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Jahrbücher

des

Vereins für mecklenburgische Geschichte
und Altertumskunde,

 

gegründet von Friedrich Lisch,
fortgesetzt von Friedrich Wigger und Hermann Grotefend.

 


 

Einundneunzigster Jahrgang.

herausgegeben von

Staatsarchivdirektor Dr. F. Stuhr,

als 1. Sekretär des Vereins.

 

Mit angehängtem Jahresbericht.

 


 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Schwerin, 1927.

Druck und Vertrieb der Bärensprungschen Hofbuchdruckerei.
Vertreter: K. F. Koehler, Leipzig.

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Inhalt des Jahrbuchs.

 

Seite
I. Der Übergang des Landes Stargard von Brandenburg auf Mecklenburg. Ein Vortrag von Professor Dr. Hermann Krabbo - Berlin 1
II. Die hoheitsrechtlichen Verhältnisse in der Travemünder Bucht. Von Staatsarchivrat Dr. Werner Strecker - Schwerin 19
III. Die Lage der Travemünder Reede. Von Staatsarchivrat Dr. Werner Strecker - Schwerin 69
IV. Die alte Herzogsburg in Neustadt. Von Oberbaurat Adolf Friedrich Lorenz - Schwerin 123
V. August Achilles, ein Künstler der alten Zeit. Von Anna Marie Freiin v. Langermann und Erlencamp - Schwerin 137
VI. Das Haus zum Heiligen Geiste zu Wismar. Von Archivrat Dr. Friedrich Techen - Wismar 153
VII. Die wendischen Schatzfunde aus Mecklenburg. Von Professor Dr. Robert Beltz - Schwerin 249
VIII. Fanny Tarnow, eine Skizze ihres Lebens nach neu erschlossenen Quellen. Von Professor Dr. Adolf Thimme - Göttingen 257
IX. Die geschichtliche und landeskundliche Literatur Mecklenburgs 1926/27. Von Staatsarchivrat Dr. Werner Strecker - Schwerin 279
Jahresbericht (mit Anlagen A und B) 289
Mitgliederverzeichnis nach dem Stande vom 1. Januar 1928 295
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I.

Der Übergang
des Landes Stargard von
Brandenburg auf Mecklenburg.

 

Ein Vortrag

von

Hermann Krabbo.

 

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K ein ostdeutsches Territorium hat so viel Gewinn aus der ostdeutschen Kolonisation zu ziehen gewußt, wie die Mark Brandenburg. Im Jahre 1227 war durch die Schlacht bei Bornhöved die Macht des dänischen Königs Waldemar II., des Siegers, gebrochen worden, der bisher die deutsche Ostseeküste von Holstein über Mecklenburg bis Pommern beherrscht und den Deutschen erfolgreich den Weg zur Ostsee gesperrt hatte. Die Pommernherzöge waren seine Lehnsleute gewesen; namentlich auf ihre Kosten haben in den nächsten Jahrzehnten die Markgrafen Johann I. und Otto III., die damals gemeinsam und tatkräftig die Regierung der Mark führten, ihr Land geweitet. In den wenigen Jahren zwischen 1230 und 1236 haben sie den Pommern nacheinander abgenommen den Teltow, den Barnim, die südliche Ukermark bis zur Welse und schließlich das Land Stargard. Letztere Landschaft, die etwa dem Hauptteil des heutigen Mecklenburg-Strelitz entspricht, ging 1236 durch Vertrag an Brandenburg über. Städte waren damals noch nicht im Lande Stargard vorhanden; sie erwuchsen jetzt aber rasch; namentlich der als Städtegründer erprobte Markgraf Johann I. nahm sich nach dieser Richtung des Landes Stargard an. Er hat 1244 hart an der nunmehrigen Grenze gegen Pommern die Stadt Friedland gegründet, diesmal zusammen mit seinem Bruder Otto III.; und die Stadt hat das Gedächtnis der askanischen Brüder auch zu Zeiten, wo sie längst mecklenburgisch geworden war, pietätvoll gewahrt, indem sie im Stadtsiegel auch fernerhin die Bilder der beiden Markgrafen, zwischen denen der brandenburgische Adlerschild abgebildet war, führte. Vier Jahre später, 1248, gründete Johann I. die Stadt Neubrandenburg; der stolze Name ebenso wie die großartige Anlage zeigen, daß der Markgraf diesmal der Welt zeigen wollte, was das aufstrebende Brandenburg in der ostdeutschen Kolonialwelt vermochte. Auch diese Stadt hat, wie durch ihren Namen, so durch ihr Wappen, das den brandenburgischen Adlerhelm über der Stadtmauer zeigt, die Erinnerung an den Gründer wachgehalten.

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Als im Jahre 1258 die brandenburgischen Brüder ihre Lande unter sich teilten, kam Land Stargard an Otto III. Der hat im Jahre darauf Stargard zur Stadt erhoben und diese Landschaft gemeinsam mit seinen übrigen Besitzungen 1267 sterbend seinen Söhnen hinterlassen. Es darf gleich hier erwähnt werden, das sicher noch eine vierte Stadt im Lande der askanischen Frühzeit entstammt, nämlich Woldegk. Das Gründungsjahr ist unbekannt; sicher bestand die Stadt 1298; auch sie hat in späterer, mecklenburgischer Zeit im Siegelbild, einem Baum mit dem brandenburgischen Adlerschild darüber, die Erinnerung an die älteste Landesherrschaft festgehalten. Vertreter derselben waren, wie bemerkt, nach dem Tode Ottos III. dessen gemeinsam regierende Söhne; seit 1280 führten ihrer drei zusammen das Regiment, Otto V., Albrecht III. und Otto VI. Der älteste von ihnen, Otto V., der Lange, hat 1278 die Grenzen des Landes geweitet, indem er den Herren von Werle Wesenberg abnahm; dieses war damals schon Stadt, nach Schweriner Recht gegründet, das der Markgraf den Bürgern bestätigte. Zeigte sich Otto V. hier wie auch sonst als ein kriegerischer Fürst, so waren seine beiden Brüder je länger um so stärker von weltflüchtigen, asketischen Gedanken beherrscht, hierin echte Kinder Ottos III., der seinerseits bereits stark unter dem Einfluß der Dominikaner gestanden hatte. Von seinen Söhnen interessiert uns namentlich Albrecht III. Dieser nämlich trennte sich 1284 von seinen beiden Brüdern, Otto dem Langen und Otto dem Jüngeren, und ließ sich aus dem vom Vater ererbten Gebiet ein Drittel aussondern, das er fortab allein verwaltete; Reibungen mit dem ihn an Tatkraft weit überragenden älteren Bruder mögen ihn zu diesem Schritt veranlaßt haben. Das nunmehrige Sondergebiet Markgraf Albrechts III. umfaßte Teile des Barnim mit Strausberg und Eberswalde, östlich der Oder Gebiete nördlich der Warthelinie mit Bärwalde, Landsberg und Soldin, und endlich, was uns hier angeht, das Land Stargard, das von den übrigen Besitzungen des Markgrafen also weit ablag.

