Auf den Außenseiten sieht man in gemalten Nischen die großflächigen Wappen der mecklenburgischen und der dänischen Dynastie, das letztere wiederum mit mecklenburgischem Herzschilde, darunter jedesmal in reich entwickelter hellgrauer Rollwerk-Kartusche die Widmung in deutlicher Anlehnung an den Reimchronisten Ernst von Kirchberg, die bei der antiquarischen Richtung des Güstrower Herzogspaares nicht wunder nimmt.

In Friedrich Schlies Denkmälerwerk (IV. Band, 1901, S. 85 ff.) ist die Wiedergabe der im Dämmerlicht der Rühner Kirche schwer lesbaren Inschriften nicht fehlerlos; sie seien deshalb hier wiederholt:

VON•GOTTES•GNADEN•VLRICH•HERTZOG•ZV•
MECKELNBVRG•FVRST•ZV•WENDEN•GRAVE•
ZV•SWERIN•DER•LANDE•ROSTOCK•VND•STARGART•
                    HERR•A°•1578•

-----------

VON•GOTTES•GNADEN•ELISABET•AVS•
KVNIGLICHEM•STAMMEN•ZV•DENNEMARKEN•
HERTZOGIN•ZV•MECKELNBVRG•FVRSTIN•ZV•
WENDEN•GREFFIN•ZV•SCHWERIN•DER•LANDE•
ROSTOCK•STARGART•FRAW•A°•1578•

-----------

WIR•VON•GOTTES•GNADEN•VLRICH•
DES LANDES MECHLENBVRCH HERTZICH
ADMINISTRATOR TZV SCHWERIEN,
AVCH DES STIFTS BVTZOW VND WARIHN,
HABEN DIS KLOSTER VMBESWERT
VNSERM LIEBEN GEMAHL VORERD
ALS MEN SCHREIB AN DEM WEINGERN TZAL
FVNF VND SIEBENTZIGK VBERAL

-----------

WIR FRAVW ELISABETH GEBORN
AVS KONGLICHM STAMMEN AVSERKORN
HABEN DIS KLOSTER RENOVIERD
DIE KIRCH GEBAWT VND FEIN GETZIERD
TZV EHREN DEM GETREVWEN GOD
DAS MAN DARIN NACH SEIN GEBOD
MVCHT VNDERWEISN IN TZVCHT VND LEHRN
DIE VNDRTAHN VNSERS HERTZLIEBEN HERN
DER VNS DASSELBE GAR VM SVNST
GESCHANKET HAT AVS LIEB VND GVNST•

-----------
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Es sind schlichte Verse, mehr den guten Willen als ein hohes dichterisches Können bezeugend, aber gerade in ihrer Schlichtheit zeigen sie, mit welch herzlicher Liebe sich das fürstliche Paar zugetan war. Der Historiker wird durch sie wieder einmal belehrt, mit welcher Gleichgültigkeit die hohe Kultur der Renaissance den Fragen einer "Rechtschreibung" gegenüberstand: in dieser monumentalen, also gewiß recht überlegten Inschrift muß selbst ein dem Stifterpaare so geläufiger Ortsname wie Schwerin sich eine dreifache Schreibweise gefallen lassen!

Nun zu dem Flügelaltar selbst:

Eine bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts reichende Überlieferung wollte wissen, Cornelius Krommeny 2 ), der niederländische Hofmaler des Herzogs Ulrich, sei der Schöpfer des wirkungsvollen Rühner Altarwerks. Dieser Überlieferung erwuchs ein Gegner in Friedrich Schlie, der in seinen mecklenburgischen "Kunst und Geschichts-Denkmälern" zu folgendem Urteil kam: "An den gleichzeitig von Herzog Ulrich beschäftigten Maler Cornelius Krommeny braucht hier nicht gedacht zu werden, weil, was von dessen Kunst noch vorhanden ist, nicht dazu paßt." Durch Theodor Raspe ist dieser Irrtum dann leider in das heute maßgebende Künstler-Lexikon von Thieme-Becker hineingetragen: "Ihm (Krommeny) wurden fälschlich mehrere in Mecklenburg vorhandene Gemälde jener Zeit zugeschrieben, u. a. die Porträts des Herzogs Ulrich und seiner Gemahlin in der Rühner Kirche."

Und doch hatte die alte Überlieferung recht: der Rühner Altar ist in vollkommenster Weise für den Meister gesichert, denn dieser hat ihn nicht weniger als dreimal mit seinem Namen versehen:

auf dem Ulrich-Bildnis am Pilastersockel:

Cornes Kromeny fecit

auf dem Abendmahlsbilde am Tischfuß:

Corneli. Krony Inue 1577

auf dem Elisabeth-Bildnis am Pilastersockel:

Corne, Kromeny fecit


2) Die Literatur über diesen Künstler wird gegeben bei Ulrich Thieme, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, VIII, Band, Leipzig, 1913, S. 156.
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An Jahreszahlen finden sich dazu noch in den beiden Titeltafeln 1578, im Mittelbilde 1577, so daß also der Altar 1577 und 1578 gemalt und im letzteren Jahre aufgestellt sein dürfte. Cornelius Krommeny (Crommeny), ein gebürtiger Niederländer, tritt zuerst 1571 in Hamburg mit einer Darstellung des Lazarus an einem Epitaph der Petrikirche auf. Wo er sich zuvor betätigte, ist unbekannt, vermutlich in den Niederlanden. Italien hat er jedenfalls nicht kennen gelernt; denn seine Bauwerke auf dem Rühner Altar offenbaren eine erstaunliche Unkenntnis antiker oder italienischer Renaissance-Bauten trotz unverkennbarer Absicht, solche zu geben. 1576 wird Krommeny zum erstenmal in den Güstrower Hofrechnungen Herzog Ulrichs unter dem "Hoffgesinde außerhalb houes" erwähnt und bezieht dort ein halbjährliches Gehalt von 62 1/2 Thalern gleich 83 Fl. 8 Szl. Bis 1598 ist Krommeny regelmäßig in den Güstrower Hofrechnungen nachzuweisen, stets mit dem gleichen Gehalt, von dem ihm aber 1596/97 25 Fl. 16 Szl. gekürzt werden, da er "8 wochen in Niederlandt gewesen". Nach 1598 ist Krommeny in Mecklenburg nicht mehr nachzuweisen; vielleicht hat die Heimat ihn wieder an sich gezogen, vielleicht diente die Reise ein Jahr zuvor schon der Vorbereitung seiner Rückkehr. Der Rühner Altar steht also ziemlich am Anfange seiner mecklenburgischen Tätigkeit.

Wenn jetzt durch das Eingreifen des mecklenburgischen Landesamts für Denkmalpflege 3 ) die Künstlerbezeichnungen wieder sichtbar wurden, so bedeutet das für die Krommeny-Forschung einen großen Schritt vorwärts: der Rühner Altar ist zum Eckpfeiler jeder Beschäftigung mit dem Künstler geworden. Man kannte hierzulande von Krommeny bisher nur Bildnisse; nichts wußte man von Idealdarstellungen, nichts davon, daß er sich in diesen völlig anders gab als in den Bildnissen. Schon jetzt ist es möglich geworden, auch die beiden großen antikisierenden Darstellungen von 1590 an der Güstrower Domorgel (jetzt in den Meckl. Staatsmuseen zu Schwerin) dem Meister zuzuweisen, und vielleicht werden andere anonyme Gemälde des letzten Viertels des 16. Jahrhunderts das bisher bekannte Lebenswerk des Güstrower Hofmalers noch erweitern, Da es ferner bereits gelang drei


3) Über die 1930/31 vorgenommene Konservierung vgl. Tätigkeitsbericht des Landesamts für Denkmalpflege in diesem Jahrbuch S. 181.
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Aquarelle und ein Ölgemälde in den Meckl. Staatsmuseen, sämtlich Bildnis-Vorstudien zu noch erhaltenen Gemälden, auf Krommeny festzulegen, so gehört er jetzt zu den bestgekannten Künstlern des alten Mecklenburgs, gekannt nicht nur im Sinne seiner Kunst, sondern auch seiner Arbeitsweise.

Cornelius Krommeny arbeitet - um aus den Rühner Gemälden seine Kunstweise abzulesen - mit den satt leuchtenden, ungebrochenen Farben des typischen Renaissancemalers. Auf der festlichen Innenseite des Altars -Mittelbild wie Flügel - gibt er sich mit ungehemmter Freude seiner koloristischen Begabung hin, stuft dabei aber die einzelnen Farbenwerte so ab, daß sie nicht bunt wirken, sondern für den Allgemeineindruck sich ästhetisch die Waage halten. Dabei liebt Krommeny besonders ein kräftiges Grün, mit dem er gern seine Darstellungen einrahmt, gliedert, hervorhebt. So betont er in der vielfigurigen Abendmahlsdarstellung die Gestalt Christi, obwohl koloristisch mit auffallender Zurückhaltung gegeben, durch einen symmetrisch gerafften grünen Baldachin mit herabwallendem Rücklaken klar und bestimmt als Hauptperson. Auffällig ist, wie streng architektonisch Krommeny seine Gemälde aufbaut. Dabei hat er die bei einem Renaissancemaler nicht seltene Untugend, mit seinem allerdings virtuosen perspektivischen Können zu prunken: im Abendmahlsbilde, wo der Augenpunkt haarscharf in der Mitte liegt, folgen geradezu verblüffend alle Architekturteile dem sich vor dem Bilde bewegenden Beschauer. Sonst aber muß man in der Formengebung unterscheiden, ob der Künstler Idealdarstellungen oder Bildnisse, insbesondere nach Lebenden, malt. Bei den ersonnenen Gestalten des niederen Volkes, die er zu der vornehmen persönlichen Kultur des Fürstenpaares in einen beabsichtigten Gegensatz stellt, ist er eckig, hölzern, in gewissem Sinne manieriert: er preßt gern die Arme, Hände, besonders die Finger in eine übertriebene Ausdruckspose; und damit findet man die eigenpersönlichen Kennzeichen, die Krommenys Werke leicht von den Arbeiten seiner Zeitgenossen scheiden lassen: die dünnen, oft ungelenken Arme, die überlangen Finger, in die die übertrieben wohlgestalteten mandelförmigen Nägel gleichsam eingebettet erscheinen. Bei den Idealgestalten fallen auch die merkwürdig klein gewählten

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Köpfe mit allzu kurzem Durchmesser bei schier grotesk betonter Nasen- und Augenbildung auf, ebenso das überlebhafte und daher unnatürlich wirkende Inkarnat der Wangen.

Ganz anders bei den Bildnissen; der anatomische Kanon ist hier ein natürlicher, und dabei ist der Künstler, fern von jeglicher Manier, als echter Niederländer von einem feinen, immer geschmackvollen Naturalismus, behandelt dabei allerdings Wesentliches und Unwesentliches mit der gleichen subtilen Sorgfalt. Eine tiefergehende Charakterwiedergabe ist dem Künstler versagt, beim weiblichen Bildnis noch mehr als beim männlichen. Dafür aber gibt ihm das weibliche Bildnis ausgiebigere Gelegenheit, seine ganze Liebe dem prunkvollen, schön gemusterten Brokatkleide zuzuwenden, dem kostbar emaillierten Schmuck mit der langen Hängekette, deren Hauptglieder durch das ineinander gesteckte Doppel-V (Vlrich) gebildet werden, dazu wohl auch noch der kunstreichen Renaissance-Tischuhr, die durch das von zwei Löwen gehaltene, nur angedeutete Wappen als Privatbesitz der dänischen Königstochter gekennzeichnet wird. Vor kurzem erwarben die Meckl. Staatsmuseen mit den Leihgaben des ehemaligen Landesherrn ein 1577 datiertes weibliches Bildnis, das in den Hofinventaren als das der preußischen Prinzessin Anna Sophie, Gemahlin des Schweriner Herzogs Johann Albrecht I., verzeichnet war. Die Ausstellung des Rühner Altars im Museum am Alten Garten führte zu der überraschenden Entdeckung, nicht nur daß in Wirklichkeit die Güstrower Herzogin Elisabeth dargestellt ist, sondern daß dies Bild sogar als Krommenys Studie nach dem Leben für das Rühner Bildnis angesehen werden muß. Die Studie gibt der Fürstin eine einfachere Kleidung, zeichnet sich aber auch vor dem Rühner Repräsentationsgemälde durch größere Frische und künstlerische Unmittelbarkeit sowie noch stärkere Betonung der Details aus.

Auch am Schweriner Hofe, der, soweit bekannt, den Güstrower Hofmaler nicht beschäftigt hat, ist in der gleichen Zeit dieselbe Rücksichtnahme auf die fürstlichen Modelle nachweisbar: für das prächtige lebensgroße Doppelbildnis des Herzogs und der Herzogin Johann Albrecht I. in den Meckl. Staatsmuseen zu Schwerin finden sich Ölstudien weit kleineren Formats im Gewahrsam des Schweriner Staatsarchivs.

Weder in die niederländische, noch in die deutsche Kunstgeschichte ist Cornelius Krommeny als Großer eingezogen; er

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war kein Titan, der künstlerisch neue Welten schaffen, Berge versetzen konnte. Er wies der Kunst seiner Zeit keine neuen Bahnen, wandelte auch wohl schwerlich auf ihren Höhen. Aber er verstand mit dem soliden Können eines Durchschnittsmalers, seiner Mitwelt zu genügen, und wenn er dem heutigen Geschlecht - wenigstens in seinen Bildnissen nach dem Leben - vielleicht ein wenig größer erscheint, als er in Wirklichkeit war, so ergibt sich das aus der Kultur der Renaissance, in der schon das allgemeine künstlerische Können ein hohes war. Dazu kommt dann noch bei Krommeny die vortreffliche niederländische Schulung, ihr sympathischer Naturalismus und ihre zur höchsten Vollendung ausgebildete Technik. In diesem Sinne, - aber auch in dieser Beschränkung - darf man Krommeny, ungeachtet seiner Gekünsteltheit bei den ersonnenen Darstellungen, als den bedeutendsten Maler der heimischen Renaissance ansehen, wohl würdig, dem kunstsinnigsten der mecklenburgischen Renaissance-Herzöge zu dienen; in diesem Sinne darf man es aber wohl auch bedauern, daß ihm anscheinend nur eine einzige größere Aufgabe, eben der Rühner Altar, gestellt wurde, denn bei dem gegenständlich noch umfangreicheren Auftrage der Reihenfolge meist posthumer Ahnenbilder für die Doberaner Kirche (siehe unten) entfiel für ihn die Gelegenheit, sein bestes Können zu zeigen, und er selbst, der lebensbejahende Niederländer, wird schwerlich über das ihn sichtlich interessierende Kostümliche hinaus eine besondere Liebe für diese Wiedererweckung Toter gefühlt haben. So mußte er - diese Hofmaler-Tragödie wiederholt sich zwei Jahrhunderte später bei dem bedeutenderen Matthieu - sein Können und seine Kräfte in allerlei Kleinkram verzetteln, vor allem wohl auf dem Gebiete der Wappenmalerei, für die ihn allerdings seine Begabung besonders befähigte. Gehören doch die beiden dreifach behelmten fünffeldrigen mecklenburgischen Wappen auf beiden Seiten des Rühner Ulrichsbildes zu den schönsten, die je geschaffen; der einzig hohe Schönheitssinn der Renaissance, ihre Einstellung auf das künstlerisch Wirksame macht selbst aus diesen heraldischen Gebilden Musterleistungen.

Übersicht über die Werke Krommenys nach dem jetzigen Stande

1571. Auferweckung des Lazarus. Gemälde im Epitaph des Dr. med. Galbius in der Petrikirche zu Hamburg.

1575. Mitarbeit am Borwin-Epitaph im Dom zu Güstrow.

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1577. (Entwürfe für einen noch erhaltenen Holzschnitt-Stammbaum des meckl. Fürstenhauses von 1578.)

1577. Brustbild der Herzogin Elisabeth († 1586). Studie zum Bildnis am Rühner Altar. Gemälde. Meckl. Staatsmuseen zu Schwerin.

*1577/78. Abendmahl Christi, Bildnisse des Herzogs Ulrich († 1603) und der Herzogin Elisabeth († 1586) sowie zwei Wappen. Gemälde. Kirche zu Rühn.

1580. (Entwürfe für "Wapen an den Hirßzweigen in der Hofestuben").

Entwurf für das restituierte Bildnis des Herzogs Albrecht VII. († 1547) in der Kirche zu Doberan. Aquarell. Meckl. Staatsmuseen zu Schwerin.

*1587. Restituiertes Bildnis des Herzogs Albrecht VII. (†1547). Gemälde. Kirche zu Doberan.

*1587. Bildnis des Herzogs Ulrich († 1603). Gemälde. Kirche zu Doberan.

Entwurf für das restituierte Bildnis des Herzogs Heinrich IV. († 1477) in der Kirche zu Doberan. Aquarell. Meckl. Staatsmuseen zu Schwerin.
Restituiertes Bildnis des Herzogs Heinrich IV. († 1477). Gemälde, Kirche zu Doberan.
Restituiertes Bildnis des Herzogs Johann V. († 1442). Gemälde. Kirche zu Doberan.
Restituiertes Bildnis des Herzogs Albrecht VI. († 1483). Gemälde. Kirche zu Doberan.
Restituiertes Bildnis des Herzogs Johann VI. († 1474). Gemälde. Kirche zu Doberan.

* 1589. Restituiertes Bildnis des Herzogs Albrecht II: († 1379). Gemälde. Meckl. Staatsmuseen zu Schwerin.

Entwurf für das restituierte Bildnis der Herzogin Anna, geb. Markgräfin von Brandenburg († 1567), in der Kirche zu Doberan. Aquarell. Meckl. Staatsmuseen zu Schwerin.

* 1589. Restituiertes Bildnis der Herzogin Anna, geb. Markgräfin von Brandenburg († 1567). Gemälde, Kirche zu Doberan.

1590. Zwei Darstellungen aus der antiken Mythologie und zwei Wappen von der Orgel-Empore des Doms zu Güstrow. Gemälde. Meckl. Staatsmuseen zu Schwerin.

1595. Bildnis der Herzogin Anna, geb. Herzogin von Pommern († 1626). Gemälde. Kirche zu Doberan.

Es ist anzunehmen, daß Krommeny auch bei den großen baulichen und plastischen Aufträgen des Herzogs Ulrich beteiligt war.

Die vorstehend eingeklammerten Werke sind nicht mehr vorhanden: Die mit * bezeichneten Arbeiten sind vom Künstler signiert.

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VI.

Briefe Blüchers an den
Großherzog Friedrich Franz I.

mitgeteilt von

Werner Strecker.

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Z wischen dem Großherzog Friedrich Franz I. und dem Feldmarschall v. Blücher bestand ein freundschaftliches Verhältnis, das nicht erst durch Blüchers Ruhm begründet wurde. Dies bezeugt der Briefwechsel zwischen beiden aus den Jahren 1787 - 1790. Das Schweriner Archiv bewahrt sieben Briefe Blüchers aus dieser Zeit an den damaligen Herzog Friedrich Franz. Aus späterer Zeit (1817) ist nur einer erhalten. Der früheste vorhandene Brief ist aus Berlin, vom 27, März 1787 datiert. Blücher hatte soeben (23. März) nach langem Harren die Erlaubnis erhalten, wieder ins preußische Heer einzutreten, als Major bei seiner alten Truppe, dem Schulenburgischen, vormals Bellingschen Husarenregiment. Hiervon machte er dem Herzoge, in dem er als geborener Mecklenburger immer noch seinen Landesherrn sah, alsbald Mitteilung und dankte zugleich für die seinem "guten, aber unglücklichen Bruder" 1 ) erwiesene Gnade. Im Jahre darauf (14. Juni 1788) meldete Blücher aus seinem hinterpommerschen Standort Rummelsburg seine Beförderung zum Obristleutnant. Auf beide Schreiben empfing er freundliche, glückwünschende Antworten. Sein nächster Brief an den Herzog ist ebenso wie die folgenden hauptsächlich im Interesse seines für den Militärdienst bestimmten Neffen geschrieben. Der Brief 2 ) lautet:

Allergnädigster Landes=Herr.