Wir müssen uns mit der Person des nunmehrigen alleinigen Landesherrn von Stargard etwas näher beschäftigen. Markgraf Albrecht III. war seit 1269 mit Mechtild, einer Tochter König Christophs von Dänemark, vermählt; die Ehe war mit vier Kindern gesegnet, zwei Söhnen und zwei Töchtern. Die beiden Söhne Otto und Johann, auch Henning genannt, sind vor dem Vater gestorben; Ende 1299 waren sie beide tot; die Töchter aber, Beatrix und Margarete, haben ihn überlebt. Namentlich die ältere der beiden wird uns noch näher angehen. In jüngeren Jahren hat

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Albrecht III., damals noch mit seinem Bruder Otto dem Langen zusammen regierend, gelegentlich das Schwert geführt, ohne jedoch im Kampfe Lorbeeren zu ernten; 1279 beteiligte er sich als Verbündeter der Magdeburger an einer Fehde, die ihm wenig Ehre einbrachte. Als sein Aufgebot nämlich im Braunschweigischen lagerte, brach in dessen Reihen nachts eine Panik aus auf die Kunde, daß die Gegner, die beiden waffengewaltigen Fürsten Albrecht der Große von Braunschweig und Otto mit dem Pfeil von Brandenburg, im Anzuge seien. Sehr ergötzlich erzählt da die braunschweigische Reimchronik, wie Markgraf Albrecht in dem nächtlichen Durcheinander sich mit beiden Händen auf einen Ritter stützte, wohl um sich die Eisenhosen anziehen zu lassen, und wie dann dieser Ritter umgerannt wurde und hinfiel und der Markgraf natürlich mit ihm. Jene Zeit verlangte von einem Fürsten in erster Linie die Eigenschaften eines Ritters, und nach dieser Richtung versagte Albrecht offenbar völlig; er war im Felde eine komische Figur. So darf es nicht auffallen, daß er, seit er sich von seinen Brüdern getrennt hatte, ein beschauliches Leben führte und eigentlich nur für die Kirche und ihre Vertreter Interesse an den Tag legte. Namentlich in seinen letzten Lebensjahren, als ihm die beiden Söhne und die Gattin wegstarben, hat er mit vollen Händen sein Gut an die Kirche - man ist geneigt, zu sagen - verschleudert. 1298 gründete er zu Soldin in der Neumark ein Domstift mit reicher Ausstattung an Grundbesitz und sonstigen Rechten; im gleichen Jahr empfing das Cisterziensernonnenkloster Wanzka, das er selbst schon früher im Lande Stargard errichtet hatte, eine Jahresrente von 100 Talenten aus landesherrlichen Einkünften. 1299 wurde zunächst das Dominikanerkloster in Strausberg, in dem sein Vater beigesetzt war, bedacht, ferner das Cisterzienserkloster Himmelpfort mit wiederum reicher Ausstattung gegründet und schließlich dem Cisterzienserkloster Semmritz eine Zuwendung gemacht. In seinem Todesjahr 1300 endlich wurde eine Kirche in Zerbst beschenkt, dann abermals ein Cisterzienserkloster zu Himmelstädt in der Neumark gestiftet, und zwar mit unerhört reichem Grundbesitz - die Stiftungsurkunde nennt außer sonstigen Rechten allein 15 Dörfer, einen Hof, 12 ganze und 4 halbe Seen. Dann bekam das Cisterziensernonnenkloster Bernstein in der Neumark, auch dieses eine frühere Stiftung des frommen Markgrafen, ein Dorf, weiter wurden in der Pfarrkirche der Stadt Eberswalde, in deren Mauern der Markgraf seine letzten Tage verbrachte, mehrere Altäre gestiftet und dotiert, und schließlich wurde den Cisterziensernonnen in Friedland bei Wrietzen in

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der Mark ein zusammenfassendes Privilegium erteilt. Dies alles in drei Jahren; ich habe die Liste absichtlich nicht weiter ausgedehnt, um nicht zu ermüden. Wenn die Neugründungen Himmelpfort und Himmelstädt heißen, so beweisen diese Namen, in welche Richtung die Gedanken des frommen Markgrafen sich in seinen letzten Jahren bewegten.

Ich darf nochmals zu den Kindern des Markgrafen zurückkehren; seine beiden Töchter überlebten ihn, wie bemerkt. Die ältere, Beatrix, ist am 11. August 1292 zu Neubrandenburg die Gattin Heinrichs II., des Löwen, von Mecklenburg geworden; sie hat bis zu ihrem Tode im Jahre 1314 in glücklicher Ehe mit ihm gelebt. Sehr viel abenteuerlicher sind die Geschicke ihrer jüngeren Schwester Margarete gewesen; ihr erster Gatte war Przemysl II., Herzog und seit 1295 König von Polen. Das Verhältnis der Ehegatten war nicht gut, denn als der König 1296 ermordet wurde, zieh man seine Gattin der Mitschuld an dieser Untat. Trotzdem fand sich bald ein neuer Bewerber um ihre Hand in der Person des Herrn Nikolaus von Rostock; es war Heinrich von Mecklenburg gewesen, der seinen Rostocker Vetter auf seine Schwägerin hingewiesen hatte. Aber Herr Nikolaus besann sich bald eines anderen und heiratete eine pommersche Herzogstochter. Es ist bezeichnend für den tatenscheuen, weltflüchtigen Markgrafen Albrecht, daß er sich selbst jetzt, wo seiner Tochter doch schwerste Schmach angetan war, nicht aufraffte, die Beleidigung zu rächen. Anders als er aber dachten die übrigen Markgrafen von Brandenburg: Albrechts Vetter, der waffengewaltige Otto mit dem Pfeil und sein Neffe, Markgraf Hermann, brachen sofort zu Ende 1299 trotz strengster Kälte zu einem Vergeltungszuge gegen Nikolaus von Rostock auf und mit ihnen Heinrich von Mecklenburg; auch er war persönlich aufs schwerste gekränkt, weil er doch dem ungetreuen Bräutigam seine Schwägerin Margarete empfohlen hatte. Nur mit schweren Opfern hat Rostock schließlich den Abzug der Brandenburger und ihrer Helfer erkauft. Nebenbei bemerke ich, daß die Markgräfin Margarete, die, wie es hieß, bei der Ermordung des ersten Gatten die Hand im Spiele gehabt und für die der nächstfolgende Verlobte gedankt hatte, in der Tat eine mit Vorsicht zu genießende Dame war: sie hat später den Herzog von Sachsen-Lauenburg geheiratet, und ein lübischer Chronist bemerkt dazu nur, diese Ehe habe dem Lande ihres neuen Gatten nicht zum Segen gereicht.

Wir müssen nochmals zu dem Rachezug gegen Nikolaus von Rostock zurückkehren. Eben aus den Tagen, da er stattfand, liegt

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das erste Zeugnis vor, daß Markgraf Albrecht dem Mecklenburger die Verwaltung seines entlegenen Landes Stargard übertragen hatte, und zwar ist diese Übertragung in der Form der Belehnung erfolgt. Das Land blieb also ein Teil der Mark Brandenburg; als Lehnsmann des Schwiegervaters führte Heinrich fortab die Verwaltung von Land Stargard; er hat sich zudem zur Zahlung der erheblichen Geldsumme von 3000 Mark verpflichten müssen. Man wird den Schritt des Markgrafen verstehen: Söhne hatte er nicht mehr, der einzige Schwiegersohn aber trat eben damals tatkräftig für die Ehre des Hauses ein, dem seine Gattin entstammte. Trotzdem Stargard rechtlich ein Teil der Mark Brandenburg blieb, bestand seither die Gefahr, daß das Land mitsamt der stolzen Stadt Neubrandenburg seinem historischen Zusammenhang entfremdet wurde; es lag an der Grenze der mecklenburgischen Länder, und Herr Heinrich der Löwe war ein machthungriger, ehrgeiziger Fürst. Markgraf Albrecht hat das letzte Jahr seines Lebens, als Witwer wie ein Mönch lebend, verbracht; den Boden des Landes Stargard hat er, soviel wir wissen, nicht mehr betreten. Am 4. Dezember 1300 hat er die müden Augen geschlossen. Sein Erbe war sein Neffe Markgraf Hermann; er, der auch die Markgrafen Otto V. und Otto VI. beerbt hatte, vereinigte jetzt also wieder den ganzen Besitz der jüngeren askanischen Linie in seiner Hand; von ihm mußte nunmehr der Mecklenburger das Land Stargard zu Lehen nehmen. Aber Markgraf Hermann erkannte das von seinem Oheim Albrecht geschaffene Rechtsverhältnis nicht an, er beanspruchte die direkte Beherrschung des Landes Stargard als eines Teiles der ihm durch Albrechts Tod zugefallenen Erbschaft. Es wäre darüber wohl über kurz oder lang zu einem Kriege gekommen, wenn nicht der Fall eingetreten wäre, daß die Askanier der Hilfe des Mecklenburgers bedurft hätten. Sie waren nämlich in schweren Konflikt mit dem deutschen König Albrecht geraten, gedachten diesen Streit im Bunde mit König Wenzel II. von Böhmen auszufechten und wünschten, sich dazu der Unterstützung des kriegskundigen Heinrich von Mecklenburg zu versichern. Unter diesen Umständen mußte Markgraf Hermann natürlich betreffs seines Anspruches auf Land Stargard einlenken. So ist es am 15. Januar 1304 zwischen ihm und dem Mecklenburger zu dem feierlichen Vertrag von Vietmannsdorf bei Templin gekommen; der Markgraf hat die betreffenden Urkunden auch von seinen johanneischen Vettern mitsiegeln lassen, da die Zukunft des Landes Stargard eine das brandenburgische Gesamthaus berührende Frage war. Wir erfahren aus dem Vietmannsdorfer Vertrag zunächst, daß Heinrich die Summe, die er seinem

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Schwiegervater schuldete, noch nicht beglichen hatte; jetzt wurde sie auf 5000 Mark erhöht, und die Termine, innerhalb deren das Geld abzuzahlen war, wurden genau festgesetzt. Dafür erkannten die Markgrafen an, daß Stargard in der Hand Heinrichs blieb; es galt nunmehr als ein Lehn, das er von Markgraf Hermann trug, und als Leibgedinge von Heinrichs Gattin, der brandenburgischen Beatrix; auch das Erbrecht von deren Kindern wurde in bezug aus den Lehnbesitz anerkannt, wogegen das Land, sofern sie erbenlos sterben sollten, natürlich an Brandenburg zurückfallen sollte. Gleichzeitig wurde ein Bündnis zwischen Heinrich von Mecklenburg und den Brandenburgern abgeschlossen.

Dieses Bündnis trat bald genug in Kraft, als eben der drohende Krieg zwischen König Albrecht und den Markgrafen wirklich ausbrach. Als diese ins Feld rückten, leistete ihnen Herr Heinrich mit 400 Rittern und Knappen Zuzug. Als Lehnsmann wäre er nur verpflichtet gewesen, seine Stargarder Vasallen aufzubieten; unter den 400 Berittenen werden aber - das macht die Größe seiner Streitmacht wahrscheinlich - wohl auch Mecklenburger gewesen sein, die er den Markgrafen auf Grund des Bündnisses zuführte; er konnte es um so eher, als der Böhmenkönig, zu dessen Unterstützung die ganze Schar ins Feld zog, dem Mecklenburger reichlichen Sold für sein Aufgebot in Aussicht gestellt hatte. Führer der Brandenburger waren die waffenkundigen Markgrafen Otto mit dem Pfeil und Hermann, dieselben, die 1299 mit Heinrich zusammen den Rachezug gegen Rostock unternommen hatten, dazu Ottos Neffe Markgraf Waldemar. Der böhmische Feldzug im Oktober 1304 verlief ohne größere Kämpfe, obwohl auf beiden Seiten starke Streitkräfte aufgeboten waren. Die Heere beobachteten sich gegenseitig einige Tage; bei den Hin- und Hermärschen, die damit verbunden waren, soll Herr Heinrich sich durch besonderen Wagemut ausgezeichnet haben. Dann mußte König Albrechts Heer, in dem wegen der herrschenden Kälte Mangel ausbrach, den Rückzug antreten, und König Wenzel konnte nunmehr seine Verbündeten wieder entlassen; Heinrich von Mecklenburg erhielt vom Böhmenkönig einen Sold von 1000 Schock Prager Groschen; er verwendete das Geld, um die Summe, die er für den Lehnsbesitz des Landes Stargard an seinen Lehnsherrn zahlen mußte, voll abzutragen; erst jetzt also konnte er sich als im gesicherten Lehnsbesitz seiner neuen Erwerbung befindlich betrachten.

An dieser Rechtslage änderte sich nichts, als sein Lehnsherr, Markgraf Hermann, am 1. Februar 1308 starb. Er hinterließ einen Sohn, Johann V. von Brandenburg, und für ihn, der erst knapp

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sechs Jahre alt war, führte Markgraf Waldemar die Vormundschaft. Er hatte also jetzt die lehnsherrlichen Rechte über das Land Stargard wahrzunehmen. Da er und Heinrich von Mecklenburg, die Waffengenossen im böhmischen Feldzug von 1304 gewesen waren, sich gut miteinander standen, so blieb ihr Verhältnis auch jetzt ungetrübt; zudem pflegte Heinrichs brandenburgische Gemahlin, Frau Beatrix, nach wie vor freundnachbarliche Beziehungen zwischen ihrem Gatten und ihrer Heimat. Beide aber, Waldemar von Brandenburg und Heinrich von Mecklenburg, gerieten eben in diesen Jahren in steigende Abhängigkeit von König Erich II. Menved von Dänemark, der das alte Ziel seines Vorfahren, König Waldemars II., erfolgreich wieder aufgenommen hatte und nach der Beherrschung der deutschen Ostseeküste strebte. Ein erster Schritt war ihm bereits 1300 gelungen: damals hatte Herr Nikolaus von Rostock, der in dauernder Angst vor den Markgrafen lebte, seit er seine brandenburgische Braut hatte sitzen lassen, sein Land dem Dänenkönig als Lehen aufgelassen. Zudem taten die deutschen Ostseestädte ein übriges, durch ihr selbstbewußtes Auftreten die Fürsten zu engstem Zusammenschluß zu bringen; es bereitete sich ein Waffengang zwischen dem werdenden Hansebund der Städte einerseits und den Fürsten, die die reichen Städte ihren Territorien straffer eingliedern wollten, andererseits vor, und König Erich, der als Lehnsherr des Landes Rostock an diesen Dingen interessiert war, wünschte die Gelegenheit zu benutzen, seine Stellung an der deutschen Ostseeküste auszubauen. Der erste Zusammenstoß erfolgte zwischen Wismar und dem Mecklenburger. Dieser hatte die Hochzeit seiner Tochter Mechtild, dem einzigen großgewordenen Kinde aus seiner Ehe mit der Brandenburgerin, im Jahre 1310 zu Wismar feiern wollen; die Stadt aber hatte sich geweigert, die Hochzeitsgäste einzulassen - sie fürchtete wohl wegen der Sicherheit der Stadt, wenn eine zahlreiche ritterliche Hochzeitsgesellschaft in ihr Aufenthalt nahm -, und das Fest mußte zu Sternberg stattfinden. Der beleidigte Heinrich sann natürlich auf Rache gegen die widerspenstige Stadt, die im übrigen den Zeitpunkt, dem Landesherrn die Türe zu weisen, sehr unpassend gewählt hatte. Im folgenden Sommer sollte zu Rostock ein riesiger Hoftag stattfinden, zu dem König Erich die gesamte Fürstenwelt des deutschen Nordostens eingeladen hatte und woselbst Markgraf Waldemar samt 99 Adeligen die Ritterwürde empfangen sollte. Aber auch hier machte die Stadt einen Strich durch die Rechnung, indem sie sich für die ihr zugedachte Ehre bedankte. Sie ließ zwar König Erich in ihre Mauern ein, als er vor Beginn des Festes erschien,