Ich war fest entschloßen, Euer Hochfürstlichen Durchlauchten meine tiefste Submission persöhnlich zu bezeugen. Ein Krank-Lager von 7 Wochen beraubte mich diese Glückseeligkeit und nun sind die Aussichten hier so, daß man sich vom grossen Haufen nicht entfernen darf. Ich nehme dieserhalb zu meinem innigst geliebten Landes-Herrn meine Zuflucht schriftlich, von einen Vertrauen beseelt, was Euer Durchlaucht durch Gnade und Herablaßung mir eingeflößt. Mein Bruder-Sohn 3 ) hat das Glück, Eure Durchlaucht als Page zu dienen. Als ein armer Edelmann ist für ihm


1) Gemeint ist Siegfried Ulrich v. B., Oberforstmeister in Testorf bei Zarrentin (Wigger, Gesch. d. Familie v. Blücher, II, 1, S. 158 ff.).
2) Wie alle hier erwähnten Briefe Blüchers aus der Zeit bis 1790 von fremder Hand geschrieben. Unterschrift eigenhändig.
3) Gustav v. Blücher, geb. 1770, gest. 1854 als preußischer Major, Sohn des Oberforstmeisters Siegfried Ulrich v. B., Wigger a. a. O. S. 161 ff.
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keine andere Bestimmung, als sich einen rühmlichen Todt oder ein mäßiges Auskommen im Militair-Dienst zu erwerben. Erlaubten es also Euer Durchlaucht, so würde ich diesen jungen Menschen in hiesige Dienste, und zwar bei dem Regiment, wobei ich stehe, anzubringen suchen, der Cheff ist mein Freundt und ich darf auf seinen Beistand zur Fortun meines Neffen rechnen, allein, Gnädigster Landes-Herr, sein Vater ist arm und kann ihm mit nichts unterstützen; für mich wäre dieses Pflicht, ich habe aber selbst starcke Familie und bin in Ansehung meiner Oeconomie mit Beschämung sen es gesagt, vielleicht mehr Kind als mein Bruder-Sohn. Allergnädigster Herr, geruhen Sie diesen jungen Menschen eine geringe Zulage monathlich, so lange er Juncker ist, zu accordiren, für diese allerhöchste Huld werde ich täglich zum heiligen Subiesky flehen, daß er durch hundert gutte Jahre den Appetit meines innig geliebten Landes-Herrn so erhalte wie beim Punsch unter den Krohn-Leuchter in der Stadt Paris 4 ).

Mit mich geht dieser mein Schutz-Patron tyranisch um, vor das zu viel genoßene Gute zu Berlin hat er mich die gantze Woche ordinairen Wein zu trincken verurtheilt, und nur am Sontage ist es mich erlaubt, beim Punsch für die Gesundheit meines liebeswürdigsten Landes-Herrn zu flehen, welches denn auch von ganzen Hertzen geschiehet.

Es hat allen Anschein, das wir aufs Früh-Jahr marschiren werden, ich gehe mit den Entschluß, mich so zu verhalten, daß Euer Hochfürstlichen Durchlaucht mit dem Betragen Ihres Vasallen zufrieden seyn. Im voraus bitte zu dieser Wallfahrt um den Seegen des besten Fürsten, für den ich mit die Gesinnungen der tiefsten Verehrung und Submission lebens-lang seyn werde

Euer Hochfürstlichen Durchlauchten
  alleruntertänigster und gewiß treuster Diener
            Blücher,

Rummelsburg in Pommern
   den 14t. Decbr. 1788.


4) Der heilige Sobiesky und der Kronleuchter in der Stadt Paris, offenbar einem Berliner Gasthof, spielen schon in der früheren Korrespondenz eine Rolle. Blücher bezeichnete sich als Mundschenk des Königs von Polen Johannes Sobiesky. Es muß sich dabei um irgend einen Ulk handeln.
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Auf der Rückseite dieses Briefes findet sich folgender Vermerk von der Hand des Herzogs:

Ich habe unter dem heutigen Dat. auf dem, was wegen des Supl. Neveu in diesem Briefe stehet, folgendes geantwortet. - -Was Sie mich wegen Ihren Neveu schreiben, will ich ihm, bis daß er Officir wird, mit einem Louisd'or monathl. gerne accordiren und Ihnen das Geld in Quartal-Ratis durch meinen Cab.-S. 5 ) Foeldtner richtig übermachen lassen, nur wan er Officir wird, muß ich zum voraus sagen, finde ich mich außer Stande, ihm weiter zu helfen, da ich zuviel junge Leute auf meine Tasche habe und ich ehe die Zahl zu vermindern als zu vermehren suche.

Llust 26. Dec. 88.                    F. F. H. z. M.

Am 20. Februar 1789 dankte Blücher für die dem Neffen gewährte Zulage. Als dann im nächsten Jahre Preußen gegen Österreich mobil machte, meldete er am 16. Mai aus Rummelsburg dem Herzoge, daß der Befehl zum Aufbruche gekommen sei, und bat, seinem Neffen, der als ältester Junker des Regiments die Garnison verlasse, zur Equipierung zu verhelfen, sobald er Offizier werde. Der Feldzug bestand in einem Aufmarsch an der schlesisch-böhmischen Grenze, verlief unblutig und wurde durch den Vertrag von Reichenbach beendet. Aus dem Aufmarschgebiet schrieb Blücher:

Durchlauchtigster Herzog,
Gnädigst und innigst geliebter Herr und Landes=Vatter.

Ew. Hochfürstlicht Durchlauchten melde allerunterthänigst, wie mein Bruder-Sohn durch die Allerhöchste Gnade des Königs zum Cornet avancirt. Da er aber vorjetzt noch über-completter Officier ist und kein Tractament genießt, so fält die gantze Last seiner Unterhaltung auf mich. Bey dem besten Willen und Überzeugung meiner Pflicht, ihm helfen zu müßen, herßt doch in meinen Finanz-Umständen für dieses Jahr gäntzlicher Mißwachß, so daß ich nicht absehe, wie ich und mein Cornet ohne Wunder durchkommen werde. Mich bleibt nichts übrig, als Ihnen, Allergnädigster Herr, bey dem heiligen Subiesky zu beschweren, Ihre wohlthuende Hand nicht von uns abzuziehen, denn voll Vertrauen zu der Gnade des besten innig geliebtesten Landes-Vater wage ich es, aller-


5) Cabinet-Secretair.
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unterthänigst zu bitten, den angehenden Krieger zu Anschaffung seiner Officier-Equipage ein Gnaden-Geschenk angedeyen zu laßen. Der junge Mensch hat durch Dienst-Fleiß und guter Aufführung die Liebe und Achtung aller Officier erworben, und ich darf zuversichtlich hofen, daß der Dienst des Königes einen rechtschaffenen Officier an ihm erhalten wird. Ich übergebe sein Schicksahl der Allerhöchsten Gnade Ew. Hochfürstl. Durchlaucht und dancke allerunterthänigst für die bishero mich und ihm erzeugte Gnade.

Wir stehen hier im Angesichte unserer Gegner, Feinde darf ich leider noch nicht sagen, weil die Krieges-Operationen noch nicht angefangen. Meine Feld-Wachten und die der Östreicher stehen so, daß sie mit einander sprechen können. Vor einigen Tagen genoß ich daß Glück, den Herrn Hertzog von Sachßen-Weimar bey mich zu sehen, wir hatten eine Unterredung mit den östreichischen Officiers und trancken nachhero die Gesundheit Sr. Durchlaucht des regierenden Herrn Hertzogs von Mecklenburg=Suerin, meines allergnädigsten Herrn. Sr. Durchlaucht der Herr Hertzog von Weimar trugen mich auf, Ew. Durchlaucht viele Empfehlung zu machen.

Da der General-Feld-Marschall Laudan 6 ) todt ist, so könte das General-Commando in Böhmen und Mähren wohl an den durchlauchtigsten Bruder meiner vortreflichsten Landes=Mutter, den Printzen von Coburg 7 ), gelangen, ich mache diesen Schluß, weil ich dencke, der König Leopold werde die preusche Armee die Ehre wiederfahren laßen, ihr den grösten und besten seiner Generale entgegen zu stellen.

Allergnädigster Herr, ich kann vor jetzt von kriegerischen Begebenheiten nichtes melden, wir sehen voll sehnlicher Erwartung Mord und Todtschlag entgegen, und ich hofe nicht, daß es ohne Meßung beider Armeen abgehen würde. Solten wir ohne Arbeit nach Hause gehen, so traure ich, wie man um den Verlust einer Braut trauret, mit Freuden will ich im Dienst meines nicht genug zu liebenden Königes mein


6) Frh. v. Laudon, gest. als österreichischer Oberbefehlshaber gegen Preußen am 14. Juli 1790.
7) Das hier angegebene Verwandtschaftsverhältnis stimmt nicht. Der österreichische Feldmarschall Josias von Sachsen-Koburg war ein entfernter Onkel der Gemahlin des Großherzogs Friedrich Franz, Luise von Sachsen-Gotha-Roda.
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Leben verbluten, wenn ich ihm nur dadurch überzeugen kann, daß ich seine mir bewiesene Gnade nicht gantz unwürdig war. Daß Regiment, wobey ich diene, hat einen sehr weiten Marsch anhero machen müßen, wir fühlen uns aber unbeschreiblich glücklich, gewählt zu seyn, unter die Augen unseres Königes zu fechten.

Die erste kriegerische Operation, so wir machen, und den Ausgang davon will ich, insofern es mir erlaubt ist, Ew. Durchlaucht allerunterthänigst und wahrheits-treu melden, wie ich denn eine jede Gelegenheit freudig ergreife, mich zu der Gnade meines innigst geliebtesten Landes-Herrn zu emp-fehlen, und so verharre ich lebenslang mit der treusten, tiefsten Verehrungen und Submission

Ew. Hochfürstlichen Durchlaucht,
    meines Allergnädigsten Landes-Herrn
   allerunterthänigster und treuster Diener
              Blücher.

Michelsdorff über Landshuth,
   den 28t. July 1790.

In seiner Antwort vom 24. August 1790 bedauerte der Herzog, die Bitte Blüchers um Unterstützung seines Neffen diesmal nicht erfüllen zu können. Zugleich wünschte er B. Glück zu seiner Ernennung zum Obristen, von der er schon gehört hatte, bevor Blücher sie ihm in einem kurzen Schreiben vom 15. August aus dem Kantonierungs-Quartier Gramschütz meldete.

Seinen letzten erhaltenen Brief an Friedrich Franz I. hat Blücher 1817, zwei Jahre vor seinem Tode, auf seiner schlesischen Besitzung Krieblowitz geschrieben. Der Brief 8 ) ist offenbar eine Antwort auf eine Einladung, den Besuch in Doberan zu wiederholen, den der Feldmarschall im Jahre vorher abgestattet hatte:

Aller-Gnedigster Herr.

Sie sind so unbegrentz gnädig, daß ich in dieser Stunde abreiste, um Ihnen den allergehorsamsten und inigsten Danck persöhlig dahrzubringen, wen nicht unzubeseittigende Hindernisse mich hir zurückhielten, ich habe Gütter gekauft und verkauft, welche gerade ietzst von mich übergeben und übernomen werden dazu habe ich ein großen Bau angefangen,


8) Ganz eigenhändiges Schreiben.
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der zur Erndte vollendet sein muß, kurtz, mein Geschick veruhrteillt mich, dieses Jahr ein Mist-Vinke zu sein. Mit meinem Denken bin ich vihl bey Ihnen in Doberan, und die libevolle Ahrt, womit Sie, gnedigster Herr, die hübschen jungen Dames zu gewinnen wissen, steht mich lebhaft vor Augen. Meine Frau und noch immer kranke Schwigertochter, die trostloß sind, daß auß unserer Reiße nach Doberan nichts werden kan, habe ich in Karlsbad gelassen, in diesem Bade bin ich 22 Tage gewesen und habe vihl Wasser verschluckt, aber sie krigen mich da nicht wider; nachdehm ich in Doberan Empenger so viller Gütte und Wolwollen des besten Fürsten geworden, sind mich alle Bähder zuwider. Nostitz 9 ), der treue Gefehrte meiner frohmen, auch woll liderligen Stunden, legt sich danckbahr zu Füssen vor daß gnedige Andenken. Mein 2t. Adjutant, Obristl. v. Strantz ist jetzst eben beschefftigt, eine sehr hübsche Frau zu nehmen, ich und Nostitz sehen seiner Ankunft mit Verlangen entgegen, und wihr sind entschlossen, ihm metodice zu kröhnen. Meine Tochter ist mit Medelgen (?) auf ihrem Landsitz, deß Herrn Gemahls 10 ) Condouite in Doberan hat ihr nicht behagt, sie glaubt, der Herr Vater habe eben keine Anweisung gegeben, die führ der Frau beruhigent wehre.

Mein jüngster Sohn, der ietzst in Pomern ist, wird wahrscheinlig der einzige von der Familie sein, der so glücklige Tage wider verleben wird und Ihnen, gnedigster Herr, die Huldiung der gantzen Bruht überbringen wird, Der verdamte Kerdell, der Borstell 11 ) hat in Karlsbad kaldtblüttig daß Geld gewonnen und wollte nicht einmahl eifersügtig werden. Nun, allergnedigster Herr, vergessen werden Sie mich nicht, daß ist wider Ihren Caracter. Könnte ich Sie und Ihre Gütte je vergessen, so mag mich Gott auch vergessen.

Grieblowitz b. Breslau,
   d.10t. July 1817.                G. Blücher.

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9) Graf v. Nostitz, seit 1813 Blüchers Adjutant.
10) Blüchers Tochter Friederike war seit 1814 in zweiter Ehe mit dem Grafen Karl Maximilian v. d. Asseburg vermählt, Wigger a. a. O. S. 584.
11) Wahrscheinlich der preußische General Karl v. Borstell.
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VII.

Hacke aus Hirschgeweih
gefunden am Conventer See
bei Rethwisch.

Von

Heinrich Reifferscheid.

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Hacke aus Hirschgeweih, gefunden am Conventer See bei Rethwisch. Länge 24,5 cm. Meckl. Staatsmuseum, Schwerin.
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U nter den diesjährigen Erwerbungen für die Vorgeschichtliche Abteilung der Mecklenburgischen Staatsmuseen in Schwerin erscheint-leider nur leihweise mangels jeglicher Ankaufsmittel als das vielleicht früheste Stück eine am Conventer See bei Rethwisch gefundene Hirschgeweih-Hacke (L. 24.5 cm; s. Abbildung).

Der Fund wurde bereits im Juli 1928 gemacht, aber erst vor kurzem durch einen Zufall bekannt. So entfällt leider die nähere Kenntnis von Fundplatz und Fundumständen. Nur soviel war nach drei Jahren noch herauszubringen, daß das bemerkenswert schöne, vom Finder nach Hamburg mitgenommene, von dort jetzt wieder der Heimat zugeführte Fundstück beim Torfstechen mittels Schneidemaschine aus etwa 4.50 m Tiefe - ungefähr 4 m unter dem Wasserspiegel - zutage gefördert worden ist.

Das Werkzeug ist gefertigt aus dem unteren Ende einer Hirschstange, lichtbraun, mit konisch gebohrtem Schaftloch an der schmalsten Stelle und geglätteter Schneide, an der sich deutliche Spuren von Benutzung finden. Die mutmaßliche Abwurfstange endet knapp oberhalb der das Bahnende bildenden Geweihrose. Durch Abnutzung beim Gebrauch ist die Rose selbst verschwunden, dagegen hat sich die nur schwache Perlung der Stange sehr gut erhalten.

Eine sichere zeitliche Ansetzung der Hirschgeweih-Hacke ist nicht möglich, da hier keine Leitform, vielmehr eine reine Nutzform vorliegt, die sich zwar schon im frühen Mesolithikum findet, aber nicht nur in dieser, sondern auch in der neolithischen Periode, ja bis zum Ende der Bronzezeit fortdauert (vgl. Hans Lange, "Hirschgeweihäxte", in praehistorische Zeitschrift, Band XVII, Berlin 1926, S. 33 ff.). Und besondere Fund-umstände wie etwa bei den von Herbert-Lothar Heck behandelten "Mesolithischen (?) Hirschhorn-Hacken aus Schottern des Leinetales" (Praehistorische Zeitschrift, Band XVIII, Berlin 1927, S. 207 ff.) sind für das am Conventer See bei Rethwisch gefundene Exemplar nicht gegeben.

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Auf keinen Fall aber durfte sich die zentrale Landessammlung dieses Dokument altheimischer Kultur entgehen lassen. Einmal zählt es zu den charaktervoll-stattlichsten Stücken seiner Gattung (vgl. auch Robert Beltz, Die vorgeschichtlichen Altertümer des Großherzogtums Mecklenburg=Schwerin, Schwerin i. M. 1910, S. 77 ff. und Tafel 15), zum anderen ist es um seiner gesicherten Herkunft willen für die Vorgeschichte Mecklenburgs von Bedeutung. Im übrigen dankt der Conventer See seinen Namen der ersten Zisterziensersiedlung im Lande, die sich also in einer Gegend niederließ, die schon Jahrtausende zuvor zum Bewohnen angelockt hatte. (Über die geologischen Verhältnisse vgl. E. Geinitz, "Der Conventer See bei Doberan", in den Mitteilungen aus der Großherzoglich. Mecklenburg. Geologischen Landesanstalt IX, Rostock 1898.)

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VIII.

Streitaxt aus Felsstein
gefunden in Penzlin.

von

Heinrich Reifferscheid.

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Streitaxt aus Felsstein, gefunden in Penzlin. Meckl. Staatsmuseen, Schwerin.
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E ine jüngst in die Mecklenburgischen Staatsmuseen in Schwerin gelangte Streitaxt ward im Jahre 1871 auf dem Kirchhofe zu Penzlin - wahrscheinlich als Einzelfund - aus vier Fuß Tiefe herausgeholt, um seither sechzig Jahre lang in Privatbesitz im Verborgenen zu bleiben.

Es ist ein selten schönes Schaustück nach Art, Material und Erhaltungszustand und gehört einer Sonderform der jungsteinzeitlichen Lochaxt an, die sich zwar in den Beständen der Vorgeschichtlichen Abteilung des Mecklenburgischen Staates findet, die aber dort bisher auch nicht im entferntesten so hervorragend gut vertreten war. (Zu den von Robert Beltz, Die vorgeschichtlichen Altertümer des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin, Schwerin i. M. 1910, S. 50 f. und Tafel 9.53, aufgeführten mecklenburgischen Bodenfunden dieses Typus ist als weiteres Stück eine seit 1928 vom Staatlichen Museum für Vor- und Frühgeschichte in Berlin bewahrte Streitaxt aus Grevesmühlen zu vermerken.)

Die Penzliner Streitaxt, aus grünbuntem Felsstein gearbeitet und geschliffen, wird charakterisiert durch die kurze Schneide, den kammförmigen Nacken und das ovale Schaftloch bei gestrecktem Mittelteil mit verflachter, fast paralleler Ober- und Unterseite (Länge 17.5 cm; größte Breite 3.2 cm; Höhe des Kammes 6.3 cm; s. Abbildung),

Diese Streitaxt ist ein treffliches Beispiel eines nach Nils Uberg, Die Typologie der nordischen Streitäxte, Würzburg 1918, S. 15 f. "sehr scharf ausgesprochenen Typus" und wird in ihrer schon ganz metallgerechten Formengebung zu den Er-

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zeugnissen der ausgehenden jüngeren Steinzeit zu zählen sein, für die spärliche und darum besonders kostbare Importstücke frühester Kupfer-Bronzezeit die Vorbilder gewesen sein mochten. (Über die Form vgl. auch Gustaf Kossinna, Ursprung und Verbreitung der Germanen in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Berlin-Lichterfelde 1926, S.249 f.).

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IX.

Denkmalschutz
in Mecklenburg=Schwerin
1930-1931.

 

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B is zum Inkrafttreten des Denkmalschutzgesetzes vom 5. Dezember 1929 (Rbl. S. 309) lag der Denkmalschutz in der Hand der Kommission zur Erhaltung der Denkmäler, die 1887 errichtet worden ist. Die Kommission bestand zuletzt aus sechs Mitgliedern, erledigte fast alle Arbeiten durch Gesamtumlauf und war dadurch in ihrer Arbeit sehr behindert. Da sie weiter nur für das frühere Domanium, also nur 2/5 des Landes zuständig war, hatte sie eine ungenügende gesetzliche Grundlage, auch fehlten ihr fast völlig die Mittel. Es liegt auf der Hand, daß unter diesen Umständen ein Denkmalschutz nur sehr unvollkommen ausgeübt werden konnte. Die Aufgabe, den Denkmalschutz zu verbessern und auf das ganze Land zu erstrecken, war daher dringlich, die Lösung nach zweifacher Richtung schwierig.

Einmal in rechtlicher Beziehung. Die Denkmalschutzgesetze anderer deutschen Länder aus der Vorkriegszeit enthalten scharfe Bestimmungen, die den Denkkmalbesitzer einer erheblichen Beschränkung in der Verfügung über sein Eigentum unterwerfen. Unter der Herrschaft der neuen Reichsverfassung hat dann das Reichsgericht in einem hamburger Fall entschieden, daß es eine Enteignung bedeute, wenn ein privates Grundstück auf Grund eines Denkmalschutzgesetzes in eine Denkmalliste eingetragen werde und sich der Denkmalschutz an diese Eintragung knüpfe; der von einer solchen Eintragung betroffende Eigentümer habe Anspruch auf angemessene Entschädigung. Durch diese Entscheidung war es unmöglich gemacht, ein Denkmalschutzgesetz mit den beschränkenden Bestimmungen der Gesetze aus der Vorkriegszeit neu zu erlassen. Damit war eine nach allen Seiten befriedigende Lösung unmöglich, man mußte sich begnügen, etwas Besseres an die Stelle dessen zu setzen, was bisher war. Der mecklenburg-schwerinsche Gesetzgeber hat sich dadurch geholfen, daß er auf die Eintragung in eine Denkmalliste verzichtet hat und daß er bei Denkmalen in privater Hand von den beschränkenden Bestimmungen der früheren Gesetze abgesehen hat. Er hat den privaten Besitzern keine Pflicht auferlegt, vor beabsichtigten Handlungen an einem Denkmal die Genehmigung des Denkmalpflegers

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einzuholen, schreibt aber vor, die beabsichtigte Handlung dem Denkmalpfleger anzuzeigen und zwei Wochen mit deren Beginn zu warten. Damit will er dem Denkmalpfleger die Möglichkeit schaffen, als Berater zu dem Besitzer zu kommen. Freilich wird durch diese Lösung bewußt auf einen wirksamen Schutz der Denkmale in der Hand privater Eigentümer verzichtet.

Die zweite Schwierigkeit lag auf finanziellem Gebiet. Nach der Finanzlage des Landes war es ausgeschlossen, ein umfassendes Denkmalschutzgesetz zu erhalten, wenn damit neue Aufwendungen verbunden waren. Auch aus diesem Grunde war es zwingend geboten, das Gesetz in einer Form zu erlassen, die gesetzliche Verpflichtungen des Staates ausschloß. Das Gesetz vom 5. Dezember 1929 bleibt also in seiner Schärfe wesentlich hinter den aus der Vorkriegszeit stammenden Gesetzen anderer deutschen Länder zurück.

Diese rechtliche Schwierigkeit und die Notzeit, die seit seinem Inkrafttreten zu Beginn des Jahres 1930 verschärft über uns hereingebrochen ist und nur geringe Mittel für die Denkmalpflege im Haushalt bereitzustellen gestattet, sind einem weitgehenden Denkmalschutz in gleicher Weise hinderlich. Es ist überraschend, was trotzdem an Denkmalschutz in der abgelaufenen Zeit hat erreicht werden können und wie günstig das Gesetz trotz seiner Schwächen gewirkt hat. Die nachstehenden Berichte der Herren Denkmalpfleger geben darüber im einzelnen Auskunft.

Schwerin, den 11. Dezember 1931.

Landesamt für Denkmalpflege.
Schult.

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I.

Denkmale der Vor= und Frühgeschichte.

Der Landesdenkmalpfleger für Vor- und Frühgeschichte hatte zunächst mit dem organisatorischen Ausbau des durch das Denkmalschutzgesetz Geschaffenen zu tun. Seiner Absicht, die Vorteile der neuen Lage nach Möglichkeit für die Denkmalpflege und die Wissenschaft auszunutzen, stellten sich jedoch wider Erwarten erhebliche Hinderungen entgegen.

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wie auch größere Ausgrabungen, an denen sich diese Organisation hätte erproben lassen, entfielen.

Wenn Friedrich von Oppeln-Bronikowski in seinen jüngst erschienenen "Archäologischen Entdeckungen im 20. Jahrhundert" (Berlin 1931) sagt: "Auch die nichtrömische Bodenforschung in Deutschland ist ein Kind der klassischen Archäologie. Sie ist erst mit der Limesforschung (seit 1892), die ihren Anstoß von der römischen Altertumswissenschaft (Mommsen) erhielt, in geregelte wissenschaftliche Bahnen gekommen, nachdem sie nur allzulange ein Dilettantenvergnügen gewesen war", so waren bisher in Mecklenburg zum Schaden der Wissenschaft diese Dilettantenvergnügungen von "Altertumsfreunden" noch keineswegs ausgerottet.

Hiergegen wird der Landesdenkmalpfleger mit aller Entschiedenheit auftreten müssen, alles, was unter den Begriff ,,wilde Grabungen" fällt, hat er rücksichtslos zu verhindern und zu verfolgen, kurz, er muß sich als erstes für die peinlichste Befolgung des Gesetzes einsetzen.

Aber die Ausführung moderner Grundsätze denkmalpflegerischer Tätigkeit leidet unter mancherlei Schwierigkeiten, vor allem dadurch, daß Kräfte, die in heutiger wissenschaftlicher Grabungstechnik hinreichend geschult wären, dem Lande überhaupt nicht zur Verfügung stehen. Die leider nur für kurze Zeit gegebene Möglichkeit, hier durch Verpflanzung der verfeinerten Methoden der Länder mit technisch hochstehenden Grabungen Wandel zu schaffen, entschwand mit der Drosselung aller Geldausgaben, und somit wird für absehbare Zeit eine Besserung der Verhältnisse nicht zu erwarten sein.

Jedoch ein Anfang wurde wenigstens gemacht, zuerst mit der Beschaffung des wichtigsten Ausgrabungsgerätes, um auch bescheidene Untersuchungen ordnungsgemäß durchführen zu können. Mit jener Ausgrabungspraxis, die sich auf Taschenkompaß, Bandmaß und kleinen Handspaten beschränkte - vielleicht sogar auch ohne diese allerbescheidensten Hilfsmittel ans Werk ging - muß ebenso restlos gebrochen werden, wie mit der Anwendung der hierzulande besonders beliebten Sonde, durch die schon unübersehbarer Schaden angerichtet wurde.

Der Landesdenkmalpfleger vertritt grundsätzlich den Standpunkt, daß jede Aufdeckung von Grabanlagen einen Eingriff in den Totenkult unserer Altvorderen, gleichzeitig aber auch ein Zerstören für alle Zeiten bedeutet. Diese gewichtigen

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Bedenken lassen sich nur dann zurückstellen, wenn der Einzelfall gut wissenschaftlich vorbereitet, technisch einwandfrei durchgeführt wird und dazu die Sicherheit angemessener Veröffentlichung besteht. Wie aber die Verhältnisse in Mecklenburg zurzeit nun einmal liegen, dürfen im allgemeinen nur "Notgrabungen" vorgenommen werden, das heißt Untersuchungen oder Sicherungen, sobald im Gelände durch anderen Zwecken dienende Erdbewegungen zufällig vorgeschichtliche Grabstellen oder Siedlungen angeschnitten worden sind. Nur dann sind Untersuchungen und Grabungen zu gestatten oder auszuführen, wenn ohne diese ein nichtgutzumachender Schade entstehen würde. Dagegen wird der Landesdenkmalpfleger rein wissenschaftliche Grabungen nur dann vornehmen oder genehmigen, wenn Kräfte und Geldmittel zur Verfügung stehen, die für eine ordnungsgemäße Durchführung im Sinne der heute führenden Grabungstechnik und eine wissenschaftliche Auswertung durch ausreichende Veröffentlichungen Gewähr bieten.

Eine Anzahl kleinerer Unternehmungen im angedeuteten Umfange sind im Auftrage des Landesdenkmalpflegers vorgenommen worden. Diese Untersuchungen - es seien nur einige genannt - bezogen sich auf die ältere Bronzezeit (Sudenhof bei Hagenow), die vorchristliche Eisenzeit (Hagenow, Sommerstorf bei Grabowhöfe, Thorstorf bei Grevesmühlen, Züsow bei Neukloster), die nachchristliche Eisenzeit (Dütschow bei Parchim, Perdöhl bei Wittenburg) und die wendische Zeit (Gielower Peenhäuser bei Malchin). Erfreulicherweise gelangten die Funde ausnahmslos in das zentrale Staatsmuseum.

Reifferscheid.


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Il.

Die Baudenkmale.

Für den Denkmalpfleger galt es, sich so bald wie möglich nach Inkrafttreten des Denkmalschutzgesetzes einen Überblick über das im Lande vorhandene Material an Baudenkmalen zu verschaffen.

Wenn es auch zunächst schien, daß hierfür das bekannte Inventarisationswerk der Bau= und Kunstdenkmale von Schlie genügen würde, so stellte sich doch bald heraus, daß dieses Werk trotz seiner großen Vorzüge in mancher Beziehung

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versagte. vor allem, wenn es sich um Baudenkmale einfacherer Art und solche aus späteren Jahrhunderten handelte. Dies liegt vielleicht nicht nur daran. daß Schlie hierfür die Quellen fehlten und daß er sich, wo er die Denkmale nicht aus eigener Anschauung kannte, auf die bekannten Aufsätze von Lisch in den Meckl. Jahrbüchern, sondern auch auf sehr verschieden zu bewertende Mitteilungen auswärtiger Gewährsmänner verlassen mußte.

Der Denkmalpfleger mußte daher versuchen, so weit wie möglich, durch eigene Anschauung die Baudenkmale, die er nicht schon persönlich kannte, festzustellen und kennen zu lernen, um keine Mißgriffe zu tun. Dies geschah auf zahlreichen dienstlichen und privaten Reisen, bei denen vor allem die Kirchen früher ritterschaftlichen Patronats auf dem Lande, die der Allgemeinheit weniger zugänglich sind, möglichst skizzenhaft aufgenommen oder photographiert wurden. Mißgriffe konnten in der ersten Zeit leider nicht vermieden werden, indem z. B. verhältnismäßig wertlose ältere Gebäude auf Grund der Schlie'schen Beschreibung als Denkmale angesehen werden mußten, während umgekehrt manches wertvolle von Schlie nicht beachtete Denkmal übersehen wurde. So blieb zunächst z. B. die völlig unberührte kleine hölzerne Kirche in Zaschendorf bei Brüel unbeachtet, trotzdem sie mit ihrer farbigen inneren Ausstattung, farbigen Decke und in ihrer ganzen Unberührtheit trotz ihres schlechten Erhaltungszustandes zu den bemerkenswertesten Kirchen dieser Art in Mecklenburg gehört.

Daneben hielt es der Denkmalpfleger für unbedingt nötig, den Eigentümern von Baudenkmalen von der Denkmaleigenschaft ihrer Gebäude Kenntnis zu geben, damit diese in vorkommenden Fällen sich nicht auf ihre Unkenntnis berufen konnten. Dies war, mehr als heute, notwendig bei der Anfang 1930 noch einigermaßen starken Bautätigkeit, wo manches Baudenkmal durch Abbruch oder Umbau verloren gehen konnte, weil der Besitzer von der Denkmaleigenschaft seines Hauses keine Ahnung hatte. Die Bedenken, die darin liegen, daß eine eigentliche Denkmalliste mit gesetzlich bindender Wirkung nicht aufgenommen werden sollte, mußten zurückgestellt werden. Es wurde daher den Eigentümern, zunächst den öffentlichen Körperschaften, Mitteilung über die Denkmaleigenschaft ihrer Gebäude unter Hinweis auf das Gesetz gemacht. Wider

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Erwarten lösten diese Mitteilungen sowohl bei den Privatpatronen als auch bei den Eigentümern mancher Gutshäuser und Schlösser, u. a. auch sogar bei solchen Gutsbesitzern, die für die Denkmalpflege von jeher das größte Interesse gezeigt hatten, Widersprüche und Einsprüche beim Ministerium für Kunst aus, die zum Teil nur dadurch beseitigt werden konnten, daß die betr. Herren über die Wirkung des Denkmalschutzgesetzes überhaupt und die rechtliche Bedeutung der ihnen zugegangenen Erklärung erst nach und nach unterrichtet werden konnten.

Bei den in Privathand befindlichen städtischen Grundstücken, also z. B. den zahlreichen alten Bürgerhäusern in Rostock, Wismar, Güstrow usw., hielt der Denkmalpfleger es zunächst für richtiger, den Eigentümern eine Mitteilung nicht zu machen, sondern er beschränkte sich darauf, die Baupolizeibehörden, denen ein mit denkmalpflegerischen Interessen vertrauter Baubeamter zur Verfügung steht, zu ersuchen, nach einem Verzeichnis der in Betracht kommenden Gebäude und Grundstücke, evtl. auch ganzer Straßenbilder, in vorkommenden Baupolizeifälllen dem Denkmalpfleger Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben. Dieses Verfahren hat sich bisher durchaus bewährt.

Daneben hat der Denkmalpfleger eine Kartothek über die festgestellten Baudenkmale eingerichtet, die im großen und ganzen abgeschlossen ist und an 1200 Nummern aufweist.

Die Bildersammlung des Landesdenkmalamtes, im wesentlichen bestehend aus den Photographien, die seinerzeit für die Abbildungen im Schlie aufgenommen worden waren, ist während des letzten Jahres, teils durch Ankauf von Photographien, teils dadurch vergrößert worden, daß der Denkmalpfleger überall dort, wo zeichnerische Aufnahmen von Baudenkmalen zu haben waren, Originalzeichnungen und Pausen sammelte.

Über die Tätigkeit des Denkmalpflegers im einzelnen ist folgendes mitzuteilen:

Die wichtigsten Baudenkmale in Mecklenburg sind die Kirchen, insbesondere die großen städtischen Kirchen und Klosterkirchen, während die Dorfkirchen, zumal die in der früheren Ritterschaft, zum Teil infolge der zu Anfang erwähnten Umstände weniger bekannt sind.

Hier bot sich Gelegenheit zur Mitwirkung bei Arbeiten in den Wismarer Kirchen, z. B. Wiederaufsetzen der Spitze und

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Ausbessern des einen Flankenturms an dem südlichen Querschiff der Georgenkirche.

Bei der Doberaner Kirche handelt es sich um die Wiederherstellung des in der Kriegszeit abgenommenen Kupferdaches, bei der die unruhigen Dachfensterchen der Möckelschen Restaurierung beseitigt werden sollen, wie auch die noch unruhigeren Dachgauben des Hochschiffes bei Gelegenheit von Instandsetzungsarbeiten allmählich verschwinden werden.

In Güstrow ergab sich die Notwendigkeit, die Orgelempore der Pfarrkirche zwecks Gewinnung eines größeren Platzes für Sänger umzubauen und die Orgel mit einem modernen Werk zu versehen. Hierbei wurden vom Güstrower Stadtbauamt in verständnisvoller Weise alle denkmalpflegerischen Interessen berücksichtigt und an dem äußeren Bild, außer einer Verschiebung der Orgel gegen die Emporenbrüstung, der alte Charakter dieser wuchtigen, eindrucksvollen Barockschöpfung nicht geändert.

Nachdem die Stadt Güstrow von der Kirche den Gertrudenfriedhof mit seiner alten spätgotischen Kapelle gekauft hat, tritt auch an die Stadt die Frage heran, wie diese Kapelle zu erhalten ist. Sie ist in baulich schlechtem Zustande, andererseits schwer verwertbar, und es ist sorgfältig zu überlegen, inwieweit sie möglichst unverändert erhalten werden kann.

Im Güstrower Dom hat die Gemeinde ohne Mitwirkung der Denkmalpflege das wundervolle Kruzifix, das bisher auf der Südseite der hohen Schiffswand an ungünstig beleuchteter Stelle hing, im Chor - zwar nicht an der Stelle unter dem Triumphbogen, sondern etwas weiter nach Osten - wiederaufhängen lassen. Wenn dies auch für die Sichtbarkeit des Kruzifixes ein großer Vorteil war, so befriedigt diese Aufhängung doch nicht und hat zu einem gemeinsamen Handeln der beiden zuständigen Denkmalpfleger geführt. Ob eine Änderung noch möglich ist, bleibt zu prüfen.

Mehrfach konnte der Denkmalpfleger bei Arbeiten an den Dorfkirchen mitwirken. Ein besonders interessantes Beispiel ist die Instandsetzung der Kirche in Vielist bei Waren. Es handelt sich bei dieser Kirche um ein in mancher Beziehung besonders bemerkenswertes Bauwerk mit einem Chor aus dem Anfang des 13. Jahrh. mit innerem Ausbau aus dem Ende des 16. Jahrh. und um l790 und einem breit gelagerten Fachwerkturm mär-

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kischer Art, vermutlich des 18. Jahrhunderts. Diese Kirche war durch jahrelange Vernachlässigung in einen bedauerlichen Zustand des Verfalls geraten, insbesondere drohte der Turm mit allmählichem Einsturz, so daß die Polizeibehörde sich schon genötigt sah, die Kirche zu sperren. Der Patron der Kirche hatte einen Kostenanschlag über die Instandsetzungsarbeiten eingefordert, der eine sehr gründliche Instandsetzung, sogar einen Abbruch des alten Fachwerkturms und massiven Wiederaufbau vorsah. Hier konnte der vom Patron angerufene Denkmalpfleger insofern mit Erfolg einschreiten, als er naturgemäß das Bestreben haben mußte, so wenig wie möglich an der Kirche ausgeführt zu sehen, um den altertümlichen und unberührten Eindruck zu erhalten, sich dagegen nur auf die zur Sicherheit des Bestandes notwendigsten Arbeiten zu beschränken, wodurch er im Interesse des erhaltungspflichtigen Patrons die Kosten der Arbeiten auf einen Bruchteil der zuerst veranschlagten Summe beschränken konnte. Wenn auch noch manches an der Kirche zur vollständigen Instandsetzung (nicht Restaurierung!) fehlt, so ist sie nunmehr doch mit sehr geringen Kosten in ihrem Bestande gesichert. Vor allem zeigt dies Beispiel, wie auch in anderen hier aufgeführten Fällen, daß der Denkmalpfleger in der Regel bestrebt ist, die Kosten einer Instandsetzung möglichst gering zu halten und weitergehenden, der Denkmalseigenschaft meist beinträchtigende Instandsetzungen oder Neuanlagen entgegenzutreten. Die früher bewirkten durchgreifenden und kostspieligen Restaurierungen sind heute abgetan!

Leider gelang es nicht, eine Verunstaltung des charakteristischen spitzen Schindelturms von Ruchow, nämlich durch Ersatz der Schindel mit Zinkblech, zu verhüten.

In Sülstorf bei Schwerin ist leider der Anbau eines Schornsteines für die Heizung ohne Berücksichtigung der reizvollen Renaissancearchitektur und ohne Mitwirkung des Denkmalpflegers erfolgt.

Auf der Kirche in Kladrum wurde der Schindelbelag des alten, originell geschwungenen Barockturms durch Kupfer ersetzt, während eine größere Instandsetzung des massigen Bützower Turms wieder in Schindel erfolgt ist.

In der letzteren Kirche konnte übrigens in jüngster Zeit der alte gotische Hauptaltar wieder in der Chorschlußkapelle aufgestellt werden, nachdem auch der Heizungseinbau aus der Zeit der letzten Restaurierung wegen Anlage einer modernen

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Luftheizung entfernt werden konnte. Hierdurch ist für den in alten Farben prangenden, aber nicht restaurierten, sondern nur konservierten Altar (vgl. Seite 201) ein würdiger Aufstellungsplatz entstanden, der als Taufkapelle benutzt werden soll und in dem einzelne bei den Arbeiten entdeckte Grabsteine Aufstellung gefunden haben.

Die Kapelle Maria zur Weiden vor dem Westende der Marienkirche in Wismar ist in den letzten Jahren durch die Stadt Wismar mit Unterstützung des Landesamtes einer umfangreichen Instandsetzung unterzogen, die allerdings zurzeit unterbrochen ist. Es handelt sich um eine, der besten Blütezeit der Gotik entstammende Kapelle, die vermutlich als Fronleichnams=Kapelle gedient hat, denn sie hat an den beiden Querseiten je zwei seitlich gelegene hohe Tore, durch die Prozessionen ziehen können. Die Kapelle war durch Einziehen eines Zwischenbodens, Zumauern der Fenster und Türöffnungen usw. in einen sehr wüsten Zustand geraten und wurde als Schuppen benutzt. Die Stadt hat die Absicht, hierhin die Bestände ihres Museums, die sich auf Kirchenbaukunst beziehen, zu verlegen, was sehr zweckmäßig ist, da die Kapelle dem bisherigen städtischen Museum, der Alten Schule, direkt gegenüber liegt. Der Denkmalpfleger hätte sich nun zwar damit begnügt, wenn der Zwischenboden belassen und die Gewölbe nicht wieder hergestellt worden wären und wenn man nur Türen, Fenster und sonstige Ausstattungsgegenstände in würdigem Zustand, u. Umst. in neuzeitlichen Formen, hergestellt hätte. Doch wollte die Stadt weitergehen und legte Wert auf eine möglichste Wiederherstellung des alten Raumeindrucks. Es wurden daher zunächst die Gewölbe wieder eingezogen, für die genaue Anhaltspunkte durch die vorhandenen Randbögen, Rippenanfänge usw. sich ergaben. Jedoch verursachten diese Arbeiten schon soviel Kosten, daß die Stadt bald darauf verzichten mußte, an die zunächst folgende Instandsetzung des Äußeren heranzugehen.