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sie ließ ihn aber gleichzeitig wissen, daß sie vor den in Aussicht stehenden Massen der Festteilnehmer ihre Tore schließen werde. Es war dem Dänenkönig nichts übrig geblieben, als die Stadt wieder zu verlassen; das Fest hat dann mit unerhörtem Prunk bei Gehlsdorf, jenseits der Warnow, stattgefunden. Genau wie Wismar den Mecklenburger, so hatte Rostock den Dänen und den Brandenburger schwer gekränkt; gemeinsam sind die drei, nachdem Heinrich allein Wismar unterworfen hatte, daran gegangen, den Trotz Rostocks zu brechen, was erst nach mehr als Jahresfrist gelang. Auch hier also fochten Markgraf Waldemar und Herr Heinrich Schulter an Schulter. Dann aber begann sich ihr Verhältnis zu trüben, und falls es nun etwa dazu kam, daß sie die Waffen widereinander kehrten, mußte auch die bisherige Rechtslage des Landes Stargard kritisch werden; denn Heinrich trug es zu Lehen, Waldemar aber vertrat als Vormund den kleinen Markgrafen Johann als Lehnsherrn. Die Entfremdung zwischen Waldemar von Brandenburg und Heinrich von Mecklenburg trat dadurch ein, daß König Erich von Dänemark jetzt seine Großmachtpläne auch auf Pommern ausdehnte. Dem Mecklenburger konnte es ganz recht sein, wenn Erichs Macht weiter wuchs; denn dieser, der natürlich immer nur vorübergehend an der deutschen Ostseeküste erscheinen konnte, hatte den kriegskundigen Heinrich zu seinem Statthalter und Feldhauptmann bestellt; je mächtiger der König selbst wurde, um so mehr hob sich auch die Stellung seines deutschen Vertreters. Anders Waldemar: wenn der Däne nach Pommern übergriff, so griff er damit in den Machtkreis Brandenburgs ein, denn die Pommernherzöge trugen ihre Lande vom Markgrafen zu Lehen; und wenn etwa der Däne Herr der Odermündung wurde, so konnte er der Mark einen Verkehrsweg unterbinden, auf dessen Freihaltung Waldemar mit Recht höchsten Wert legte. So rückten also jetzt Waldemar und seine pommerschen Lehnsleute von der dänischen Politik ab, und da Heinrich von Mecklenburg diese zu seiner eigenen gemacht hatte, so trat zwangsläufig zwischen ihm und Waldemar eine starke Entfremdung ein. Auch hier trug das selbstbewußte Auftreten einer Stadt zur Zuspitzung der Lage bei: Stralsund hatte sich mit seinem damaligen Landesherrn, dem Fürsten Wizlaw von Rügen, überworfen, und da der Fürst von Rügen sich als Lehnsmann König Erichs bekannte, so stellte die Stadt Stralsund sich nunmehr unter den Schutz des Markgrafen. Das bedeutete noch nicht den Bruch, den vielmehr beide Parteien noch hinauszuzögern trachteten, da weder der König noch der Markgraf zum Kriege gerüstet waren. So vergingen das Jahr 1314 und der Anfang des

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folgenden Jahres in wachsender politischer Spannung; hüben und drüben wurden Bundesgenossen geworben. Es war sicher nicht ohne Bedeutung, daß eben in dieser Zeit die Gattin Heinrichs von Mecklenburg, die brandenburgische Beatrix, starb, am 22. September 1314. Ob sie den Bruch ihres Gatten mit Brandenburg verhindert hätte, bleibe dahingestellt; ihr Tod hat es jedenfalls dem Mecklenburger erleichtert, als Feldhauptmann des Königs gegen Brandenburg zu fechten. Zwar hat Heinrich von Mecklenburg noch unmittelbar nach dem Hinscheiden seiner Frau im Gefolge des Markgrafen einen Ritt nach Frankfurt am Main gemacht, wo im Oktober 1314 die bekannte deutsche Doppelwahl stattfand, aus der Ludwig der Bayer und Friedrich der Schöne hervorgingen. Dann aber schieden sich die Wege Waldemars und Heinrichs endgültig; ihr nächstes Zusammentreffen fand auf dem Schlachtfeld statt. Für den Krieg gegen Brandenburg hat König Erich erfolgreich in aller Welt Verbündete geworben: die Könige von Schweden, Norwegen und Ungarn, den Herzog von Polen, die russischen Großfürsten, dann in Norddeutschland die Herzöge Erich von Sachsen-Lauenburg und Otto von Lüneburg, die Fürsten von Rügen und Anhalt-Aschersleben, die Herren von Mecklenburg und Werle, die Grafen von Holstein und Schwerin, schließlich von Geistlichen den Erzbischof von Magdeburg und den Bischof von Schwerin. Haben auch manche der Verbündeten sich nachher nicht aktiv am Kampfe beteiligt, so war ihre Zahl doch immer beängstigend genug, und zu alledem hatte Waldemar gleichzeitig im Süden einen Kampf auf Tod und Leben gegen Markgraf Friedrich den Freidigen von Meißen auszufechten. Seine eigenen Verbündeten waren seine Verwandten, der kleine Markgraf Johann von Brandenburg, der im Sommer 1314 nach Sachsenrecht mit 12 Jahren mündig wurde, aber natürlich bei seinen jungen Jahren nach wie vor nur das tat, was sein bisheriger Vormund Waldemar verlangte. Zu Waldemar stand weiter sein Oheim, Markgraf Heinrich von Landsberg, der aber durch den Krieg gegen Meißen vollauf in Anspruch genommen war; dann seine Vasallen, die Herzöge von Pommern, schließlich die Städte Stralsund und Greifswald. Wennigstens zeitweise ist es ihm gelungen, auch Herrn Johann von Werle auf seine Seite herüberzuziehen. Von den umfangreichen Kämpfen der Jahre 1315 und 1316 gehen uns nur die an der brandenburgisch-mecklenburgischen Grenze sowie die vor Stralsund an. Das Kriegsziel König Erichs war die Befestigung seiner Macht in Pommern, namentlich. die Bezwingung des widerspenstigen Stralsund. Sein Feldhauptmann Heinrich von Mecklenburg hatte sich ihm gänz-

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lich verschrieben; er hatte aber noch ein eigenes, besonderes Kriegsziel zu verfolgen, die Behauptung des Landes Stargard. Denn Waldemar hatte ihm, der sich jetzt anschickte, gegen seinen Lehnsherrn zu fechten, Land Stargard als Lehen abgesprochen; da der Lehnsmann es natürlich nicht gutwillig herausgab, so mußten die Märker es sich holen. Dies, die Rückeroberung des Landes Stargard, war das eine Kriegsziel der Brandendurger; das andere bestand in der Unterstützung der Stralsunder und in der Behauptung des märkischen Einflusses in Pommern.