Vorsichtige Instandsetzungen konnte die Staatsbauverwaltung an den Klöstern in Rehna und Zarrentin durchführen. Vor allem in Rehna ist es gelungen, ohne nennenswerte Kosten durch Aufräumen von Schutt, Wiederherstellen der alten Fußbodenhöhe, Wiederaufbrechen der vermauerten Fenster und Nischen und Einziehen von Steinpfosten mit Eisenwerk, vorsichtiges Freilegen der Wand- und Gewölbeflächen von Staub

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und ungeschickten Ausbesserungen den alten Kreuzgang fast in alter Schönheit wieder auferstehen zu lassen. Leider fehlt noch der südliche Flügel des Kreuzgangs, der noch im Amtsgericht in der Dienstwohnung und in Teilen des Gefängnisses enthalten ist und auch leider noch durch den davorliegenden Gefängnishof verdeckt wird. In vermauerten Nischen und an bisher unsichtbaren Wandteilen wurden, allerdings unbedeutende, Reste von Wandmalereien gefunden, vor allem aber gelang es, die innere Fläche des Kreuzganghofes soweit zu senken, daß die alten behauenen Granitfundamente des Ostflügels wieder zutage traten. Dieser, bisher als Spielplatz für die nahegelegene Volksschule benutzte Innenhof ist nunmehr durch ein einfaches Gitter gegen die profane Außenwelt abgeschlossen, mit Rasen und einfachen Anpflanzungen versehen und enthält sämtliche Baureste, z. B. Säulentrommeln und Kapitäle aus dem abgebrochenen Ostflügel in museumsartiger Aufstellung.

Besonders zu loben ist die zeitlose Aufteilung der, sonst wohl etwas leer wirkenden, Fensteröffnungen des Kreuzgangs durch einfache, in die obere Leibung stoßende und nicht mit Spitzbogenabschluß versehene Steinpfosten.

Weiter wurde in Rehna in Angriff genommen eine Wiederherstellung des sogen. Kapitelsaals (in Wirklichkeit des Sommerrefektoriums), das bisher als wüster Raum unbenutzt dalag und nunmehr der Kirchgemeinde als Gemeindesaal zur Verfügung gestellt werden soll. Hierbei wurde ein Raum von großer Schönheit wieder zu alter Wirkung gebracht. Vor allem wurden die alten reichfarbigen Wand- und Gewölbemalereien wieder aufgedeckt und der ganze Raum durch Einbau von Fenstern erhellt, so daß auch die zum Teil wundervollen und gut erhaltenen Skulpturen an den Kragsteinen und Schlußsteinen des Gewölbes wieder mit ihren früheren Farbspuren, die zunächst nicht erneuert werden, sichtbar geworden sind.

Wenn es vielleicht auffällt, daß die neuen Fenster dem Korbbogen der alten Toröffnungen folgen und nicht etwa die früher zweifellos vorhandenen Spitzbogenfenster wiederhergestellt sind, so liegt dies daran, daß in Wirklichkeit die jetzige Außenwand in der Barockzeit vor die alte gotische Außenwand vorgeblendet ist und Spitzbogenfenster erst künstlich in ihr hätten hergestellt werden müssen.

In etwas bescheidenerem Umfange konnte in Zarrentin ein großer Teil der sehr schön erhaltenen Räume des Nonnen-

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klosters von Einbauten befreit und einem würdigen Verwendungszweck ohne starke Eingriffe in den alten Bestand zugeführt werden. Am Südgiebel des Klostergebäudes liegt ein mit vier Kreuzgewölben auf Mittelpfeiler bedeckter Raum, der bisher als Hengstenstall benutzt wurde, dahinter nordwärts ein weiterer Raumkomplex, in dem die Wirkung der alten Gewölbe und monolithen Säulen durch Einbau eines Kellers und Einziehen verschiedener Querwände beeinträchtigt war. Diese beiden Räume nebst den Teilen des Kreuzgangs davor wurden für eine Jugendherberge hergerichtet, ebenso der darüberliegende Teil des Dormitoriums, soweit er nicht schon vorher zu einer Dienstwohnung umgebaut war, bei Wiederherstellung der alten, zum Teil vermauerten oder stark entstellten gotischen Fensteröffnungen, in die vorsichtig neue Holzfenster eingesetzt wurden.

Wenn es auch nicht gelang, die alte verschüttete Haupttreppe wieder zum Leben zurückzurufen, da ihre Steigerichtung mit den neueren Verwendungszwecken nicht in Einklang zu bringen war, so konnte doch eine notwendige Verbindung zwischen dem Kreuzgang und dem inneren Raum unter ihr hindurch hergestellt werden, so daß hier die Treppe, mindestens zum Teil, nach außen hin wieder sichtbar wurde.

Die Ausmalung erfolgte in einfachen warmen Tönen, ohne in den Versuch stilistischer Wiederherstellung zu verfallen. Beleuchtungskörper und innere Ausstattung fügen sich dem Charakter der Räume harmonisch an, vor allem ist in den gewölbten Räumen die alte Raumwirkung annähernd wieder erstanden. Es ist hier dank dem Entgegenkommen des Amtes Hagenow, das fast die ganzen Baukosten bestritten hat, für die Jugend ein äußerst stimmungsvoller und schön gelegener Aufenthaltsraum gewonnen und der Denkmalpflege durch Wiederherstellung eines, im übrigen fast unberührten, aus bester Zeit der Gotik stammenden Klostergebäudes ein großer Dienst getan.

Weniger schonend ging die Ortskrankenkasse Rostock mit dem Kloster in Rühn um. Hier ließ es sich, durch die Verwendungszwecke bedingt, nicht vermeiden, starke Eingriffe in den Bestand vorzunehmen. Allerdings konnte dies in dem mittleren Teil des langen Ostflügels deswegen unbedenklich geschehen, weil dieser, der nie gewölbt gewesen ist, schon mehrfach durchgebaut und verändert war und, soweit sich nicht noch beim Freilegen alter Mauerteile herausstellen sollte, kaum

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charakteristische Einzelheiten mehr enthält. Für die beiden wundervollen, äußerst schlichten, aber wirkungsvollen frühgotischen Giebel dieses Bauteiles hat der Umbau leider bedenkliche Folgen gehabt, indem der Architekt die Silhouette veränderte, weil er auf den ganzen Flügel ein neues Dach aufbringen mußte. Der bisher mit einem, an das steile Hauptdach angeschleppten Dach versehene Kreuzgang mußte nun unter ein über dem gesamten Baukörper errichtetes gleich geneigtes Dach gebracht werden, wodurch der First verschoben wurde und die alten Giebel ein schiefes Aussehen bekommen haben. Leider ging dies aus dem vorgelegten Entwurf zunächst nicht hervor, daß die Denkmalbehörde erst eingreifen konnte, als es zu spät war .

Wenn im übrigen an den bisher fertiggestellten Teilen des Umbaues mit manchen Bauteilen, z. B. des Kreuzganges etwas willkürlich umgesprungen wurde, so hat dies keine allzu großen Bedenken, da es sich um verhältnismäßig wertlose Bauteile handelt. Der Denkmalpfleger hat aber Vorsorge getroffen, daß an wertvollen Bauteilen, insbesondere an den für die Baugeschichte interessanten Teilen, z. B. auch all dem alten Scheunen- und Wirtschaftsgebäude mit seinen Bogenstellungen keine Eingriffe gemacht werden.

Bei Anbauten an das Gymnasium zu Wismar wurden die Fundamente eines Teiles der abgebrochenen Kirche des alten Franziskanerklosters entdeckt und zeichnerisch festgelegt.

Leider wurde es notwendig, in Doberan größere Teile der Klostermauer, die durch den schlechten Baugrund stark versacken und mit Einsturz drohen, entweder noch abzustützen oder ganz neu, und dann in neuem Material aufzuführen, wie es auch nicht zu vermeiden war, daß das östliche sogen. Grüne Tor des Klosters aus Verkehrsrücksichten erheblich. unter Wahrung der alten der Zeit um 1800 entstammenden Formen verbreitert werden mußte.

Die alten Stadtmauern in Wittenburg, Penzlin und Röbel wurden unter Denkmalschutz gestellt und mit den betreffenden Städten Näheres über ihre Unterhaltung vereinbart, desgl. wurde in Malchin die Beeinträchtigung eines alten Mauerstückes durch einen neuzeitlichen Stall verhindert. In Penzlin besonders wurde dadurch, daß der Rat der Stadt, als die Stadtmauer mit Einsturz drohte, das Hochbauamt Waren um Rat bat, ein wesentliches Stück der Mauer mit malerisch darangeklebten Häuschen durch einfache bauliche Maßnahmen er-

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halten. Der letzte Rest der Stadtmauer in Wismar war schon vom Abbruch bedroht, weil er wegen ungenügender Fundamentierung einzustürzen schien, doch wurde auch hier der Abbruch verhindert und der Stadt eine Untermauerung der Fundamente empfohlen.

In Neustadt wurde das für das 18. Jahrhundert charakteristische Parchimer Tor zunächst vor dem Abbruch bewahrt, der es als Verkehrshindernis bedrohte. In Ribnitz dagegen erbat die Stadt die Hilfe des Denkmalpflegers bei einer Freilegung des schönen alten Rostocker Tores, die durch den sehr starken Kraftwagenverkehr zu den Ostseebädern leider unvermeidlich war. Es ist hier ein Umleitungsprojekt für den Verkehr ausgearbeitet worden, das vor allem davon ausging, daß von der Innenseite der Stadt aus das Straßenbild geschlossen bleibt und von der Außenseite her die unvermeidliche Verbreiterung der alten Bogenbrücke in gefälligen und dem malerischen Stadtbild angepaßten Formen erfolgen soll. Leider ließ es sich nicht vermeiden, ein an das Tor stoßendes Stück der alten Stadtmauer, das im übrigen keine große Bedeutung hatte, zu opfern.

Mit der gärtnerischen Neugestaltung der Fischerbastion in Rostock konnte der Denkmalpfleger sich nicht einverstanden erklären; sie war leider ohne sein Wissen erfolgt, so daß Änderungen nicht mehr vorgenommen werden konnten. Es mußte sogar der Rat der Stadt erst davon überzeugt werden, daß die Fischerbastion mit den gesamten Wallanlagen in Rostock als ein wesentlicher Bestandteil der alten Stadtbefestigung unter Denkmalschutz steht und gärtnerische Anlagen darauf unter möglichster Wahrung der alten Bastionsformen, also z. B. ohne künstliche Stiitzmauern, wie sie leider angebracht sind, und hohe, beengende Drahtgitter ausgeführt werden müßten.

Ohne Erfolg mußte die Bemühung des Denkmalpflegers bleiben in Diekhof. Hier ist das schöne alte Barockschloß in seinen oberen Teilen, insbesondere im Dach, durch Schwamm von völliger Zerstörung bedroht, wenn nicht bald etwas Durchgreifendes geschieht. Künstlerisch wertvolle Teile sind noch nicht ergriffen; das bisher Zerstörte läßt sich noch, nach unzerstörten Vorbildern an anderer Stelle, ergänzen, doch werden die Kosten so hoch, daß sie bei der heutigen Wirtschaftsnot nicht aufzubringen sind.

Am Fürstenhof in Wismar vernotwendigte sich die Instandsetzung der Figuren über dem inneren Portal, die durch Frost-

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absprengungen und Verrosten der Dübel und Befestigungseisen von völliger Zerstörung bedroht waren. Sie wurden von dem dicken, aber zersprungenen Ölfarbenanstrich der Restaurierung von 1879 befreit, die Eisenteile wurden durch Bronzeteile ersetzt, fehlende Glieder eingefügt und das Ganze vorsichtig überarbeitet, so daß die Figuren jetzt wieder in alter Frische prangen. Leider ließ sich ein stärkerer Eingriff in das alte Bützower Schloß, das jetzige Zentralgefängnis, dadurch nicht vermeiden, daß eine starke Senkung des Wasserspiegels der Warnow die Schloßgräben fast völlig trocken legte, die im übrigen schon in den letzten Jahren immer stark an Wassermangel gelitten hatten, zum Teil an den Uferrändern ausbetoniert und auf einer Strecke schon zugeschüttet waren. Hier sorgte der Denkmalpfleger dafür, daß die nunmehr trockenen Gräben besonders durch Anpflanzungen an den wichtigsten Stellen für das Auge als Abschluß der Schloßinsel sichtbar bleiben, vor allem vor dem sogen. Krummen Hause, das als ältester, nicht wie das Hauptgebäude "verrestaurierter" Bauteil dem von der Stadt Kommenden ins Auge fällt.

Für die alten Burgen des Landes z. B. Wredenhagen, Neustadt, Kurzen-Trechow, Stuer, Penzlin und Plau, bot sich Gelegenheit zur Besprechung mit den Eigentümern über die zur Erhaltung dienenden Maßnahmen. Bei Neustadt ist leider zu berichten, daß durch die Wirkung des Frostes der Teil des hohen Wehrganges westlich des runden Turms fast völlig zerstört ist und nun in ungefährem Anklang an die alten Formen, doch nicht unter Nachahmung derselben, wieder aufgemauert werden muß. Kurz zuvor mußten Ausbesserungen an der Burg an dem Westgiebel des alten Herrenhauses stattfinden, wo, durch unsachgemäße Dachkonstruktionen des 18. Jahrhunderts veranlaßt, größere Teile des Mauerwerks heruntergestürzt waren.

Die Reste des alten Schlosses in Lübz sind jetzt vom Staat als Rathaus an die Stadt verkauft worden; auch hierbei bot sich Gelegenheit, mit der Stadt über die Erhaltung der im alten Amtshause steckenden Baureste und des sogen. Amtsturms, insbesondere aber über die Erhaltung des vor dem Amtshause liegenden Schloßgrabens Fühlung zu nehmen.

Nicht ausreichend ist ja das Denkmalschutzgesetz bei dem Schutze der in Privathand befindlichen Baudenkmale, insbesondere der Bürgerhäuser in den Städten. Hier heißt es vor allem, den Eigentümer davon zu überzeugen, daß Eingriffe des Denkmalpflegers auch in seinem Interesse sind, oder sich auf die

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Sorge dafür zu beschränken, daß an Stelle von unhaltbaren alten Bauten neue treten, die sich dem Stadtbild harmonisch einfügen, oder Umbauten so zu gestalten, daß sie das Wesentliche des Denkmals unangetastet lassen.

Umfangreiche Versuche wurden zunächst gemacht bei dem im Besitze der Stadt Wismar befindlichen sogen. Schabbelhaus (oder Koch`schen Brauerei), die dringendsten Erhaltungsmaßnahmen durchzuführen, wahrscheinlich jedoch ohne endgültigen Erfolg. Dieses wertvolle, von Brandin stammende Patrizierhaus mit seiner reichen Sandsteinarchitektur ist wahrscheinlich unaufhaltsam dem Untergang geweiht, da die Hausteinteile schon jetzt größtenteils völlig zermürbt sind und nur noch notdürftig durch die Zementausbesserungen früherer Jahre, die im übrigen nicht unwesentlich zu der schnellen Zerstörung durch Frost beigetragen haben werden, zusammengehalten werden. Der hier verwandte Stein kann offenbar die durch die Steinkohlenfeuerung erzeugten schwefligen Gase nicht aushalten und zersetzt sich völlig. Will man nicht die außerordentlich hohen Kosten für eine völlige Erneuerung des Steines nach den alten Vorbildern aufwenden, wozu der um ein Obererachten gebetene Oberbaudirektor Baltzer aus Lübeck letzten Endes schweren Herzens riet, so bleibt nur übrig, die losen Teile abzuschlagen und durch zeitlose Putzgliederungen oder ähnliche Formen zu ersetzen in der Hoffnung, dann wenigstens den Gebäudekörper als solchen zu erhalten, der im übrigen im Innern und in seinen Hofteilen noch genügend an Interessantem und an Denkmalswertem birgt. Jedoch konnte die große Diele und der alte Brauereiraum insofern verwertet und damit auch teilweise im Denkmalsinteresse einer besseren Erhaltung zugeführt werden, als darin unter Schonung der alten Teile ein behaglicher Kneipraum eingebaut ist.

Aus der bekannten Häusergruppe in der Lübschen Straße in Wismar sind einige Häuser vom Verfall bedroht, weil die Eigentümer die Kosten für die notwendigsten Instandsetzungen nicht aufbringen können, da sie die Gebäude weder als Wohnhaus noch als Speicher mehr verwerten können. Hier muß man sich ebenfalls darauf beschränken, den Fortschritt des Verfalls zu beobachten und den Besitzer dazu zu veranlassen, mit kleinen Mitteln eine Verschlimmerung des Zustandes zu verhüten.

Im übrigen zeigte sich in Wismar, daß durch den starken Lastkraftwagenverkehr auf den engen, steingepflasterten

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Straßen die alten Giebel durch Risse mit dem Einsturz bedroht sind, so daß der Denkmalpfleger sich veranlaßt sah, an den Rat der Stadt warnend hierüber zu berichten und ihm im Interesse der alten Giebelhäuser ein Einschreiten gegen den Lastkraftwagenverkehr zu empfehlen. Dies trifft z. B. auch auf den schönen gotischen Giebel des Wädekinschen Hauses in der Altwismarstraße zu, wo vorläufig durch Ausbesserung und Verankern der Mauermassen eine weitere Zerstörung verhindert werden konnte.

In Güstrow ließ die Stadt aus Verkehrsrücksichten ein altes Fachwerkhaus am Gleviner Tor abbrechen. Leider konnte auch hier der Denkmalpfleger nicht rechtzeitig genug eingreifen. Es wurde aber veranlaßt, daß von dem Hause eine genaue Aufmessungszeichnung durch das Stadtbauamt angefertigt wurde. Der Einbau eines Ladens in dem schönen spätgotischen Hause Mühlenstraße Nr. 48 in Güstrow geschah dagegen von vornherein unter Mitwirkung und mit Zustimmung des Denkmalpflegers, der keine Bedenken hatte, die nicht mehr ursprünglichen Zimmerfenster des Erdgeschosses mit ihren harten Stichbögen durch eine Öffnung gleich dem weicheren Korbbogen des Portals zu ersetzen. Der hierbei in der Fensternische verloren gehende Rest der größtenteils schon zerstörten Stuckdecke des dahinterliegenden Raums wurde photographiert.

Die Altstadt in Rostock hat im letzten Jahre ganz empfindliche Verluste an ihren alten Giebelhäusern, die z. B. am Wendländer Schilde in einem ganz besonders schönen Straßenbild noch vorhanden waren, durch Brand erlitten. Wenn hier auch die eigentliche Denkmalpflege von selbst aufhört, da an den stehengebliebenen Ruinen kaum noch etwas als Denkmal zu bezeichnen ist, so mußte der Denkmalpfleger sich doch für die Wiederbebauung insofern interessieren, als sie für die Umgebung der Nikolaikirche von größter Bedeutung ist. Leider ist ihm seitens der städtischen Behörden das Wiederaufbauprojekt erst dann und auch nur auf besondere Anfrage hin mitgeteilt, als es schon im Bau war. Er hätte sonst den Versuch gemacht, das Zurückspringen der Fassade am Wendländer Schilde das in die Straßenwand ein Loch reißt und besonders im Anblick der kahlen Brandmauer von der Nikolaikirche her sehr unschön wirkt, zu verhindern.

Bei einem anderen Grundstück in der Altstadt konnte unter Bewilligung von Mitteln seitens des Denkmalamtes die Er-

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haltung eines charakteristischen alten Rostocker Pfannendaches bewerkstelligt werden, nämlich bei dem Hause Mühlenstraße Nr. 18, das mit seinen ausgekragten Fachwerkgiebeln vor dem Turmmassiv der Nikolaikirche ein besonderes malerisches Bild gibt.

Bei einigen anderen alten Rostocker Bürgerhäusern konnte der Denkmalpfleger mitwirken, indem er z. B. bei der hübschen, vom Markt aus sichtbaren Gruppe Kistenmacherstraße Nr. 12-13 auf Ersuchen der Baupolizeibehörde den Farbenanstrich im letzten Augenblick vor einem grellen Mißklang behütete. Wäre ein früherer Eingriff möglich gewesen, so hätte der Denkmalpfleger zweifellos versucht, dem schönen Renaissancegiebel durch stärkere farbige Abstimmung ein lebhafteres Aussehen zu verleihen.