Der Krieg begann Ende 1315 mit einem Angriff der Märker auf Land Stargard. Mit starkem Aufgebot, das sich in der Ukermark, wohl bei Prenzlau, gesammelt hatte, brach Waldemar los. Fürstenhagen, der erste Grenzplatz, wurde leicht überrannt, dann legte sich das Heer vor Woldegk, das sieben Wochen lang bestürmt wurde. Hier aber zeigte sich, wie so oft im Mittelalter, daß die damaligen Verteidigungsmittel den Angriffswaffen überlegen waren. Waldemar hat dem tapfer verteidigten Platz auf alle Weise beizukommen gesucht; tief unter der Erde lies er einen Stollen graben, um so ins Innere der Stadt zu gelangen; aber die Belagerten trieben oberhalb des gegnerischen Stollens einen Gegentunnel vor; dieser wurde von ihnen unter Wasser gesetzt, das dann in den tiefer liegenden märkischen Stollen durchbrach, so das dieser verschüttet wurde und seine Besatzung elendiglich unter der Erde umkam. Wir wissen zufällig, daß die eine Stadt Prenzlau im Dienste des Markgrafen Pferde im Werte von 100 Talenten vor Woldegk einbüßte; ebenso, daß die Stadt Königsberg (in der Neumark) allein anläßlich der Belagerung 40 Wispel Roggen und 50 Karren Bier im Werte von 180 Talenten liefern mußte. Nach schweren Verlusten an Gut und Blut gab Waldemar die Berennung von Woldegk auf. Verteidiger der Stadt war Martin von der Hude, der mecklenburgische Vogt von Stargard, gewesen. Das brandenburgische Aufgebot setzte trotz dieses Fehlschlages den Marsch ins Innere des Landes Stargard in nordwestlicher Richtung fort und erschien nach Durchquerung des Landes vor Neubrandenburg, wo Heinrich von Mecklenburg selbst kommandierte; auch hier scheiterte der Markgraf und verlor 30 Ritter an Gefangenen. Der Rückmarsch nach dem abgeschlagenen Angriff erfolgte in südlicher Richtung; bei Fürstensee, südöstlich von Strelitz, gelang es der mecklenburgischen Besatzung von Burg Stargard noch, den abziehenden Feinden 60 Ritter an Gefangenen abzunehmen. Die Eroberung des Landes Stargard war mißglückt. Das war im Winter 1315/16 gewesen.

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Ich darf einschalten, daß unsere genaue Kenntnis über Einzelheiten dieses Krieges vornehmlich auf der unschätzbaren, leider immer noch einer würdigen Ausgabe harrenden mecklenburgischen Reimchronik des Ernst von Kirchberg beruht. Zwar verfaßte der Dichter diesen Teil seines Werkes erst rund zwei Menschenalter nach den Geschehnissen, doch verfügte er über Nachrichten, die sich im allgemeinen, soweit wir sie kontrollieren können, als zuverlässig erweisen, wenngleich er natürlich alles Licht auf seinen mecklenburgischen Helden, Herrn Heinrich den Löwen, fallen läßt. Daß er gelegentlich einmal ihm zuliebe die Dinge etwas verschiebt, werden wir noch feststellen können, wobei aber die Frage offen bleibt, ob solche Verdunkelung der wirklichen Vorgänge nicht schon vor ihm von seinen Gewährsleuten bewirkt worden ist.

Wir kehren zu den kriegerischen Ereignissen zurück, die wir bis zu dem ersten, erfolglosen Angriff Waldemars auf das Land Stargard verfolgt haben. Wie dieser Ansturm mehr den Eindruck eines ritterlichen Draufgehens als den systematischer Kriegsführung macht, so verlaufen auch die weiteren Geschehnisse ziemlich zusammenhanglos, wie zufällig. Unmittelbar nach den Zusammenstößen im Stargardischen flammte der Krieg in einem anderen Teile Mecklenburgs auf. Waldemar hatte, wie erwähnt, den Herrn Johann von Werle auf seine Seite herübergezogen. Gegen diesen wandte sich jetzt ein Aufgebot Heinrichs unter dem Ritter Bertold Preen, zu dem die Grafen Gerhard und Johann von Holstein sowie Heinrich von Schwerin gestoßen waren; der Zusammenstoß erfolgte bei Mölln westlich Neubrandenburg; er verlief glücklich für den Werler, und Graf Heinrich von Schwerin wurde sein Gefangener. Stürmisch jagten die Sieger den fliehenden Feinden nach; aber 7 km weiter westlich, bei Luplow an der oberen Peene, gelang es den Geschlagenen, sich zu neuem Streit zu stellen, und nun wandte sich das Blatt: Johann von Werle mit dreihundert seiner Leute fiel in Gefangenschaft, und die Sieger brachten ihre kostbare Beute, den Werler, noch am gleichen Tage nach Neubrandenburg, von wo ihn Heinrich sicherheitshalber erst nach Stargard, dann nach Sternberg in Westmecklenburg schaffen ließ. Da Waldemar im Augenblick nicht in der Lage war, etwas für die Befreiung seines Verbündeten zu tun, so hat sich Johann von Werle bald mit dem Bund seiner Feinde geeinigt: Am 23. März hat er seine Freiheit erkauft, indem er von der brandenburgischen Seite auf die dänisch-mecklenburgische zurücktrat und gleichzeitig seinen eigenen Gefangenen, den Schweriner Grafen, freigab. Also auch hier hatte das Kriegsglück gegen den Markgrafen entschieden. In denselben Tagen gelang

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Herrn Heinrich die Eroberung der festen Eldenburg bei Lübz, die die Brandenburger 1308 an der damaligen Grenze der Prignitz errichtet hatten; auch Strohkirchen, ein ähnlicher märkischer Außenposten zwischen Ludwigslust und Hagenow, fiel ihm anheim. Ein zweiter Einfall, den eine brandenburgische Streifschar ins Land Stargard machte, gelangte zwar wiederum bis in dessen Herz, wurde aber dicht östlich der Stadt Stargard, bei Quastenberg und Dewitz, gebrochen. Den Mecklenburgern aber gelang im Juni die Eroberung von Meyenburg an der Grenze der Prignitz. Faßt man die bisherigen Ereignisse zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Die Brandenburger, die aufs Ganze gingen und Land Stargard erobern wollten, drangen zwar zweimal in stürmischem Anlauf tief in das Land ein; ihre Kräfte reichten aber nicht aus, die festen Plätze zu brechen und damit das im Fluge Gewonnene zu behaupten; die Mecklenburger aber, die sich in der Abwehr befanden, machten in den Kampfpausen kleine Grenzvorstöße und gewannen dabei einzelne feindliche Plätze, was Waldemar ihnen nicht wehren konnte, da er auch an anderen Grenzen seines ringsum bedrohten Landes zwischendurch erscheinen mußte.

Nunmehr aber, als es Sommer wurde, erschien ein neuer Hauptkämpfer auf dem Schauplatz, König Erich von Dänemark. Das Ziel seiner Wünsche bestand darin, in Pommern Fuß zu fassen; den Zugang zum Lande wollte er sich durch die Unterwerfung von Stralsund erkämpfen. Es war Waldemar und seinem Lehnsmann, Herzog Wartislaw von Pommern, rechtzeitig gelungen, ausreichende Streitkräfte in die bedrohte Stadt zu werfen, die nunmehr zu Wasser und zu Lande eingeschlossen wurde. Auf 60 Schiffen legten sich 2000 Dänen davor; König Erich selbst erschien bei seinen Truppen. Von seinen deutschen Gefolgsleuten waren Fürst Wizlaw von Rügen, Bischof Hermann von Schwerin, Herzog Erich von Sachsen-Lauenburg und sein getreuer Feldhauptmann Heinrich von Mecklenburg zur Stelle. Aber die Eingeschlossenen führten die Verteidigung mit Tatkraft und Glück; namentlich gelang es ihnen, sich die Verbindung mit der Außenwelt stets offen zu halten: bei einem Ausfall zur See glückte es den unternehmungslustigen Städtern, das Königsschiff Erichs von Dänemark in Brand zu stecken. Noch ergebnisreicher war ein Ausfall zu Lande, der in der Morgenfrühe des 21. Juni unternommen wurde: zu den Gefangenen, die die Städter einbrachten, zählte Herzog Erich von Lauenburg; sie lieferten ihn an Herzog Wartislaw von Pommern aus, der ihn seinerseits an Waldemar weitergab. Die Stadt "zu dem Sunde", wie sie damals genannt wurde,

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ist ebenso unbezwungen aus dieser Belagerung hervorgegangen, wie 312 Jahre später, als der kriegsgewaltige Wallenstein vergeblich vor ihr lag.

Von Stralsund weg wandte sich der unermüdliche Heinrich von Mecklenburg einem neuen Einfall in die märkischen Grenzgebiete zu. Diesmal sollte das Ruppiner Land, das bisher unter dem Krieg noch nicht gelitten hatte und deshalb reiche Beute versprach, heimgesucht werden. Zusammen mit seinem nunmehrigen Verbündeten Johann von Werle machte er im August einen Zug über die Grenze; mit Raub und Plünderung suchten die beiden, deren Aufgebot 800 Berittene und viel Fußvolk umfaßte, das Land um Gransee heim. Sie befanden sich mit ihrer Beute bereits auf dem Rückmarsch zur Grenze, als Markgraf Waldemar sie zwischen Schulzendorf und Groß Woltersdorf ereilte. Er griff sofort an, obgleich er nur 500 Ritter zur Stelle hatte und sein Fußvolk noch nicht heran war; es mußte versucht werden, zu verhindern, daß die Mecklenburger ihre Beute ungestraft in Sicherheit brachten. So kam es zu einem erbitterten Kampfe. Aber die mecklenburgische Übermacht war zu groß; namentlich fiel ins Gewicht, daß ihnen allein Fußvolk zur Verfügung stand - diese Truppe fing eben damals an, beim Ausgang der Kämpfe entscheidend mitzuwirken. Die Fürsten selbst fochten in vorderster Reihe: Heinrich von Mecklenburg bekam einen schweren Axthieb über den Helm, der aber standhielt. Dem Markgrafen, der tief in den Haufen des feindlichen Fußvolks eingedrungen war, gingen im Getümmel Helm und Roß verloren; heftig setzte ihm Niclaus Schrapentroc, ein Bürger aus Grevesmühlen, zu; hier mag Waldemar die Wunde empfangen haben, deren tiefe Narbe, wie wir wissen, sein Antlitz zierte; als er am Erliegen war, griff der mecklenburgische Ritter Wedigo von Plate ein und entriß ihn den ihn umringenden Bauern, natürlich um ihn lebend zu fangen, was ihm Ruhm und Geld eingebracht hätte; das glückte ihm aber nicht, vielmehr befreite der Graf von Mansfeld den Markgrafen und verhalf ihm zu einem ledigen Rosse, geriet darüber freilich selbst in Gefangenschaft. Dies Los teilte neben manchen anderen auch der Graf von Wernigerode mit ihm. Ging Waldemar auch als Besiegter aus dieser Schlacht gegen die Übermacht hervor, so lächelte ihm doch trotz seiner Niederlage das Glück: Die Seinigen nämlich fingen den Grafen Hans von Holstein, einen Stiefbruder König Erichs von Dänemark, und fürstliche Gefangene, für die damals hohe Lösegelder gefordert und gezahlt wurden, waren beim Friedensschluß gute Faustpfänder. Waldemar besaß deren

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aber zwei, neben dem Holsteiner den vor Stralsund gefangenen Herzog von Sachsen-Lauenburg. Wenn unser mecklenburgischer Gewährsmann Ernst von Kirchberg das Zahlenverhältnis umkehrt und behauptet, Heinrich der Löwe habe seinen Sieg gegen vierfache brandenburgische Übermacht errungen, so erweist er sich hier als ein echtes Kind des Mittelalters, das stets geneigt war, den Eindruck von Siegen dadurch noch zu steigern, daß sie als wunderbare Erfolge einer Minderheit dargestellt wurden, der Gottes Allmacht Stärke verliehen habe. Erst langsam setzte sich die nüchterne Vorstellung durch, daß - modern ausgedrückt - der liebe Gott es meistens mit der Partei hält, die über die stärksten Bataillone und die meisten Kanonen gebietet. Übrigens haben die Sieger ihren Waffenerfolg nicht weiter ausgenützt; sie zogen schleunigst mit ihrer Beute über die nahe Grenze ab.

Die Schlacht bei Gransee war die letzte größere Kampfhandlung dieses Krieges. Beide Hauptbeteiligte, Erich von Dänemark und Waldemar von Brandenburg, hatten schwere Opfer an Gut und Blut gebracht und waren deshalb geneigt, Frieden zu schließen. Für Heinrich von Mecklenburg lag kein Grund vor, das Ringen allein fortzusetzen; seinen Zweck, die Behauptung des Landes Stargard gegen den Markgrafen, hatte er voll erreicht. So hat man sich noch vor Ablauf des Jahres im Präliminarfrieden von Meyenburg geeinigt, dem 1317 der endgültige Abschluß zu Templin folgte. Unterdessen war der junge Markgraf Johann, der Lehnsherr des Landes Stargard, gestorben; sein Erbe war Markgraf Waldemar. Uns interessiert hier nur, was der Templiner Friede über das Land Stargard bestimmt; Waldemar erklärt in der Friedensurkunde: "wir haben dem Herrn von Mecklenburg den Besitz des Landes Stargard mit all dem Recht übertragen, mit dem er es von Markgraf Johann und seinen Vorfahren" - d. h. den Markgrafen Albrecht III. und Hermann - "hatte". Das Lehnsverhältnis blieb also nach wie vor bestehen. Heinrich von Mecklenburg hatte das Land behauptet dank seiner hervorragenden kriegerischen Tüchtigkeit, dank seinen zahlreichen Verbündeten und dank dem Umstande, daß Waldemar in jenen Kriegsjahren nicht nur an der mecklenburgischen Grenze sich seiner Haut zu wehren hatte, sondern gleichzeitig auch an anderen Fronten in schwere Kämpfe verstrickt war.

An sich hätte es nun in jener fehdelustigen Zeit durchaus im Bereich der Möglichkeit gelegen, daß es bald zu einem neuen Waffengang zwischen Brandenburg und Mecklenburg gekommen wäre; dann hätte Markgraf Waldemar seinem mecklenburgischen

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Lehnsmann das Land Stargard erneut absprechen und dessen Wiedergewinnung nochmals und vielleicht unter günstigeren Bedingungen versuchen können. Aber es ist nicht dazu gekommen. Es war ein unerwarteter Glücksfall für Heinrich, daß Waldemar bereits im Jahre 1319 plötzlich kinderlos abschied. Im nächsten Jahre folgte ihm sein noch im Kindesalter stehender Vetter und Nachfolger Heinrich II. als letzter märkischer Askanier ins Grab, und nun begann für die Mark ein Zeitalter der Anarchie, in dem nicht daran gedacht werden konnte, die Stargarder Frage erneut anzuschneiden; immerhin blieb die Rechtslage die gleiche. Als König Ludwig der Bayer im Jahre 1324 die Belehnung seines ältesten Sohnes mit der Mark Brandenburg bekundete, schloß er das Land Stargard ausdrücklich und namentlich in diesen Rechtsakt ein, und die Söhne Heinrichs des Löwen, Albrecht und Johann von Mecklenburg, haben sich 1329 von Markgraf Ludwig dem Älteren die Belehnung mit Stargard erteilen lassen. Der Nachfolger Kaiser Ludwigs des Bayern aber auf dem deutschen Thron, Karl IV., der in offenem Kampf mit seinem Vorgänger König geworden war, hat das Lehnsband, durch das Stargard an Brandenburg geknüpft war, durchschnitten. Es lag König Karl daran, den ihn befehdenden Sohn seines Vorgängers, den Markgrafen Ludwig von Brandenburg, mit allen Mitteln zu bekämpfen. So hat er sich 1347 entschlossen, das Land Stargard, das die mecklenburgischen Brüder bisher von der Mark Brandenburg zu Lehen getragen hatten, zu einem Reichslehen zu erheben. Im nächsten Jahre hat er die Herren Albrecht und Johann von Mecklenburg auch zu Reichsfürsten erhoben. Der Markgraf von Brandenburg, der eben damals einen Kampf auf Leben und Tod gegen den falschen Waldemar kämpfte, war nicht in der Lage, sich gegen diese Beeinträchtigung seiner Rechte erfolgreich zu wehren.