Der gründliche Umbau eines Hauses in der Nähe des Alten Marktes, Amberg Nr. 14, brauchte nicht verhindert zu werden, da der Giebel bei Veränderung der Fenster im ganzen erhalten wird und auch für den Umbau des Hinterhauses, das in der Silhouette der Stadt vom Wasser aus gesehen stark sichtbar ist, eine einigermaßen annehmbare Lösung gefunden werden konnte.

Durch den Umbau eines Hauses in der Schröderstraße in Rostock ergab sich die Notwendigkeit, den dort eingemauerten, zweifellos aber nicht an ursprünglicher Stelle stehenden Gertrudenstein, d. i. eine Beischlagwange des Gertrudenhospitals, das man in der Kröpeliner Straße vermutet, vor Zerstörung oder mindestens ungeeigneter Verwendung zu schützen. Nach langen Verhandlungen mit dem Besitzer wurde erreicht, daß der Stein im Rostocker Altertumsmuseum aufgestellt werden konnte.

Weniger glücklich ist das Schicksal des Denksteins des Bernt v. Coppelow, der auf der Feldmark des Dorfes Großen-Klein bei Warnemünde steht. Hier mußte festgestellt werden, daß, vielleicht in guter Absicht, ungeschickte Hände die verwitterten Umrisse der Figuren und der Schrift mit einem so scharfen eisernen Gegenstand nachgezogen haben und dabei in Wirklichkeit den Stein so gut wie ruiniert haben, daß nunmehr die eigentliche Skulptur überhaupt kaum noch zu erkennen ist. Nachforschungen nach den Tätern sind natürlich ergebnislos gewesen.

Ein ähnlicher Denkstein, das Steinkreuz in Selow bei Bützow, wurde dank des verständnisvollen Entgegenkommens

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des Eigentümers gesäubert und, da er mitten auf dem Acker steht, vor Anfahren geschützt, wie auch der Rat der Stadt Wittenburg den sogen. Grafenstein bei Wittenburg vor Beschädigungen schützen will.

Sein besonderes Interesse wandte der Denkmalpfleger in letzterer Zeit den sogen. technischen Kulturdenkmalen zu, die auf Betreiben des Heimatbundes und des Deutschen Museums festgestellt, gesammelt und möglichst gezeichnet und photographiert werden sollen. Es handelt sich hier zwar weniger um eigentliche Denkmale im Sinne des Denkmalschutzgesetzes als um Zeugen der alten bäuerlichen und industriellen Kulturerzeugnisse, oft sehr einfacher Art, wie z. B. die Betriebseinrichtungen von Wassermühlen, Windmühlen und insbesondere der Bockmühlen, von landwirtschaftlichen Maschinen, besonders eigenartigen Anlagen von Scheunen u. dgl. Es wurde in mehreren Fällen die zeichnerische und photographische Aufnahme dieser Dinge bewirkt, dagegen davon abgesehen, sie ausdrücklich unter Denkmalschutz zu stellen. Dies geschah nur in dem Falle der alten Saline in Sülze, wo unter besonderer Festlegung der etwa zu treffenden Maßnahmen die Gradierwerke mit der noch darauf stehenden, allerdings halb verfallenen Windmühle für den Pumpenantrieb unter Denkmalschutz gestellt wurden. Hierhin gehört auch z. B. die Frage, ob die letzte noch erhaltene hölzerne Zugbrücke in der Lewitz über den Störkanal abgebrochen und durch eine eiserne ersetzt werden sollte oder nicht. So schwer man auch die schöne alte hölzerne Brücke in dem Landschaftsbild des durch den Wald sich ziehenden Kanals vermißt und so wenig sie letzten Endes in ihrer Materialverbundenheit mit dem Wald durch eine eiserne Brücke ersetzt werden kann, so konnte doch der Denkmalpfleger in objektiver Würdigung der ganzen Umstände dem Abbruch sich nicht entgegenstellen.

So fand der Baudenkmalpfleger in den ersten l 1/2 Jahren der Wirksamkeit des Denkmalschutzgesetzes schon ein reiches Tätigkeitsfeld vor, das, wenn auch die Not der Zeit eine wirklich wirksame Arbeit in der Erhaltung von Denkmalen zunächst verhindern wird, doch, wenn erst die Öffentlichkeit sich mit dem Gedanken des Denkmalschutzes mehr vertraut gemacht hat, noch zu einer ganz erheblich umfangreicheren, ersprießlicheren und befriedigenderen Tätigkeit führen wird.

Lorenz.


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III.

Denkmale der Kunst und des Kunstgewerbes.

Aus dem Geschäftsbereich des Denkmalpflegers für Kunst und Kunstgewerbe ist über zwei besonders umfangreiche Arbeiten zu berichten: die Konservierung des Bützower Altars von 1503 und des Rühner Altars von 1578.

Der Bützower Altar, ein gotisches Pentaptychon mit Schnitzereien im Schrein und auf den Flügel-Innenseiten sowie sechs gemalten Tafeln, war in seiner Erhaltung stark gefährdet: besonders die gemalten Tafeln erweckten schwerste Befürchtungen. Die Behandlung geschah mit finanzieller Unterstützung des Landesamts. Die Malereien wurden durch den Restaurator der Staatlichen Gemäldegalerie zu Dresden, Professor Krause, unter Beschränkung auf Festlegung lockerer Farben und Auffrischung konserviert, Fehlstellen wurden nicht ausgemalt. Die Gemälde haben durch diese Behandlungsweise ihren ursprünglichen Charakter behalten und nichts an Originalitätswert eingebüßt. Das hier beobachtete Prinzip hat sich bewährt; seine Anwendung empfiehlt sich besonders für Altäre, deren Malereien nicht dauernd sichtbar sind oder die nicht mehr vom Kult in Anspruch genommen werden, sie ist auch gegenüber der früheren Methode einer Restaurierung weit billiger.

Bei den Schnitzereien hat die Firma Puckelwartz in Dresden nach Möglichkeit nur dort ergänzt, wo es der technische Zusammenhalt erforderte. Eine jedermann klare Scheidung zwischen Alt und Neu ist völlig befriedigend noch nicht herausgebracht; hierfür werden noch weitere Versuche nötig sein.

Wenn auch die heutige Denkmalpflege die kategorische Forderung aufstellt, daß derartig umfassende und heikle Arbeiten nur unter dauernder Mitwirkung und Kontrolle des Denkmalpflegers vorgenommen werden, ist dies doch in Mecklenburg-Schwerin nicht durchführbar, weil weder der Staat noch seine Museen über ein Konservierungsatelier verfügen. Im Falle des Bützower Altars haben die finanziellen Verhältnisse sogar die so nötige grundlegende Besprechung zwischen dem Denkmalpfleger und den ausführenden Kräften verhindert. Somit mußte sich die Landesdenkmalpflege für die Konservierung der Malereien mit brieflichen Weisungen behelfen, während bei der Behandlung der Schnitzwerke das Sächsische Landes-

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amt für Denkmalpflege bereitwillig und dankenswert die Überwachung und Beratung des Technikers übernahm.

Weit einfacher gestaltete sich die Konservierung des Rühner Altars, ebenfalls durch Professor Krause in Dresden ausgeführt. Die Verhältnisse lagen besonders günstig, weil die Mitteltafel und die für den Kult allein in Frage kommenden Flügel-Innenseiten (vgl. die S. - beigegebenen Abbildungen) zwar sehr verschmutzt und durch starke, über die ganzen Gemälde sich ausdehnenden Aufbeulungen gefährdet waren, aber weder Fehlstellen noch erheblichere frühere Übermalungen aufwiesen. Der Konservator konnte sich daher auf die Reinigung, Festlegung und Auffrischung beschränken. Auf den Flügel-Außenseiten dagegen war die Farbschicht nicht nur sehr defekt, sondern auch überwiegend nicht mehr original. Der Landesdenkmalpfleger gestattete daher dem Restaurator eine Wiederherstellung.

Die Rettungsarbeit am Rühner Altar hatte die bedeutsame Folge, daß nach Wegnahme des erstorbenen Firnis drei Künstlersignierungen des Cornelius Krommeny zutage traten, so daß der Streit über den Meister nunmehr endgültig entschieden ist.

Weniger umfassend waren die Arbeiten am gotischen Schreinaltar zu St. Marien in Röbel, für die das Landesamt einen Geldzuschuß bewilligte.

Über die Altäre zu Cammin b. Laage und Retschow wurden ausführliche Gutachten erstattet; der gotische Altar der Kirche zu Warnemünde wurde auf den Rat des Denkmalpflegers behandelt und gesicherter aufgestellt.

Von kleineren Arbeiten seien mehrere Gutachten über Kircheng1ocken erwähnt. In besonders gelagerten Verhältnissen konnten gesprungene Glocken zur Einschmelzung freigegeben werden, im allgemeinen wird aber darauf bestanden werden müssen, daß die wegen hohen künstlerischen oder antiquarischen Wertes durch die Kriegszeit geretteten Glocken unantastbar geworden sind, auch dann, wenn sie nicht mehr ihrem Zweck dienen können. Das Schweißverfahren der Lübecker Firma Ohlsen zur Wiederherstellung gesprungener Glocken hat sich auch in Mecklenburg-Schwerin mehrfach bewährt.

In einer Reihe von Fällen hat das Landesamt veranlaßt, daß gefährdete Objekte in die Mecklenburgischen Staatsmuseen überführt und dadurch gerettet wurden.

Josephi

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X.

Bücherbesprechungen.

 

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Staatsminister i. R. D Dr. Adolf Langfeld, Mein Leben. Erinnerungen. Schwerin (Bärensprungsche Hofbuchdruckerei) 1930.

Allmählich wächst in unserm Vaterlande eine Generation heran, die von dem alten Deutschland und seinen hervorragenden Leistungen auf allen Gebieten staatlichen und kulturellen Lebens wenig weiß. Die Gründe liegen auf der Hand. Die neue Generation, die bald für das Wohl des Landes verantwortlich sein wird, steckte noch in den Kinderschuhen, als das alte Deutschland blühte und schließlich nach heldenhaftem Kampf den Feinden unterlag. Die ungeheuren technischen Erfolge und sportlichen Leistungen der Gegenwart nehmen ihr Interesse vorwiegend in Anspruch. Dazu steht sie in der Not der heftigen wirtschaftlichen Kämpfe, die unser Land erschüttern. Und doch kann die Tradition in ihrem Wert für die Entwicklung und die Erfolge eines Volkes nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist daher sehr zu begrüßen, daß nach dem Kriege zahlreiche Geschichtswerke und Lebenserinnerungen es sich zur Aufgabe gestellt haben, auf die Leistungen der Vorfahren hinzuweisen, damit die Jugend daraus für die Zukunft lernen kann.

Ein solches Ziel verfolgen auch die Erinnerungen des Staatsministers Langfeld. Er schildert ein in mancher Hinsicht typisches mecklenburgisches Beamtenleben mit großer Liebe und in der klaren Ausdrucksweise, die ihm eigen ist. Bis zur höchsten Stellung im Staate führten ihn selbst hervorragende juristische Begabung und unermüdliche Pflichttreue. Er ist der letzte Staatsminister des alten Mecklenburg gewesen und war als solcher besonders berufen, von der Vergangenheit zu erzählen. Wir danken ihm, daß er sich trotz seines hohen Alters zu den Aufzeichnungen noch entschlossen hat. Sie bieten einen sehr beachtlichen Beitrag zur politischen, Rechts-und Verfassungs-Geschichte Mecklenburgs während der letzten 60 Jahre und gehen auch auf die Beziehungen Mecklenburgs zum Deutschen Reiche ein.

Den reichen Inhalt der Langfeldschen Erinnerungen können wir hier nur streifen. Hingewiesen sei vor allem auf die Schilderungen seines Entwicklungsganges, seiner Arbeiten für das BGB, und für die mecklenburgischen Ausführungsverordnungen und seiner Verhandlungen mit den Ständen um eine zeitgemäße Reform der Landesverfassung. Auf die Gründe, die nach dem Thronfall in Mecklenburg-Strelitz den so sehr wünschenswerten Zusammenschluß der beiden stammverwandten mecklenburgischen Länder, hoffentlich nur vorübergehend, verhindert haben, wirft das Buch ein helles Licht. Langfeld ist geborener Rostocker. In der alten Hansestadt hat er 1854 das Licht der Welt erblickt und eine glückliche Jugend verlebt. Die Universitäten Leipzig, Heidelberg und Rostock waren für ihn, wie für viele andere Mecklenburger, die Bildungsstätten. In Schwerin hat Langfeld dann seinen eigentlichen Wirkungskreis und eine zweite Heimat gefunden. Männer des öffentlichen Lebens aus längst vergangener Zeit und alte heimatliche Einrichtungen

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werden durch sein Buch wieder lebendig. Es ist erstaunlich, wie er alles im Gedächtnis behalten hat. Es sei nur erinnert an die köstliche Schilderung der Sternberger Landtage seligen Angedenkens. Auch von seinem Privatleben und seinen Reisen, die ihn besonders häufig in die geliebten Schweizer Berge geführt haben, wird der Leser gern Kenntnis nehmen. Über der ganzen Darstellung schwebt die abgeklärte Auffassung eines Mannes, der von hoher Warte auf ein reich gesegnetes Wirken zurückblickt.

Das Buch ist 1931 bereits in zweiter Auflage erschienen.

Stuhr.

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Dmitrij Nik. Jegorov, Die Kolonisation Mecklenburgs im 13. Jahrhundert. Bd. I: Material und Methode. Übers. von Harald Cosack. XV u. 438 S. Mit einer Beilage (Ratzeburger Zehntenregister). Bd. II: Der Prozeß der Kolonisation. Übers. von Georg Ostrogorsky. XXI u. 485 S. Mit 2 Karten. Herausg. v. Osteuropa-Institut: Bibliothek geschichtl. Werke aus den Literaturen Osteuropas, Nr. 1, Breslau, Priebatschs Buchhandlung, 1930.

Dieses umfangreiche Werk ist 1915 in russischer Sprache erschienen. Der deutschen Forschung blieb es unbekannt, bis in der Zeitschrift für slavische Philologie II, 1925 eine Besprechung von dem Grazer Gelehrten H. F. Schmid herauskam. Weil es sich allem Anschein nach um ein für die Geschichte der deutschen Kolonisation wichtiges Werk handelte, hat das Breslauer Osteuropa-Institut die vorliegende Übersetzung veranstaltet. die als sehr lesbar zu begrüßen ist.

Der Verfasser hat sich mit den einschlägigen Quellen genau bekannt gemacht und mit Bienenfleiß versucht, sie, besonders durch Untersuchungen über Genealogie und Wappen der auftauchenden Rittergeschlecher und über die Wirkung der Kolonisation auf die Ortsnamen, zu ergänzen. Auch hat er die Literatur in einem Maße herangezogen, wie es weniger sprachkundigen Forschern nicht möglich ist. Es ist ihm auch zuzugestehen, daß eine staunenswerte allgemeine Belesenheit ihn befähigt hat, vergleichende Ausblicke über die Grenzen eines Themas hinaus zu gewinnen. Trotzdem ist das Buch ein Mißerfolg geworden, weil die Quellenforschung ungeachtet aller Mühseligkeit in die Irre geführt hat.

Das Ergebnis des Werkes nämlich geht dahin. daß keine der bisher über die Kolonisation und Germanisierung Mecklenburgs vertretenen Anschauungen recht habe, sondern daß die Wenden selbst seit dem 12. Jahrhundert dazu übergegangen seien. ihren - von Jegorov wider alle Wahrscheinlichkeit angenommenen - Bevölkerungsüberschuß auf dem gerodeten Waldboden, d. h. an den Grenzen ihrer von Wald umgebenen terrae anzusiedeln. Nicht Menschenarmut also habe die Kolonisation im Slavenlande hervorgerufen, sondern eigener Überfluß an Bewohnern. Zwar gesteht Jegorov zu, daß eine deutsche Einwanderung. die sich nun einmal unwiderleglich aus den Quellen ergibt, "in zweifellos bedeutendem Ausmaß" stattgefunden habe (I, S. 404; vgl. II, S. XII), bezeichnet sie aber als "nicht maßgebend"; denn er schiebt alle Initiative bei

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dem Siedlungswerk dem slavischen Adel zu und betrachtet die Deutschen mehr als geduldete Kömmlinge. In der Ritterschaft seien sie in der Minderheit gewesen, stärker vertreten unter Bürgern ,und Geistlichen, am stärkten unter den Bauern, als welche sie sich unter denselben Bedingungen angesiedelt hätten wie ihre slavischen Nachbarn. Jegorov kehrt also die bisherige Lehre um; nicht die Deutschen hätten kolonisiert, sondern es handele sich um einen innerslavischen Vorgang, eine große Binnensiedlung der Wenden, an der Deutsche eben nur teilgenommen hätten. Es stelle sich heraus, daß die -von Jegorov apostrophierte - "Großtat der Deutschen" im Kolonisationsgebiete "weder eine große noch eine deutsche Tat gewesen" sei (II, S. 438). Und auf die dem gegenüber berechtigte Frage, wie denn Mecklenburg ein deutsches Land geworden sei, antwortet Jegorov (II, S. 474), daß die Germanisierung sich ,,im Laufe einer sehr langen Zeit" vollzogen und "sehr komplizierte Gründe" gehabt habe. "Sie erfolgte," so fährt er fort, "nicht nur infolge des Vorhandenseins oder des ,Übergewichtes' der Deutschen im Lande, sondern auch infolge des Eintritts Mecklenburgs in engeren Verkehr mit dem Westen, entsprechend der Erstarkung des Handels wie auch anderer wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen. Durch Vermittlung deutschen Milieus drang der westliche Lebenswandel unaufhaltsam in alle Adern des Volkskörpers ein, während die Abgeschiedenheit von der östlichen slavischen Masse ein nationales Gegengewicht nicht aufkommen ließ." "Den endgültigen Schlag" habe aber erst die ungeheure Verringerung der Bevölkerung durch den Dreißigjährigen Krieg versetzt; sie habe eine "neue Kolonisation" erfordert, die "nun allerdings mit einer Germanisierung gleichbedeutend wurde."

So nimmt Jegorov für die eigentliche Germanisierung eine Zeit an, die 400-500 Jahre später liegt als die Periode, in die man bisher mit gutem Recht die Durchführung der Germanisation verlegte. Wenn früher Ohnesorge 1 ) die nicht weiter von ihm begründete Vermutung ausgesprochen hat, daß "die allerletzten Spuren" des Wendentums in Ostholstein und Mecklenburg durch den Dreißigjährigen Krieg beseitigt seien, so bedient sich jetzt Jegorov dieses Krieges, um einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, in das ihn seine eigene Forschung gebracht hat. Wer einigermaßen die Quellen übersieht, der weiß, daß Mecklenburg schon in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters ein deutsches Land war, in dem man die deutsche Sprache redete. Daran ändern auch die Reste der slavischen Bevölkerung nichts, die allmählich aufgesogen wurden. Und wenn nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges Bauern aus benachbarten Ländern sich in Mecklenburg seßhaft gemacht haben, so erinnert doch dieser Zuzug nicht von ferne an eine "neue Kolonisation" nebst Germanisierung, wie Jegorov sie für das 17. Jahrhundert aus der Luft zaubern möchte.

168 Seiten des 1. Bandes sind einem Generalangriff auf Helmolds Slavenchronik gewidmet, aus der man früher auf eine besonders schnelle Durchführung der Germanisation schon im 12. Jahrhundert hatte schließen wollen. Daß die vielumstrittene Chronik, so prächtig sie erscheint, ihre Mängel hat und nicht überall als zuverlässig gelten kann, läßt sich kaum verkennen. Jegorov hat


1) Zeitschr. f. lübeckische Gesch.., XII, S. 220.
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sie aufs neue einer sehr eindringenden Kritik unterzogen und hat die Quellen Helmolds, seine Arbeitsweise, seine historische und kirchenpolitische Auffassung mit viel Geist und Geduld untersucht. Das Urteil aber, das er über ihn fällt, ist viel zu hart; es kommt völliger Verwerfung gleich, obwohl er den Chronisten keiner bewußten Tendenz beschuldigt. Er stellt Anforderungen an ihn, die auch andere mittelalterliche Geschichtsschreiber nicht erfüllen, ohne doch deswegen zum alten Eisen geworfen zu werden. Ja, mitunter läuft Jegorovs Kritik fast auf den Tadel hinaus, daß Helmold nicht die Methode moderner Historiker befolgt habe. An der mangelnden oder mangelhaften urkundlichen Forschung, die er ihm vorwirft, leiden manche erzählende Quellen, und wenn es bei Jegorov I, S, 11, Anm. 45 heißt: "Anstelle der Urkunde setzt Helmold den Hergang selbst" so ist an dieser Arbeitsweise des Chronisten jedenfalls nichts auszusetzen.