Ich bin am Ende und fasse kurz zusammen. Das von Brandenburg 1236 erworbene und dann dem Deutschtum erschlossene Land Stargard ist am Ende des 13. Jahrhunderts von seinem damaligen Landesherrn, Markgraf Albrecht III., dem seine Söhne vor der Zeit gestorben waren, als Lehen an seinen Schwiegersohn, den energischen Heinrich von Mecklenburg vergeben worden. Als dieser 1315 in einen Krieg mit Brandenburg geriet und ihm vom Markgrafen das Land Stargard abgesprochen wurde, hat er es nicht zum mindesten dank seiner erprobten Kriegskunst in einem an spannenden Momenten reichen Kampfe behauptet und wurde im Frieden von 1317 erneut als Inhaber des brandenburgischen Lehens Stargard bestätigt. Das Ringen Karls IV. gegen die Wittelsbacher um den deutschen Thron hat dann den

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Luxemburger dahin geführt, daß er, um den wittelsbachischen Markgrafen von Brandenburg zu schädigen, das bisher brandenburgische Lehen Stargard in ein Reichslehen umwandelte.

Der historisch gebildete Märker mag bedauern, daß damit gerade eine Stadt wie Neubrandenburg, diese Perle askanischer Stadtgründungskunst, ihrem historischen Zusammenhang entrissen worden ist, einem Zusammenhang, an den der Name der Stadt bis heute erinnert. Der Gang der Geschichte geht über solche sentimentalen Gedanken unbekümmert hinweg. Das Land Stargard hat zwei Menschenalter zur Mark gehört; seit 19 Menschenaltern ist es mecklenburgisch. Die Erinnerung an das ehemalige Lehnsverhältnis hat sich schon im Mittelalter getrübt, ohne doch zu erlöschen. Als im 15. Jahrhundert die Hohenzollern nach Brandenburg kamen und daran gingen, die alte askanische Mark mit all ihren Rechten wiederherzustellen, holte Kurfürst Friedrich I. auch den Anspruch auf Lehnsherrlichkeit über mecklenburgisches Land hervor; darin freilich irrte er völlig, daß er diesen Anspruch auf ganz Mecklenburg ausdehnte; er hatte, wie wir sahen, nur in bezug auf das Land Stargard bestanden. Da die Mecklenburger in den darüber ausbrechenden Fehden im allgemeinen unglücklich kämpften, haben sie sich 1442 zu einem Vertrage bereit gefunden, durch den Kurfürst Friedrich II. zwar seinen lehnsherrlichen Ansprüchen auf Mecklenburg entsagte, dafür aber im Falle des Aussterbens des gesamten mecklenburgischen Fürstenhauses das Recht der Erbfolge in allen mecklenburgischen Ländern zugesichert erhielt. Seither haben die Hohenzollern zu ihren sonstigen Würden auch den Titel und das Wappen eines Herzogs von Mecklenburg angenommen; sie haben beides bis 1918 geführt; erst der Umsturz, den wir erlebten, hat also die letzte, allerdings stark verdunkelte staatsrechtliche Erinnerung daran beseitigt, daß das Land Stargard einst zur Mark Brandenburg gehört hat.

 

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II.

Die hoheitsrechtlichen Verhältnisse
in der Travemünder Bucht

 

von

Werner Strecker.


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Viertes Gutachten des Mecklenburg=Schwerinschen Geheimen und Haupt=Archivs vom 12. Mai 1927 für das Mecklenburg=Schwerinsche Ministerium des Innern.


 

 

Inhalt.

  1. Das landesherrliche Hoheitsrecht am Küstengewässer
  2. Zur Beurteilung des Barbarossaprivilegs
  3. Fischerei und Strandrecht

Exkurs. Zum Meeresfischereiregal in Preußen

Anhang. (Zu den Exkursen a - d bei Rörig III, S. 29 ff.)

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In unserem Gutachten vom 15. Dezember 1926 sind wir nur auf den Teil des letzten Rörigschen Gutachtens (vom 24. Juni 1926) eingegangen, der von der Travemünder Reede und ihren Grenzen handelt. Wir kommen jetzt, wie wir uns vorbehalten hatten, auf die übrigen Ausführungen Rörigs zurück, wobei wir auch sein vorletztes Gutachten vom 6. Juli 1925 gelegentlich streifen werden 1 ).

I. Das landesherrliche Hoheitsrecht am Küstengewässer.

Vorweg haben wir zweierlei zu bemerken:

Rörig hat die Meinung ausgesprochen, daß unsere Untersuchungen über das Hoheitsrecht am Küstengewässer der Ostsee sich allzu weit von dem eigentlichen Streitgegenstande entfernten, und wir entnehmen aus seinen Worten den Vorwurf, daß die Durchführung des Prozesses auf diese Weise erschwert werde 2 ). Wir brauchen uns hiergegen kaum zu verteidigen. Unsere Forschung war notwendig, weil sie für die spezielle Untersuchung der Rechtsverhältnisse in der Travemünder Bucht die Voraussetzung bildet.

Ferner glaubt Rörig einen Widerspruch zwischen unseren Ausführungen in Archiv II und dem ersten Gutachten Langfelds feststellen zu können 3 ). Dies im einzelnen zurückzuweisen, wird gleichfalls nicht nötig sein. Ebenso wenig wie Rörig selbst haben wir es als unsere Aufgabe betrachten können, ein "Rechtsgutachten im engeren Sinne des Wortes" abzugeben 4 ). Und schon


1) Wir zitieren die beiden Gutachten Rörigs, da sie zusammen abgedruckt sind (Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte XXIV, 1), gemeinsam als Rörig III.
2) Rörig III, S. 14 ff. Übrigens war die Arbeitszeit von "Monaten" für die Durchsicht der gesamten Strandrechtsakten erforderlich, nicht bloß der Akten über den Wismarer Hafenprozeß (vgl. Archiv II, S. 30).
3) Rörig III, S. 2 ff.
4) Vgl. Rörig III, S. 55.
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Langfeld hat in seinem zweiten Gutachten zutreffend erklärt, daß seine und unsere Darlegungen sich nicht widersprechen, sondern ergänzen 5 ).

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Den Nachweis, daß den mecklenburgischen Fürsten im Mittelalter ein Hoheitsrecht über das Meer an ihrer Küste und also auch an der Uferstrecke Priwall-Harkenbeck zugestanden habe, sucht Rörig 6 ) hauptsächlich mit den folgenden beiden Einwürfen zu bekämpfen:

  1. Die hierin von uns und v. Gierke vertretene Ansicht beruhe auf Analogieschlüssen.
  2. Die Urkunden, auf die wir uns stützen, seien dispositiver Art, nicht Beweisurkunden. Der Beweiswert dispositiver Urkunden werde aber dadurch verringert, "daß man im Mittelalter oft die Form eines Privilegs wählte, wo es sich in Wirklichkeit nur um die Legalisierung und Anerkennung eines bestehenden Zustandes handelte", sowie auch durch "das Überwuchern des Formelhaft-Schematischen in der äußeren Form der Urkunden" herabgesetzt.