Der schon bekannten und ohne weiteres einleuchtenden Abhängigkeit der Sprache Helmolds von der Bibel hat Jegorov bis ins einzelne, aber mit überspitzter Kritik nachgespürt. Die Abhängigkeit entspreche der literarischen Zeitrichtung, doch soll das biblische Vorbild Helmold so unwiderstehlich bei seiner Erzählung beeinflußt haben, daß die historische Wahrheit unter dem Schleier der Biblifizierung nicht mehr herauszufinden sei. Auch dies ist eine Übertreibung. Die Vergleiche, die Jegorov zwischen Stellen in der Bibel und bei Helmold zieht, überzeugen nicht immer, und es ist auch nicht einzusehen, warum die Anlehnung an die biblische Sprache zur Verfälschung der auf diese Weise geschilderten Vorgänge geführt haben muß.

Nach Jegorov (I, S. 70 f.) hätte Helmold ,,die Legende der Christianisierung der Slavenlande", "eine kollektive Vita" geschrieben. Aber so wenig der kirchliche Standpunkt des Chronisten zu bezweifeln ist, so sicher schießt dieses Urteil über das Ziel hinaus.

Im Folgenden (I, S. 169-225) gibt der Verfasser eine sehr brauchbare Übersicht über die bisherige einschlägige Geschichtsschreibung. Er wendet sich dann den Quellen zu, auf die er sich nach seiner Ablehnung Helmolds stützen will. Hier steht an erster Stelle das Ratzeburger Zehntenregister von 1229/30, das in einem auf einer Nachzeichnung beruhenden und deshalb mißlungenen Faksimile beigegeben ist. Die Ausführungen, die Jegorov über das Register macht, stehen in starkem Gegensatze zu denen Hellwigs 2 ), sind aber geeignet, uns Zweck und Anlage der wertvollen Geschichtsquelle besser verstehen zu lehren. Ferner wird das von Jegorov so bezeichnete "zusätzliche", den Hilfswissenschaften abzuringende Material behandelt, das er aus den Urkunden, der Genealogie, der Heraldik und der Ortsnamenkunde gewinnt und dem sich dann noch ,,Materialien zweiten Ranges" (Siedlungsformen, Haustypen, Stadtpläne) anreihen, mit denen der Verfasser wenig anzufangen gewußt hat.

Näher auf derartige Untersuchungen einzugehen, die erst die Grundlage für die eigentliche Erforschung der Kolonisation in Mecklenburg abgeben sollen, würde hier viel zu weit führen. Es sei nur darauf hingewiesen, daß die genealogischen Ermittelungen, die für die Familienzusammenhänge der auftauchenden Rittergeschlechter


2) Bd. 69 dieser Jahrbücher
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wichtig sind, auf um so größere Schwierigkeiten stoßen, als wir oft nur die Vornamen aus den Urkunden erfahren. Die Heraldik, der ein starkes Kapitel gewidmet ist, sucht Jegorov zum ersten Male der Geschichtserkenntnis dienstbar zu machen. Es kommt ihm dabei hauptsächlich auf die Frage an, ob sich die örtliche Herkunft der Wappenenembleme bestimmen läßt, um so einen Schluß auf die Nationalität der Adelsfamilien ziehen zu können. Höchst zweifelhaft bleibt aber, ob die Embleme, die Jegorov für slavisch glaubt ansehen zu dürfen, durchaus nur slavisch sein müssen. Mit Recht hat H. Witte in einer eingehenden Besprechung des Jegorovschen Werkes 3 ) darauf hingewiesen, daß die Frage, ob sich die Wappen überhaupt nach Ursprungsgebieten unterscheiden lassen, noch keineswegs gelöst ist. Wahrscheinlich ist sie überhaupt nicht zu lösen.

Bei seinen Betrachtungen über die Ortsnamen oder das "toponomastische Material" betont Jegorov, daß es weniger auf die rein sprachliche Deutung der Namen ankomme, als darauf, festzustellen, wie die Kolonisation auf die Namengebung eingewirkt habe. Äußerst verblüffend und unzutreffend ist es aber, daß er die Zahl der "neuen Namen" für "sehr gering" erklärt (I, S. 360). Damit läßt sich die große Menge der deutschen Ortsnamen nicht beiseite schieben. Allerdings meint Jegorov, daß viele, die deutsch klängen, in Wirklichkeit krypto-slavisch seien; doch sind solche sprachlichen Umwandlungen der Namen gerade der beste Beweis für eindringendes Deutschtum 4 ).

Wenn der Inhalt des 1. Bandes als "Material und Methode" bezeichnet wird, so sind doch in ihm schon manche der Thesen Jegorovs angedeutet und ausgesprochen, die wir im 2. Bande wiederfinden, der sich mit dem "Prozeß der Kolonisation" beschäftigt. Dieser zweite Band wird in der Hauptsache (S. 1-418) durch äußerst diffizile und dadurch fast unlesbar gewordene Untersuchungen über die Ortschaften und Personen ausgefüllt, die im Ratzeburger Zehntenregister vorkommen. Und in diesem wesentlichen Teile des Werkes, der sich dem eigentlichen Thema zuwendet, hat der beste Kenner der mecklenburgischen Kolonisationsgeschichte, H. Witte, ein mehr als bedenkliches Maß von Irrtum und Willkür festgestellt 5 ). Das gilt für Einzelheiten dieser Sonderuntersuchungen, die Witte nachgeprüft hat. Es gilt aber auch für das Schlußkapitel des Werkes (S. 419-475), in dem Jegorov die Summe seiner "Ergebnisse" mitteilt. Mit Recht hat Witte getadelt, daß der Verfasser aus der Fülle der deutschen Personennamen nicht den einzig richtigen Schluß zieht, daß er deutsche Namen "gewaltsam" zu slavischen stempelt, daß er von den Zunamen fast nur die von Ortschaften abgeleiteten berücksichtigt. Und so deutsch viele Namen dieser Art auch erscheinen mögen, so nimmt doch Jegorov ihre Träger für das Slaventum in Anspruch, mögen sie nun aus Holstein stammen oder aus westlich von der Elbe liegenden Gegenden, die noch eine slavische Bevölkerungs-Unterschicht hatten oder die


3) Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung, Jg. 1 1930, H.2, S. 105 f.
4) So auch Witte a. a. O. S. 110.
5) A. a. O. Heft 4, S. 243 ff.
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Jegorov ohne viel Umstände slavisiert. So läßt er das Harzgebiet slavisch werden und verwendet zu diesem Zwecke komischer Weise eine genealogische Studie v. Mülverstedts, aus der nichts dergleichen herauszulesen ist 6 ). Im ganzen ist er jedoch der Meinung, daß die Einwanderer selten aus westelbischen Gebieten gekommen seien, sondern ihrer Mehrzahl nach aus dem "rechten Hinterelbien", aus slavischen Landen (II, S. 420 ff.). Dabei bleibt es natürlich ein Rätsel, woher nun eigentlich die vom Verfasser selbst nicht geleugnete deutsche Einwanderung herrühren soll.

Unbeachtet gelassen ist übrigens auch die lehrreiche Tatsache. daß so viele der im 13. Jahrhundert noch slavischen Ortschaften zu Wüstungen geworden und verschwunden sind 7 ).

Ein großer Widerspruch zieht sich durch das ganze Werk, der darin liegt, daß die starke deutsche Einwanderung zwar nicht bestritten, ihr aber keine für die Germanisierung durchschlagende Bedeutung beigemessen wird. Die Wirkung der Kirche für das Deutschtum wird als "kaum wahrnehmbar" bezeichnet (II, S. 459). Den Lokator hat es "gar nicht oder so gut wie gar nicht gegeben" (II, S. 470, vgl. 445 f.), Und indem Jegorov die Anzeichen übersieht oder verkennt, die für die deutsche Abstammung der eindringenden Ritter sprechen, läßt er die Kolonisation so gut wie ganz ein Werk slavischen Adels sein. Der deutsche Bauer durfte zwar ins Land einziehen, mußte sich aber "den Forderungen und Interessen anderer" anpassen (II, S. 470). Man wundert sich nur, daß der deutsche Bauer nicht slavisiert wurde.

Die vaterländische Forschung wird sich gewiß noch des weiteren mit dem Werke beschäftigen, und dabei dürfte am Ende offenbar werden, daß die Geschichtserzählung des vielgescholtenen Helmold der Wahrheit näher kommt als die Thesen Jegorovs.

Wenn ein russischer Historiker wie der Verfasser sich mit der Kolonisationsgeschichte eines vormals slavischen Landes befaßt, so ließe sich das an sich verstehen. Er vermöchte unser Wissen auf diesem Gebiete um so eher zu bereichern, als Beherrschung slavischer Sprachen ihm bei der Arbeit nur förderlich sein kann. Aber es darf kein politischer Eifer ihn irreleiten und nicht Liebe zum Slaventum ihm den Blick trüben, so daß er zwischen Wissenschaft und Tendenz nicht mehr unterscheidet. Daß Jegorov wenigstens der letzten Gefahr nicht entgangen ist, muß leider angenommen werden. Das Breslauer Osteuropa-Institut hat wohl daran getan, dem zweiten Bande einen Zettel vorzukleben, wonach es das Werk nur der deutschen Wissenschaft zugänglich machen und eine Kritik ermöglichen wolle, sich aber "in keiner Weise mit dem Inhalt und der Tendenz der Arbeit" identifiziere.

W. Strecker


6) II, S. 132, vgl. S.421. S. 269 ist die Studie richtiger verwertet, doch ist immer noch am wahrscheinlichsten, daß die Frau des Detlev von Gadebusch aus dem Geschlecht von Schwanebeck stammt. Ganz abwegig ist Jegorovs Deutung des Schwanebeckschen Wappens, S. 270, Anm. 229. Hier ist die Tendenz wieder mit Händen zu greifen.
7) Mit Recht hat dies Wentz in seiner Besprechung des Buches im Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, 79. Jg., 1931, Nr. 1, Sp. 70, getadelt.
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Gerd Dettmann, Johann Joachim Busch, der Baumeister von Ludwigslust. Mecklenburgische Monographien, Rostock [1929].

Gerd Dettmann hat durch diese Arbeit einem der größten Künstler Mecklenburgs das verdiente Denkmal gesetzt, das man längst in einer zusammenhängenden Schilderung der um das Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden Kunstentwicklung des Landes vermißt. Um so mehr, als Busch'ens künstlerische und berufliche Nachfolger Barka und Severin bereits ihre Würdigung gefunden haben 1 ), Diesen gegenüber muß Busch, schon wegen der Art und des Umfanges der ihm erteilten Aufträge, eine überragende Stellung zugewiesen werden. Über das persönliche Leben des Busch mußte sein Biograph, da sehr wenig davon bekannt ist, kurz hinweggehen, doch konnte die Begabung für die Kunst aus der Familientradition für ihn selbst und auch mit einiger Sicherheit für seine Gattin nachgewiesen werden. Um so gründlichere Behandlung haben seine Werke erfahren, als deren wichtigste die Kirche und das Schloß in Ludwigslust auch hier genannt seien. In diesen Werken sind alle Einzelheiten auf ihren Ursprung hin mit gründlichem Quellenstudium verfolgt und nachgewiesen. Weiter ist auch der Einfluß, den der Herzog Friedrich auf die unter seiner Regierung geschaffenen Kunstwerke gehabt hat, treffend gewürdigt. Dessen Regierung fällt in eine Zeit, die bei äußerer Dürftigkeit neuen, idealen Zielen zustrebte, die nur durch eine verständige Wirtschaft, wie sie der Herzog eben führte, erreicht werden konnten. Der die Künste und Wissenschaften mit Sachkenntnis fördernde Herzog, der selbst seine Kenntnis auf einem Studium aller wichtigen Literaturerscheinungen seiner Zeit gründete, hat auf die Werke Johann Joachim Buschs einen überall spürbaren Einfluß geübt. Busch hatte das Unglück, für seine künstlerischen Neigungen zu spät geboren zu sein. Er ragte mit seiner Kunst in zwei Epochen hinein, deren ältere mehr seinem eigenen Empfinden entsprach, während die neue von dem weiter blickenden und den Geist der Zeit besser abschätzenden Herzog gefördert wurde. Pastor D Dr. Schmaltz sagt gelegentlich der Besprechung der Ludwigsluster Kirche 2 ): "Zwei Seelen wohnen in diesem auf der Grenzlinie zweier Epochen stehenden Manne, auf der einen Seite die der barocken, in ihrer Leidenschaft die Schranken des Diesseits durchbrechenden Raumphantasie, auf der andern der Geist des kommenden Klassizismus mit seiner strengen Form und seinem in schöner, ausgeglichener Ruhe schwebenden Gleichmaß." So weist auch Dettmann in interessanter Weise nach, wie Busch immer wieder aus dem Barock, insbesondere aus dem Louis XVI., schöpft und sich seine Werke eine Wandlung zum Klassizismus gefallen lassen müssen. Wenn daher diese Werke in ihrer Hauptsache klassizistisch entworfen sind, so kommt doch in manchen Einzel-


1) Vgl. Dobert, J. P.: Bauten und Baumeister in Ludwigslust, Magdeburg 1920, und Thielke, Hans: Die Bauten des Seebades Doberan-Heiligendamm um 1800 und ihr Baumeister Severin, Doberan 1917.
2) Schmaltz, Karl: Die Kirchenbauten Mecklenburgs (S. 83), Schwerin 1927.
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heiten, so namentlich bei manchen kirchlichen Ausstattungsstücken, immer wieder ein romantischer Zug durch. Ich möchte noch weiter gehen als Dettmann und, was dieser nur andeutet, unterschreiben: Busch war wahrscheinlich im Grunde seines Herzens Romantiker, vielleicht unbewußt. Unter den Akten der Kirchenökonomie Waren fand ich um 1900 einen von Busch gezeichneten ersten Entwurf zu einem Orgelprospekt für die dortige Marienkirche, der in einem so glänzenden Rokoko gehalten war, wie es nur jemand entwerfen kann, der romantisch empfindet. Freilich hat es für die exakte Forschung Bedenken, einen Künstler nach seinen Entwürfen zu beurteilen,. und so ist das auch mit Recht von Dettmann vermieden. In der Kunstgeschichte können nur die ausgeführten Werke für die Stellung des Künstlers innerhalb der Kunst seiner Zeit maßgebend sein. Aber der Verfasser wolle es nicht mißverstehen, wenn ich die Bemerkung über eine Äußerung von mir 3 ) mit vorstehender Begründung zurückweise. Aus der ausgesprochenen Vermutung ist überdies eine Behauptung gemacht und nicht berücksichtigt, daß es sich nicht um einen Neubau handelt, sondern um eine "Schürze", die durch die alten Gebäude zu Kompromissen genötigt war, so daß ich nicht anerkennen kann, daß sich in der Güstrower Rathausfassade nichts dem Geiste Buschs Verwandtes finden lasse. Grade das ist, wie auch von Dettmann richtig erkannt, eine besondere Größe des Busch, daß er sich in die verschiedensten Stilrichtungen, häufig sich fremden Wünschen fügend, einzuarbeiten verstand, namentlich aber, daß er dem Wert jeder Aufgabe angemessen Rechnung trug. In seinen Friedhofsbauten wußte er die Stimmung der Zeit einem Friedhof gegenüber richtig wiederzugeben, den Bürgerhäusern verlieh er eine ihrer Bedeutung entsprechende Gestaltung und brachte sie in einen sehr glücklichen Gegensatz zu dem Schloß des Landesherrn. Welche Schwierigkeiten die kirchliche Kunst damals dem schaffenden Künstler bot, ist von Dettmann bei Schilderung der Ludwigsluster Kirche überzeugend dargelegt, so daß man erkennt, weshalb die Aufgabe letzten Endes ungelöst bleiben mußte. Auf die liturgische Bedeutung des dem Kirchenbaukongreß in Dresden 1906 um mehr als ein Jahrhundert vorauseilenden Baues einzugehen, würde wohl zu weit geführt haben. Berichtigend ist zu bemerken, daß der rosa Anstrich in der Vorhalle der Kirche erst aus dem Anfange dieses Jahrhunderts stammt. Ich kenne die Kirche noch mit völlig weißem Anstrich; wie dieser ursprünglich war, ist nicht bekannt. Daß Dettmann den jetzigen Anstrich für den ursrünglichen hält, ist ein Zeichen, daß der Ton stilgerecht getroffen ist. Die Dettmannsche Schrift gibt den Künstler Busch, wie er sich in seinen Werken darstellt, richtig und in ansprechender Form wieder, so daß ihm dafür der Dank der interessierten Kreise des Landes gebührt und gesagt sei.

Johann-Friedrich Pries.

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Walter Paatz, Die Lübecker Steinskulptur der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Bd. 9 der Veröffentlichungen zur Geschichte der freien und Hansestadt Lübeck, hrsg. vom Staatsarchiv zu Lübeck. Lübeck 1929.


3) S. 62 Fußnote.
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Die vorzüglich ausgestattete Schrift sucht die schulmäßigen Beziehungen zwischen den einzelnen Gruppen und Meistern der Lübecker Bildhauerkunst einer eng umschriebenen Zeit nach Persönlichkeiten und Werkstätten klarzustellen. Sie beschränkt sich nicht strenge auf Steinskulpturen, sondern umfaßt auch Holzbildwerke und Bronzen, sofern sie aus einer Werkstattgemeinschaft mit den ersteren hervorgegangen sind. Der Anfang des 15. Jahrhunderts hebt sich mit seinen plastischen Werken in Lübeck deutlich von den Schöpfungen der früheren und der späteren Zeiten ab. Es ist die Zeit, in der sich ein Neues in der Skulptur vorbereitet und in den Werken ihres größten Meisters, Johannes Junge, schon in einer gewissen Vollkommenheit erkennbar ist. Man bemerkt den Versuch, etwas Geistiges in die Figuren zu legen, daneben sieht man schon etwas von den Bemühungen um die anatomische Richtigkeit der Bildwerke und um die Natürlichkeit in der Wirkung der Gewandung. Diese Bestrebungen führen vereint in einer späteren Zeit auf das Porträt hin. Das wird hier - ich möchte sagen "zum Glück" - noch nicht erreicht, aber es ist doch schon eine Individualisierung vorhanden, und damit gewinnen die Schöpfungen der Kunst gewissermaßen eine Persönlichkeit. Lübeck nimmt die Steinskulptur verhältnismäßig spät auf; es fehlt an geeignetem, natürlichem Stein, und die Baukunst, von der sich die Bildhauerkunst des Mittelalters noch nicht losgemacht hat, bietet ihr im Backsteinbau nicht den Platz wie in den Werken der Hausteingotik. Dies ist im Wesen des Backsteinbaues begründet. Auch das Verhältnis der Figur zum Block ist in der behandelten Zeit noch kein freies; man sieht den Bildwerken noch die rechteckige Umschreibung an. Erst eine spätere Zeit bestimmt den Block nach der Figur und nicht umgekehrt. Diese Andeutungen werden genügen, um die Einschränkung verständlich zu machen und zu rechtfertigen, mit der der Verfasser sein Thema umrissen hat.

Der erste Hauptteil der Arbeit gibt eine kritische Untersuchung der Werke nach ihrer Herkunft und ihrer Zusammengehörigkeit. Hierbei war die Schwierigkeit zu überwinden, die darin liegt, daß fast keine Namen überliefert sind, die Namen also erst aus den Werken gebildet werden mußten. Auch sind die Arbeiten sehr zerstreut, denn die Lübecker Bildhauerkunst war gewissermaßen eine Exportindustrie, deren Werke über den ganzen Ostsee-Kulturkreis verteilt sind. Teilweise mußten die Hauptwerke eines Meisters auch auswärts an verschiedenen Stellen aufgesucht werden. Überdies befinden sich die Skulpturen heute zum Teil in Museen, können also nicht mehr nach ihrer ursprünglichen Aufstellungsart beurteilt werden. Die ältesten behandelten Bildwerke stammen aus der abgebrochenen Burgkirche. Ihr Verfertiger ist nicht mehr bekannt. Werke ähnlichen Stils und mit den gleichen besonderen Eigentümlichkeiten finden sich an der Wiesenkirche in Soest. Bekanntlich bestanden zwischen dieser Stadt und Lübeck alte Beziehungen, wird doch auch das lübische Recht auf das soester Stadtrecht zurückgeführt. An zweiter Stelle tritt dann schon Johannes Junge mit einem Jugendwerke, dem plastischen Schmuck der astronomischen Uhr in der Marienkirche, in die Erscheinung. Zu Junge lassen sich nun alle anderen Arbeiten der Epoche in irgendeine Beziehung bringen,

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mögen sie auch nicht von ihm selbst oder in seiner Werkstatt geschaffen sein. Er muß eine überragende künstlerische Persönlichkeit gewesen sein, der das Leben und die Menschen zu erfassen und den Geist, den sie offenbaren, in ihre Erscheinung zu legen wußte. Junge führte als erster etwas Genrehaftes in die Bildhauerkunst ein; seine bemalten Kreuzigungsreliefs weisen Staffage und Hintergründe wie gemalte Tafeln auf. Daß auch er Beziehungen zur westfälischen Kunst hatte, nimmt Verfasser an; wie diese letzten Endes auf die französische Bildnerkunst zurückgeht, die im Mittelalter an erster Stelle stand, ist nicht in den Einzelheiten verfolgt. Recht interessant ist ausgeführt, wie sich ein Abstieg in den Werken Junges erkennen läßt. Unter dem Einfluß eines Gehilfen, der an die Stelle des aristokratisch Vornehmen das bürgerlich Derbe setzt, steigt er in der Zeit um 1440 von seiner einstigen Höhe herab. Um Junge gruppieren sich noch einige weitere, nicht mit ihren Namen bekannte Bildhauer, mit denen die Schrift abschließt. Nur mit kurzen Worten wird noch auf Bernt Notke hingewiesen, dessen Wirken schon einer neuen, anderen Zeit angehört. An diesen umfangreichsten ersten Teil der Arbeit ist noch ein Anhang angeschlossen, der die benutzten Steine und sonstigen Werkstoffe, den Werkstattbetrieb, das Verhältnis, in dem die Skulptur zur Architektur steht, die Tracht und namentlich der Faltenstil der Zeit und ähnliche Dinge bespricht. Dem ist eine übersichtliche synchronistische Tabelle angefügt.

Der für die praktische Benutzung des Buches wichtigste ist der zweite Teil, der Katalog. Dies darf aber nicht als ein Werturteil über die wissenschaftliche Bedeutung des ersten. Teils aufgefaßt werden, sondern nur als die Äußerung eines Mannes, der den größten Teil seines Lebens in der Praxis eines technischen Berufes gestanden hat. In dem Katalog sind, alphabetisch nach den Orten, wo sie sich jetzt befinden, geordnet, die Werke genannt, die in die behandelte Zeit gehören. Es sind etwa 50 namentlich aufgeführt. Bei jedem sind die wichtigsten Maße angegeben, ferner Datierung, Werkstoff, Bemalung, ursprüngliche und jetzige Aufstellung und Erhaltungszustand, am Schlusse die Zuschreibung. Bei letzterer sind außer der eigenen Feststellung oder Ansicht auch die Ergebnisse fremder Forschungen objektiv mitgeteilt. In einem Anhange sind die irrtümlich der Gruppe der Lübecker Steinbildwerke zugeschriebenen Skulpturen ebenso behandelt. Unter diesen ist auch der Krämeraltar von St. Marien in Wismar - Anhang Nr. 2 -während sich im Hauptverzeichnis folgende mecklenburgische Stücke befinden: Nr. 25 a, Terrakottareliefs an der Marienkirche in Parchim; 26, Ratzeburger Dom, Taufbecken; 27, Passionsaltar dort; 30, Passionsaltar im schweriner Museum; 42, Wismar, Madonna im Museum; 43, Terrakotten an St. Nikolai und St. Jürgen in Wismar; 44, Zarrentin, Salvator mundi. Von diesen werden 25 a, 26 und 44 dem Johannes Junge oder seiner Werkstatt zugeschrieben. Der dritte Teil enthält auf 82 Seiten die Abbildungen in vorzüglicher Wiedergabe. Zweiter und dritter Teil sind durch ihre Nummern miteinander in Beziehung gebracht, so daß der Wert des einen durch den andern Teil erhöht wird. Im ersten Teile muß man sich die Abbildungen erblättern oder mit Hilfe des Kataloges suchen, Hinweise im Text würden aber den Zusammenhang sehr gestört haben.

Johann-Friedrich Pries.

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Oskar Eggert, Die Wendenzüge Waldemars I. und Knuts VI. von Dänemark nach Pommern und Mecklenburg. Baltische Studien, N. F. Bd. XXIX (1927), S. 1-149. Mit 1 Karte. Diss., Greifswald. - Dänisch=wendische Kämpfe in Pommern und Mecklenburg (1157 - 1200). Ebd. Bd. XXX, 2 (1928), S. 1-74.

Den Abschnitt der deutsch-dänischen Geschichte, mit dem sich die beiden Aufsätze beschäftigen, haben schon viele, meist landesgeschichtliche Werke geschildert. Wenn der Verfasser sich trotzdem entschlossen hat, diese neue Bearbeitung vorzulegen, so rechtfertigt sich das nicht allein dadurch, daß die bisherigen Schilderungen in mancherlei Hinsicht überholt oder allzu kurz gefaßt sind, sondern vor allem dadurch, daß der Verfasser die bedeutende nordische Literatur herangezogen hat, die von den neueren deutschen einschlägigen Geschichtswerken kaum berücksichtigt ist.

Die zweite der beiden Arbeiten bietet die eigentliche Geschichtserzählung. Die erste bildet die kritische Grundlage dafür. Hier werden zunächst die chronikalischen Quellen nordischer und deutscher Herkunft in erschöpfender Übersicht vorgeführt und unter Berücksichtigung der bisherigen Quellenkritik bewertet, ebenso die Darstellungen seit Suhms Geschichte von Dänemark. Große Schwierigkeit macht die Chronologie der Wendenzüge, weil gerade die Hauptquellen in diesem Punkte ungenau sind. Der Verfasser hat sich daher bemüht, das chronologische Gerippe für die Jahre 1157 - 1199 festzustellen. Auch hat er die slavischen Ortsnamen, die in den Quellen entstellt wiedergegeben werden, sorgfältig geprüft und gedeutet.

Die auf diesen kritischen Untersuchungen aufgebaute Geschichtserzählung enthält viele Einzelheiten, bleibt aber immer lebendig und anregend. Den Schauplatz der Kämpfe, um die es sich handelt, bilden mehr Rügen und Pommern als Mecklenburg. Daß aber die Pommerschen Ereignisse jener Zeit auch die mecklenburgische Geschichte stark berühren, ist eine bekannte Tatsache, die sich in unseren heimischen Geschichtswerken längst Geltung verschafft hat.

Die Burg des Otimar, die König Waldemar 1171 zerstörte, hat seinerzeit Lisch auf der Insel im Teterower See angenommen, Giesebrecht dagegen suchte sie auf einer Insel im Lübchiner See, Quandt auf einer Insel des Borgwall-Sees, Eggert (a. a. O. XXX, 2, S. 52 Anm. 1) hält Giesebrechts Meinung für die wahrscheinlichste. Es ist aber unzweifelhaft die Insel im Teterower See gemeint; vgl. auch die Arbeit von R. Asmus: Der Burgwall von Teterow und seine Eroberung durch die Dänen im Jahre 1171, Zeitschr. Mecklenburg, 22. Jg., 1927, S. 120 ff.

W. Strecker.

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Die Große Stadtschule zu Rostock in 31/2 Jahrhunderten. Eine Jubiläumsschrift, herausg, von Studiendirektor Dr. Walter Neumann. Rostock 1930.

Den ersten Teil dieser Veröffentlichung (S. 1-95) bildet die Geschichte der Stadtschule, verfaßt von dem gegenwärtigen Direktor, Dr. Neumann. Nach einer ersten Gründung durch Joh. Olden-

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dorp im Jahre 1534, die aber in den Anfängen stecken blieb, wurde die Schule mit fünf Klassen 1580 unter dem Rektor Nathan Chytraeus eingerichtet. Reformation und Humanismus wiesen ihr den Weg. Anregend schildert der Verfasser, wie Schulbetrieb und äußere Schulverhältnisse sich im Laufe der Jahrhunderte gestalteten und wie der Wechsel der Bildungsziele, der wissenschaftlichen und ästhetischen Anschauungen, aber auch die Not schwerer Zeiten sich im Schicksal der Schule widerspiegeln. Nicht verschwiegen werden, auch die Mängel, unter denen sie nicht selten zu leiden hatte: wir erfahren von allerhand Unordnung, menschlicher Schwäche, vergeblicher Mühe. Einen Wendepunkt bildet die Reform von 1828; mit ihr beginnt für die seitdem mächtig sich vergrößernde Schule eine neue Zeit. Neumanns Arbeit hat Anspruch darauf, über das Lokalinteresse hinaus als wertvoller Beitrag zur Geschichte des höheren Schulwesens in Deutschland überhaupt betrachtet zu werden. Sie reiht sich würdig den verschiedenen Schulgeschichten an, die in den letzten Jahren, besonders in den Zeitschriften der Deutschen Geschichtsvereine, erschienen sind.

Auf S. 96-l12 behandelt Oberbaurat Ad. Friedr. Lorenz die Baugeschichte der Schule, von den alten, mehrmals umgebauten Räumen im Johanniskloster, in dem die Schule fast 300 Jahre blieb, bis zu dem stattlichen Neubau von 1864 mit dem Anbau (Turnhalle und Aula) von 1897. - Ein Verzeichnis der Leiter und Lehrer seit 1580 gibt Studienrat Dr. J. Becker, ein Verzeichnis der Abiturienten seit Ostern 1859 Studienrat F. Niemeyer.

W. Strecker.

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Karl Oldenburg, Aus Bismarcks Bundesrat. Berlin (Reimar Hobbing) 1929.

Der vorliegende Band enthält Aufzeichnungen des Oberzolldirektors Oldenburg, zweiten Bevollmächtigten Mecklenburg-Schwerins beim Bundesrat, aus den Jahren 1878-1885, die der bekannte Bismarckforscher Professor Schüßler im Auftrage der Familie Oldenburg herausgegeben und mit einleitenden und erklärenden Bemerkungen versehen hat. Die Aufzeichnungen schildern lebhaft die Stellung Bismarcks zum Bundesrat, besonders bei den Verhandlungen über die Zoll- und Finanzreform und die Sozialpolitik, und zeigen den großen Kanzler in seiner rücksichtslosen Energie bei der Verfolgung seiner Ziele zum Besten des deutschen Vaterlandes. Auch Oldenburg hatte zeitweise darunter zu leiden. Als Bismarck 1880 mit Oldenburgs Tätigkeit im Bundesrat unzufrieden war, aber seine Abberufung beim Großherzog Friedrich Franz II. und dem Ministerpräsidenten Grafen Bassewitz nicht durchsetzen konnte, wurde Oldenburg wenigstens aus dem Zollausschuß herausgedrängt und so zur Wirkungslosigkeit verurteilt, bis er dann 1882 die Genugtuung erlebte, in den Zollausschuß wieder aufgenommen zu werden. Die Politik Bismarcks hat Oldenburg bei aller seiner Verehrung für den Kanzler häufig abfällig beurteilt, weil er, wie viele andere patriotische Männer, dem umwälzend Neuen in Bismarcks Plänen damals noch kein genügendes Verständnis entgegenbringen konnte. Seine Aufzeichnungen sind als die eines Augenzeugen recht wertvoll.

Stuhr.

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Dr. Friedrich Techen, Geschichte der Seestadt Wismar. Gedruckt im Jahre MCMXXIX im Auftrage der Seestadt Wismar (Eberhardtsche Hof- und Ratsbuchdruckerei, Wismar). XVI u. 510 S. 76 Tafeln m. Abb.

Friedrich Techens Lebenswerk liegt vor uns. Etwa 40 Jahre ist es her seitdem er den Plan faßte, die Geschichte seiner Vaterstadt zu schreiben. Nach verschiedenen Vorarbeiten und nach gar mancherlei andern Arbeiten kam Techen im Frühjahr 1914 dazu, die Ausarbeitung zu beginnen. Das Werk, an dem er "hernach nur wenig geändert oder hinzugesetzt" hat, wurde im Sommer 1917 abgeschlossen.

12 Jahre später bewilligten die städtischen Behörden die Kosten der Drucklegung, nachdem im Jahre 1922 Techen seinen knappen, aber aufschlußreichen Abriß der Geschichte der Stadt Wismar veröffentlicht hatte. Die Grundlagen für Techens Werk bilden die veröffentlichten Quellen, die Literatur und das Wismarer Ratsarchiv. "Andere Archive heranzuziehen schien nicht durchaus notwendig, und ein weiteres Verschieben hätte die Ausführung des Planes leicht gefährden können", schreibt Techen in dem Vorwort.

Der Stoff ist in 24 Kapitel übersichtlich gegliedert. Die Darstellung ist anschaulich, hat vielfach chronikartigen Charakter, ist aber andererseits gelegentlich sehr prägnant, knapp und vorsichtig im Urteil. Sie vermittelt eine Fülle von wertvollsten Beobachtungen und Ergebnissen.

Ganz besonderes Interesse beansprucht das 1. Kapitel, das die Anfänge der Stadt behandelt. Techen stützt sich hier in der Hauptsache auf ältere Forschungen, die Crull und er angestellt haben, insbesondere auf seine in den Hansischen Geschichtsblättern (Jahrgang 1903) veröffentlichte Arbeit über die Gründung Wismars. Vor über 50 Jahren hat Crull in seiner Einleitung zur Ratslinie der Stadt Wismar (S. XIII) die Vermutung ausgesprochen, daß die Anwesenheit der Enkel Heinrich Borwins in Lübeck am 15. Februar 1226 in Zusammenhang mit der, nach Crulls Ansicht von Lübeck geförderten, Gründung der Stadt Wismar stehe: "Die mündliche und förmliche Gutheißung des neuen Unternehmens" durch die mecklenburgischen Landesherren sei da erfolgt. Einen früher hiergegen gemachten Einwand hält Techen nunmehr nicht mehr für stichhaltig. Auch er sieht jetzt das Jahr 1226 als das mutmaßliche Gründungsjahr Wismars an und betont besonders die starke Beteiligung der Lübecker bei der Gründung.

Nach Techens Darlegungen ist Wismar als eine planmäßige Neugründung anzusehen. Die Stadt hat sich nicht aus einem Dorfe heraus entwickelt. Ein älteres - slavisches - Dorf (Alt-Wismar) bestand zwar, aber es war etwas über 1 km vom Zentrum der Stadt entfernt und durch einen Bach (aqua Wissemara die Wismaraa) von dieser getrennt, der überdies seit 1167 die Grenze wischen den Bistümern Ratzeburg und Schwerin bildete. Die Stadt Wismar und das östlich davon gelegene Dorf Alt-Wismar gehörten also zu zwei verschiedenen Diözesen! (S. 1, 114). - An und für sich wäre ja noch an die weitere Möglichkeit zu denken, daß Wismar

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als Vorläufer ein deutsches Bauerndorf gehabt hätte, wie es, um nur ein Beispiel zu nennen, nach Ausweis des Ratzeburger Zehntenregisters bei dem benachbarten Grevesmühlen der Fall ist. Aber der Stadtplan Wismars gibt hierfür keinen Anhalt, und die Wismarer Ackerflur hatte keine Hufeneinteilung. Die den Bürgern gehörigen Teile der Feldmark lagen vielmehr in Morgen, das eigentliche Stadtfeld wurde in Ackerlose geteilt und alle 7 Jahre unter die Bürger verlost (S.7/8, 63/64).

Nun zählt aber Hoffmann in seiner Arbeit über die Stadtgründungen Mecklenburg-Schwerins in der Kolonisationszeit vom 12. bis 14 Jahrhundert (im 94. Jahrgang dieser Jahrbücher) Wismar zu den Städten, die wahrscheinlich aus einer schon in slavischer Zeit bestehenden deutschen Kaufmanns- (bzw. Hafen-) Siedlung sich allmählich zur Stadt entwickelt haben (S. 156, 162, 175). Allerdings konnte Hoffmann weder bei Wismar noch bei Rostock besondere Untersuchungen anstellen. Er zog beide Städte nur gelegentlich heran "nach den Ergebnissen der bisherigen Forschung", wobei bemerkt sei, daß Hoffmanns Arbeit vor dem Erscheinen von Techens Werk vollendet wurde.

Gegen Hoffmanns Ansicht ist zunächst einzuwenden, daß für das Herauswachsen Wismars aus einer ständigen Kaufmannssiedlung, wie es aller Wahrscheinlichkeit nach z. B. bei Schwerin der Fall ist (Hoffmann S. 12/23), die wichtigste Voraussetzung fehlt, nämlich die fürstliche Burg, die Schutz und Anknüpfung an einen primitiven Handel mit den ständigen Naturallieferungen der slavischen Untertanen gewährleistete. Die Reihe der Burgen Niclots zog sich ja östlich von der Wismarer Gegend dahin: Schwerin, Dobin, Mecklenburg, Ilow, Alt-Gaarz. Wismar selbst lag im Burgbezirk (terra) Mecklenburg, und diese Burg besaß offensichtlich einen eigenen Markt (Hoffmann S. 174).

Weiterhin findet sich im Wismarer Stadtplan keinerlei Anhalt, daß die Stadt aus einer fleckenähnlichen Marktsiedlung hervorgegangen sei. Weder der Marktplatz noch das Stadtviertel um St. Nikolai läßt sich als ein solches Element im Stadtplan ansprechen, das aus der vor-städtischen Zeit stammen könnte.

Nun hebt allerdings Hoffmann (S. 162) hervor, daß für Wismar die urkundliche Überlieferung für das Vorhandensein einer Kaufmannskolonie "insofern am günstigsten ist. als ein Wismarer Hafen bereits im Jahre 1209, ungefähr 20 Jahre vor der Stadtwerdung Wismars, in einer deutschen Königsurkunde genannt wird". Dem gegenüber hat Techen bereits im Jahre 1903 in seiner vorhin genannten grundlegenden Abhandlung über die Gründung Wismars (S. 126) den Wert dieser Nachricht (in portu, qui Wissemer dicitur) mit dem kurzen Hinweis auf den Hafen Golwitz (portus Gholvitze, portus, qui dicitur Gholvicze) auf das richtige Maß beschränkt. Bei der Golwitz, dem Meeresarm zwischen der Insel Poel und dem östlich davon gelegenen Festlande, handelt es sich um einen einfachen. natürlichen Hafen, in dem Schiffe bei Bedarf ankerten und wo eine Art von fliegendem Handelsplatz, aber keine ständige Kaufmannssiedlung war. So werden wir uns auch die Verhältnisse bei dem in der Urkunde von 1209 genannten Hafen Wismar zu denken haben.

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Demgemäß sehen wir in Übereinstimmung mit Techen Wismar als eine Neugründung, als eine Gründung "aus frischer Wurzel" an.

Wie gesagt, planvoll und überdies großzügig: mit großem Markt, mit breiten Straßen und gleich mit zwei Kirchspielen versehen, wurde Wismar angelegt. Der Stadtplanforscher würde an und für sich zunächst geneigt sein, das nördliche Viertel der Stadt, die Gegend um St. Nikolai, mit der Grube als südlicher Grenze, als den ältesten Teil der Stadt anzusehen. Dem gegenüber sei aber hervorgehoben, daß Techen mit voller Klarheit ausspricht (S. 2), daß sich keine Spur davon findet, daß das St. Nikolai-Kirchspiel älter sei als das von St. Marien. "Wollte man durchaus scheiden, so würde man St. Marien den Vorrang zuerkennen müssen. Denn St. Marien war und ist die Kirche des Rates, und in diesem Kirchspiel liegt der Markt. Eine Stadt aber ohne Markt ist undenkbar." Außerdem ist die Grube nie eine Scheide und nie eine Kirchspielsgrenze gewesen. Die Grube wird vielmehr "bald nach der Gründung der Stadt gegraben sein, sowohl um die Anlegung einer Wassermühle zu ermöglichen, wie um Wasser hineinzuschaffen".

Knappe, aber sehr wichtige Feststellungen, die zeigen, wie vorsichtig der Stadtplanforscher sein muß, und wie nur unter Heranziehung alles urkundlichen Materials und nur bei genauester Kenntnis der örtlichen Verhältnisse durch Rückschlüsse aus späteren Zuständen einwandsfreie Ergebnisse erzielt werden können.

Noch größere Bedeutung sind Techens Feststellungen über die Heimat der Bevölkerung Wismars beizumessen (S. 4): Nach dem ältesten Stadtbuch (von etwa: 1250 bis 1272) "sind bei weitem die meisten Bürger aus dem Mecklenburgischen gekommen, außerdem beträchtlicher Zuzug aus Sachsen, Friesland und Westfalen, noch nennenswerter aus Holstein und Lauenburg, vom Niederrhein, aus Holland und Flandern, aus der Altmark, der Mittelmark und der Prignitz, endlich aus Dänemark und Schleswig. Der Name Wend (Wenede, Slavus, Slavica) kommt nur dreimal vor, so daß die Bevölkerung der Stadt als rein deutsch angesprochen werden kann".

Der Platz für die neue Stadt war so günstig gewählt und der Zustrom an Fremden war so stark, daß bereits vor 1250 die Stadt (Altstadt) eine Erweiterung durch die sog, Neustadt (das Viertel um St. Georg) erfahren mußte. Urkunden über Gründung und Erweiterung der Stadt sind ja für Wismar nicht überliefert. Leider lassen sich auch durch Rückschlüsse nicht die Bedingungen der Ansetzung in der eigentlichen Stadt, die Ausstattung der Stadt, der Kirchen und der einzelnen Bürger mit Land rekonstruieren. Der bezeugten Wurtzinse sind zu wenige, um daraus Schlüsse ziehen zu können (S. 3/4).

Die ursprüngliche Wismarer Ackerflur kann man nur als recht klein bezeichnen. Das hängt mit dem Wesen der Stadt zusammen, in der von Anfang an Schiffahrt, Handel und Gewerbe durchaus den Vorrang hatten. Das Hauptgewerbe für den Ausfuhrhandel war übrigens in späterer Zeit (14. bis Ende 17. Jahrhunderts) die Brauerei (S. 64 ff.).

Die Kapitel 2-4 behandeln in der Hauptsache äußere Geschichte: Verhältnis der Stadt zu den eigenen und fremden Landesherrn und zur Hanse. Gelegentlich sind hier, wie auch in den späteren histo-

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rischen Kapiteln, kleinere kulturgeschichtliche Betrachtungen eingestreut. Hingegen haben die nächstfolgenden drei Kapitel rein kulturgeschichtlichen Charakter: Verfassung und Verwaltung der Stadt, Bauten und Erwerbsleben, geselliges Leben. Diese Kapitel und das neunte (Kirchenwesen bis zur Reformation) bieten für alle, die sich mit der inneren Geschichte mittelalterlicher Städte beschäftigen wollen, eine Fülle von Tatsachen, Belehrungen und Anregungen.

Der Geistes- und Kulturgeschichte ist auch Kapitel 10 (Reformation) und der inneren Politik Kapitel 12 (Innere Zwistigkeiten und Bürgerverträge) gewidmet. Das 8. Kapitel behandelt in der Hauptsache die fehdereiche Zeit unter Heinrich IV., seinen Söhnen und Enkeln (etwa l435-l537), das 11. die Zeit bis zum 30jährigen Kriege. Dann werden in den Kapiteln 13-16 die Schicksale Wismars im 30jährigen Krieg und unter schwedischer Herrschaft bis zur Abtretung an Mecklenburg (Vertrag von Malmö 1803) erzählt. In den Kapiteln 17-23 behandelt Techen Wismars Entwicklung und Aufschwung im 19. Jahrhundert, im Schlußkapitel den Weltkrieg, die Revolution und den sich anbahnenden Niedergang der Stadt.

Überaus reichhaltig ist die Ausstattung des Werkes mit Abbildungen: Stadtpläne, Ansichten des Stadtbildes, Hafenbilder, Straßen und Plätze, einzelne Gebäude, architektonische und kulturgeschichtliche Einzelheiten und Porträts. Bürgermeister Raspe übernahm die Auswahl.

Steinmann.

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Festschrift zur 500-Jahrfeier der Schola Fridlandensis. Im Namen des Kollegiums des Gymnasiums zu Friedland (Mecklbg.) herausgegeben von Studienrat Dr. R. Lunderstedt. Friedland i. Mecklbg., 1929.

Der Feier der ersten bekannten Errichtung eines Schulgebäudes in Friedland vor einem halben Jahrtausend (im Jahre 1429) ist diese Schrift gewidmet. Sie will und kann keine vollständige Geschichte des Friedländer Gymnasiums sein, sondern nur einige wichtige Bilder aus dessen Vergangenheit sowie Bausteine für die Zukunft darbieten.

Von Dr. Lunderstedt stammen die ersten beiden Aufsätze: Zur Geschichte des Gymnasiums in Friedland: Die Zeit von 1337 bis 1560, und: Geschichte des Schulgebäudes (von 1429 bis zur Gegenwart). - Eingehende und gründliche quellenmäßige Studien unter Darbietung der wichtigsten Belegstellen. - Die Bedeutung der mittelalterlichen Stadt Friedland in der Politik und Wirtschaft und vor allem im geistlichen Leben des Landes (Sitz des Propstes des Landes Stargard im engeren Sinne) sowie die Analogien von andern Städten Mecklenburgs nötigen an und für sich schon zur Annahme, daß auch Friedland bereits lange vor 1429 eine höhere Schule, eine gehobene Pfarrschule, besaß, von der die Schüler zur Universität gehen konnten. Die 1337 zuerst und hernach noch häufiger erwähnte fraternitas sacerdotum et scolarium verleihen der Annahme die Sicherheit.

An dritter Stelle wird ein Teil der Arbeit des 1921 verunglückten Oberlehrers Bosselmann über die Geschichte des Turnplatzes zu Friedland veröffentlicht, und zwar der 1. Teil, die Zeit von 1814 bis 1818, bearbeitet von Dr. Lunder-

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stedt. Der Aufsatz behandelt die Begründung des Turnens in Friedland durch den Prorektor Leuschner und die Zeit von dessen Turnwartschaft. - Nur durch gründliche und mühsame lokale Forschungen nach Art der vorliegenden lassen sich die Anfänge der modernen Sportbewegung ergründen. Die Registraturen und Archive der zentralen Behörden ergeben so gut wie nichts darüber. - Friesland kann sich rühmen, eine der ersten Städte in Deutschland und die erste in Mecklenburg gewesen zu sein, wo nach dem vom Turnvater Jahn in Berlin gegebenen Vorbild die Leibesübungen Eingang fanden. "Der Turnplatz zu Friedland ist für Mecklenburg die eigentliche Pflanzstätte des Turnens gewesen; er ist einer der wenigen in Deutschland, auf dem seit seiner Gründung ununterbrochen bis auf den heutigen Tag geturnt wird."

An vierter Stelle behandelt und veröffentlicht Oberstudiendirektor Portmann "Eine Friedländer Schulkomödie vom Jahre 1668". Diese Komödie ist ein lateinisches Osterspiel mit eingelegten hoch- bzw. plattdeutschen weltlichen Zwischenspielen. und wurde von Schülern der Friedländer Latein-Schule aufgeführt. Die witzigen, z. T. aber auch recht derben, ja unflätigen Zwischenspiele erregten Anstoß bei der Geistlichkeit und verursachten arge Streitigkeiten und Kämpfe zwischen Kirche, Rat und Schule. Dem Umstand, daß schließlich Herzog Gustav Adolf von Güstrow in den Streit eingriff, verdankt die Komödie ihre Erhaltung im Neustrelitzer Archiv. - "Wir haben hier das älteste Dokument einer theatralischen Aufführung an den Schulen unseres Landes vor uns. Gleichzeitig ist es meines Wissens überhaupt das älteste Zeugnis für eine Theateraufführung im Lande Stargard. Schon dieser Umstand rechtfertigt es, daß es der Vergessenheit, in der es bis dahin ruhte, entrissen wird", bemerkt Portmann zutreffend.

Verzeichnisse der Direktoren und Lehrer sowie der Schüler von 1857 bis 1929 bilden den Schluß der Festschrift. Man begegnet da so manchen aufrechten und wackeren Mann und lieben Bekannten, dem die Schola Fridlandensis zur ultima Thule wurde.

Steinmann.

Vignette
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AN DIE MITGLIEDER!

Nach dem Beschlusse einer früheren Hauptversammlung gibt der Verein an seine Mitglieder die vor ihrem Eintritt erschienenen Vereinsschriften unverbindlich zu bedeutend ermäßigten Preisen ab.

1. Mecklenburgische Jahrbücher:

a) bei Bezug mehrerer aufeinander folgender Bände: Bd. 23 - 34, 36-44, 54-66, 67, 69-71, 74-84, 86-93 je 1 RM,
b) einzelne Jahrgänge (soweit vorhanden und stets die jeweiligen letzten zwei Jahrgänge) statt 8 RM je 3 RM .

2. Sonderabzüge aus den Jahrbüchern:

a) Wigger , Stammtafel des Großherzoglichen Hauses, aus Bd. 50, (statt 1,50 RM ) 1 RM ,
b) Crull, Die Wappen der Geschlechter der Mannschaft, aus Bd. 52, (statt 3 RM ) 1 RM ,
c) Krieg, Die Kirchenbücher in Mecklenburg-Strelitz, aus Bd. 68, (statt 1 RM ) 50 Rpf,
d) Moeller, Geschichte des Landespostwesens in Mecklenburg, aus Bd. 62, (statt 5 RM ) 1,50 RM ,
e) Ihde, Amt Schwerin, Geschichte seiner Steuern, Abgaben und Verwaltung bis 1655, (statt 8 RM ) 3 RM ,
f) Hoffmann, Die Stadtgründungen Mecklenburg-Schwerins in der Kolonisationszeit vom 12. bis zum 14. Jahrhundert, aus Bd. 94, (statt 4 RM ) 2 RM .

3. Register   über die Jahrbücher Bd. 41-50 (statt 5 RM ) 1 RM ,
          -           "     "           "         "    51-60 (statt 5 RM ) 1 RM .

4. Mecklenburgische Urkundenbücher, Bd. 1-23 (statt je 15 oder 16 RM ) je 4 RM , Bd. 24 (statt 10 RM ) 2 RM .

5. daraus: Mecklenburgische Siegel , 3 Hefte (statt je 4,50 RM ) je 1 RM .

6. Mecklenburgische Geschichtsquellen : Techen, Die Chroniken des Klosters Ribnitz. (statt 8 RM ) 4 RM .

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LXXXXV.                                    Schwerin, 1. Juli 1930.

Jahresbericht

über das Vereinsjahr

vom 1. Juli 1930 bis 30. Juni 1931.

Zu denen, die der Tod in diesem Jahre dem Verein genommen hat, zählt leider auch unser Ehrenmitglied und früherer erster Sekretär, der Geheime Archivrat Dr. Hermann Grotefend. Seiner ist schon zu Beginn dieses Jahrbuches gedacht und so dem verehrten, um den Verein und die mecklenburgische Geschichtsforschung hochverdienten Manne ein Denkmal in unserer Zeitschrift, die er lange Jahrzehnte hindurch geleitet hat, errichtet worden. Es verstarben ferner zwölf ordentliche Mitglieder, darunter der Justizrat Carl Wehmeyer in Schwerin nach 47jähriger und der Ministerialamtmann i. R. August Singhol in Schwerin nach 41jähriger Mitgliedschaft. Vierzig Jahre hatte dem Verein angehört der Notar Hans Oldenburg in Wismar, 37 Jahre der Freiherr Ulrich v. Maltzan auf Gr.-Lukow, zwanzig Jahre und darüber der Legationsrat Röttcher v. Biel auf Kalkhorst, der Fabrikbesitzer Heinrich Ahrendt in Riga, der Oberzollinspektor Ernst Brauer in Schwerin und der Kommissionsrat Ludwig Staude in Malchin.

Eingetreten sind 20 Mitglieder, ausgetreten 58. Zur Zeit zählt der Verein 5 Ehrenmitglieder, 7 korrespondierende Mitglieder, 9 Beförderer und 524 ordentliche Mitglieder. Vgl. Anlage A.

Von dem in Arbeit befindlichen Nachtragsbande des Urkundenbuches ist bisher etwa die Hälfte (35 Bogen) gedruckt. Auch sind die Register zum Teil bereits in Angriff genommen.

Zu den Geschichtsvereinen, mit denen wir einen Schriftenaustausch unterhalten, sind hinzugekommen die Genealogische Gesellschaft in Finnland (Genealogiska Samfundet i Finland) zu Helsingfors, die Jahrbücher und Schriften herausgibt, ferner der Geschichts- und Altertums-Verein in Liegnitz, der uns seine alle zwei Jahre erscheinenden Mitteilungen liefert. Im ganzen besteht der Austauschverkehr mit 275 Instituten und Vereinen.

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Am 9. Juli 1930 unternahm der Verein unter Führung des ersten Sekretärs einen Ausflug nach dem benachbarten, durch landschaftliche Schönheit und historische Denkmäler ausgezeichneten Lauenburg a. d. Elbe. Es beteiligten sich 26 Mitglieder und Gäste. Besichtigt wurden die Kirche und das Heimatmuseum des Städtchens, auch erfreute man sich des Anblickes seiner schönen alten spitzgiebeligen Fachwerkhäuser und der Fernsicht von der Schloßhöhe ins Elbtal. Eine Fahrt mit dem Motorboot elbabwärts führte zur Ertheneburg, der alten 1181 zerstörten Grafenburg der Sachsenmark deren Wallanlage noch zu erkennen ist. Der freundlichen Unterstützung durch die Herren vom Vorstande des Lauenburger Heimatbundes sei dankend gedacht.

Auf den vier Vortragsabenden, die wir während des Vereinsjahres in Schwerin veranstalteten, sprachen: am 8. Okt. 1930 Univ.-Prof. Dr. Schüßler aus Rostock über Kaiser Franz Joseph und das österreichische Problem, am 26. Nov. Univ.-Prof. Dr. Curschmann aus Greifswald über Streifzüge durch die Wappen-Kunst und Wissenschaft, am 4. Febr. 1931 Studienrat Beltz aus Schwerin über das Thema "Vom Geiste moderner Geschichtswissenschaft" und am 11. März. Univ.-Prof. Dr. Sedlmaier aus Rostock über Städtetypen. mittelalterlicher Backsteingiebel.

Am 6. Mai 1931 fand im Schweriner Archivsaal die 96. Hauptversammlung des Vereins statt, auf der Archivrat Dr. Zipfel vom Reichsarchiv in Potsdam über das Grenadierregiment Nr. 89 von der Mobilmachung bis zur Sommeschlacht vortrug. Dr. Zipfel gab damit einen Ausschnitt aus der von ihm vorbereiteten Geschichte des ruhmreichen Regiments 1 ) und wußte seine Zuhörer, unter denen S. K. H. der Großherzog sich befand, durch seine lebensvollen Kampfschilderungen zu fesseln. Es wurden alsdann Geschäftsbericht und Kassenbericht (Anl. B) erstattet. Zustimmung fand ein Vorschlag des ersten Sekretärs, am 8. Juli 1931 einen Ausflug nach Parchim zu unternehmen. Leider hatte unser Vizepräsident, Ministerialdirektor v. Prollius, sich entschlossen zurückzutreten. Seit 1882 Mitglied des Vereins, hat Herr v. Prollius von 1898-1920 das Amt eines Repräsentanten


1) Die Regimentsgeschichte wird im Verlage der Bärensprungschen Hofbuchdruckerei in Schwerin erscheinen.
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und seit 1920 das Amt des Vizepräsidenten verwaltet. Da sein Entschluß unwiderruflich war, brachte die Versammlung ihm auf Antrag des Präsidenten den Dank des Vereins für seine langjährige, verdienstvolle Wirksamkeit durch die einstimmige Ernennung zum Ehrenmitgliede zum Ausdruck. An seiner Stelle wurde unser bisheriger Repräsentant, Ministerialdirektor Dr. Krause , zum Vizepräsidenten gewählt. Ferner wählte die Versammlung Rechtsanwalt Dr. Wunderlich, der sein Amt als Bilderwart aufzugeben wünschte, zum Repräsentanten und Pastor emer. Bachmann, der in der historischen mecklenburgischen Bilderkunde besonders erfahren ist, zum Bilderwart. Die übrigen Vereinsbeamten wurden in ihren Ämtern bestätigt.


Vereinsausschuß für das Jahr 1931/32.

Präsident: Staatsminister i. R. D Dr. Langfeld, Exz.
Vizepräsident: Ministerialdirektor Dr. Krause.
Erster Sekretär: Staatsarchivdirektor Dr. Stuhr.
Zweiter Sekretär: Staatsarchivrat Dr. Strecker.
Rechnungsführer: Rechnungsrat Sommer.
Bücherwart: Direktor der Landesbibliothek Dr. Crain.
Bilderwart: Pastor emer. Bachmann.

Repräsentanten: Generaldirektor Gütschow,
                         Generalleutnant a. D. v. Woyna, Exz.
                         Rechtsanwalt Dr. Wunderlich.

Der zweite Vereinssekretär.
W. Strecker.       


Anlage A.

Veränderungen des Mitgliederstandes

im Vereinsjahr 1930-1931.

Ehrenmitglieder.

Ernannt: Ministerialdirektor i.R. Jaspar v. Prollius, Schwerin, am 6. Mai 1931, Ordentliches Mitglied seit 12. Jan. 1882; Repräsentant 26. April 1898-30. April 1920;

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Vizepräsident 30. April 1920-6. Mai 1931; Mitglied der Urkundenbuchskommission seit 1905, deren Vorsitzender seit 1920.

Gestorben: Staatsarchivdirektor i. R. Geheimer Archivrat Dr. Hermann Grotefend, Schwerin, am 26. Mai 1931. Ordentliches Mitglied seit 4. Juli 1887. Erster Sekretär 11. Juli 1887-30. Juni 1921, seitdem Ehrenmitglied und Repräsentant. Mitglied der Urkundenbuchskommission 1887-1931.

Ordentliche Mitglieder.

Eingetreten: 1. Referendar Ulrich Dumann, Schwerin. 2. Erster Kapellmeister am Staatstheater Walther Lutze, Schwerin. 3. Lehrerin Frl. Gertrud Staak, Gadebusch. 4. Frl. Hertha v. Stralendorff, Schwerin. 5. Dr. phil. Fritz Jessel, Schwerin. 6. Studienreferendar Dr. Karl Hoffmann, Schwerin. 7. Kriminalinspektor August Meese, Schwerin. 8. Museumsrat Dr., Heinrich Reifferscheid, Schwerin, 9, Regierungsbaurat Heinrich Wehmeyer, Parchim. 10. Museumsdirektor Dr. Walter Josephi, Schwerin. 11. Lehrer Willi Zachow, Parchim. 12. Generalagent Friedrich Prahl, Schwerin. 13. Studienassessor Hans Bielefeldt, Neukloster. 14. Dr. med. Axel Hübener, Schwerin. 15. Studienrat Dr. Gustav Lange, Schwerin, 16. Diplom-Ingenieur Heino Sellschopp, Schwerin. 17. Kaufmann Ferdinand Oldewelt, Schwerin. 18. Pastor Gottfried Kleiminger, Schwerin. 19. Kaufmann Chr. Bolbrügge, Mexiko, 20. Kreistierarzt Dr. Ulrich Walzberg, Schwerin.

Gestorben: 1. Louis Viedt, Buffalo, im Juli 1930. 2. Justizrat Carl Wehmeyer, Schwerin, am 27. Juli 1930. 3. Hauptmann a. D. Waldemar Himstedt, Schwerin, am 19. Oktober 1930. 4. Legationsrat Röttcher v. Biel, Kalkhorst, am 20. Okt. 1930. 5. Rechtsanwalt Paul Schröder, Wismar am 23. Okt. 1930. 6. Ministerialamtmann i. R. August Singhol, Schwerin, am 27. Okt. 1930. 7. Fabrikbesitzer Heinrich Ahrendt, Riga, am 4. Nov. 1930. 8. Notar Hans Oldenburg, Wismar. am 1. Jan. 1931. 9. Oberzollinspektor i. R. Ernst Brauer, Schwerin, am 18. März 1931. 10. Frhr. Ulrich v. Maltzan auf Gr.-Lukow, am 4. April 1931. 11. Gutsbesitzer Friedrich Bicker, Ramelow, am 10. Juni 1931. 12. Kommissionsrat Ludwig Staude, Malchin, am 13. Juni 1931.


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Anlage B.

Auszug aus der Vereinsrechnung

für den Jahrgang 1929-1930.

Auszug aus der Vereinsrechnung für den Jahrgang 1929/30. Einnahme - Ausgabe
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Auszug aus der Vereinsrechnung für den Jahrgang 1929/30. Abschluß - Vermögensübersicht

Der Rechnungsführer.
Sommer.        

Vignette

 

 


Für den Bezug von älteren Jahrbüchern, von Urkundenbüchern und von Geschichtsquellen machen wir auf S. 220 aufmerksam.