Wir erwidern:

zu 1) Wenn für die ganze deutsche Ostseeküste einschließlich der mecklenburgischen eine Fülle von Material vorliegt, woraus ein landesherrliches Regal am Küstengewässer, im besonderen auch das Fischereiregal hervorgeht, so ist der Schluß, daß es sich hier um ein durchgängiges Recht handelte, und daß nicht etwa das Gewässer vor der 3 1/2 km langen Küstenstrecke Priwall-Harkenbeck davon ausgenommen war, zwingend und kein Analogieschluß im eigentlichen Sinne. Niemand kann annehmen, daß den Landesherren dieses Recht an einzelnen Teilen der Küste zustand, an anderen dagegen nicht. Unser Schluß ist um so zwingender, als wir durch Quellen aus späterer Zeit nachgewiesen haben, daß Mecklenburg die Strandgerechtigkeit an der strittigen Küstenstrecke besaß. Unter der Strandgerechtigkeit aber verstand man die Hoheit über das Küstengewässer (vgl. besonders Archiv II, S. 84 f.).

zu 2) Was Rörig hier äußert, trifft nicht den Kern der Sache. sondern geht um ihn herum. Die Gegenüberstellung von Beweisurkunde und dispositiver Urkunde wirkt an dieser Stelle ver-


5) Die Gutachten Langfelds und v. Gierkes sowie unser letztes Gutachten (Die Travemünder Reede, Reedelage und Reedegrenze, im Folgenden zitiert Archiv III) sind ietzt abgedruckt im Jahrbuche für mecklenburgische Geschichte, Band 90.
6) III, S. 55 ff., vgl. S. 24.
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wirrend. Freilich meint Rörig nicht die Beweisurkunde im engeren Sinne der Urkundenlehre, sondern er meint Zeugnisse über tatsächliche Vorgänge. Die Beweiskraft der dispositiven Urkunde oder Geschäftsurkunde steht außer Zweifel. Allerdings sind die von uns vorgebrachten Urkunden nicht ausgestellt worden, um das landesherrliche Meeresregal zu beweisen, sondern um ein Beweismittel für die durch die Urkunden vollzogenen Verleihungen zu schaffen. Für diese aber ist das Regal die Voraussetzung. Die Erwägungen Rörigs über die Art, wie Privilegien als Erkenntnisquelle zu werten sind, würden am Platze sein, wenn es uns darauf angekommen wäre, die Entwicklung der Seefischerei an der Ostseeküste zu untersuchen. Hätten wir unsere Arbeit hierauf gerichtet, so möchte im einzelnen, soweit das überhaupt möglich ist, zu prüfen sein, ob es sich bei diesem oder jenem Fischereiprivileg um die "Anerkennung eines bestehenden Zustandes" handelte und wie weit sich Seefischerei ohne Privileg gewohnheitsmäßig ausgebildet hat 7 ). Unsere Verwertung der Privilegien aber liegt in ganz anderer Richtung. Aus den landesherrlichen Verleihungen schließen wir auf das Recht der Landesherren, diese Verleihungen vorzunehmen, also auf Grund eines Regals zu handeln. Dieser Schluß ist bei der Fülle des vorliegenden Materials unbedingt zwingend.

Ist aber hiermit die Art des Ergebnisses festgestellt, das wir aus den Privilegien gewonnen haben, so weichen auch die Stützen, die Rörig (III, S. 58, Anm. 13) sich nutzbar machen will. Der von ihm angezogene Satz v. Belows trifft ja auf unsere Beweisführung gar nicht zu. Und wenn H. Hirsch in seinem Buche über die hohe Gerichtsbarkeit im deutschen Mittelalter 8 ) auseinandersetzt, daß sich die Fortbildung von Immunitätsgerichten unabhängig von den Immunitätsdiplomen vollzog - eine Entwicklung, die nach Hirsch unter dem Einflusse bestimmter staatlicher und sozialer Verhältnisse und auf der Grundlage besonderer Rechtszustände vor sich ging, aber nicht durchgängig war -, so ist doch damit nicht gesagt, daß Rechte nicht aus Privilegien entstehen können - was in tausend Fällen geschehen ist -, und daß aus den Privilegien keine Schlüsse auf Hoheitsrechte der Aussteller


7) Um hergebrachte, gewohnheitsmäßig entwickelte Fischerei handelts sich z. B. bei der Küstenfischerei der Warnemünder, soweit sie außerhalb der Rostocker Küstengrenzen ausgeübt wurde, Archiv II, S. 71 ff.
8) Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte, Prag 1922.
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dieser Urkunden zu ziehen seien 9 ). Ebensowenig ist der Ausspruch Sombarts, wonach die Verordnung nicht das Leben schafft, auf unsere Beweisführung anwendbar. Die treibenden Kräfte für die Seefischerei liegen natürlich nicht in den Privilegien. Durch Privilegien aber konnte die Fischerei gefördert und von Abgaben entlastet werden.

Wenn man früher die Wirkung von Privilegien überschätzt hat, so darf man heute jedenfalls nicht in den gegenteiligen Fehler verfallen. Man kann auch nicht sagen, daß sich in den Urkundenstellen, die v. Gierke und wir herangezogen haben, ein "Überwuchern des Formelhaft-Schematischen" bemerkbar mache. Sie unterscheiden sich ja vielfach in dem, was sie gewähren, und die verschiedentlich darin enthaltenen besonderen Bestimmungen bilden zugleich Zeugnisse über "tatsächliche Vorgänge". Wir verweisen hier auf das Gesamtergebnis aus den Urkunden, das v. Gierke (Jb. 90, S. 56) festgelegt hat. In einzelnen Fällen ist geradezu nachweisbar, daß es sich bei der Verleihung von Seefischerei nicht nur um die Anerkennung eines bestehenden Zustandes handelte, sondern daß das Privileg das Primäre war 10 ). Schließlich übersieht Rörig


9) Übrigens ist es nicht richtig, daß Hirsch "unter bewußter Ignorierung der eigentlichen Immunitätsurkunden" gearbeitet habe, richtig dagegen ist, daß er ihnen "nur relativen Quellenwert" für die Entwicklung der Gerichtsbarkeit zugesteht. Er hat sie benutzt, soweit sie über das regelmäßige Formular hinaus besondere Angaben machen, aber er hat auch die regelmäßigen Formulare verwertet, verkennt auch gar nicht, daß die Ausbildung der Hochgerichtsbarkeit in den Immunitätsbezirken durch die Privilegien beeinflußt und gefördert wurde. (S. 131, 146 f., 222 f.) Der Ausgangspunkt aber seien sie nicht gewesen, und es habe sich der Aufstieg von Immunitätsgerichten auch dort vollzogen, wo keine Privilegien vorlägen. Doch ist die reichsrechtliche Anschauung, daß die hohe Gerichtsbarkeit vom Könige ausgehen müsse, im Mittelalter immer wieder hervorgetreten (vgl. Hirsch S 229 ff.). Auch kann nicht die Möglichkeit von Fällen abgelehnt werden, in denen Hochgerichtsbarkeit tatsächlich durch Privileg entstanden ist, so daß dieses nicht erst eine im Gange befindliche Entwicklung abschloß. Im späteren Mittelalter sind solche Fälle in den Territorien unzweifelhaft vorgekommen.
10) So ist das Nonnenkloster in Kolberg, dem 1278 (Juni 18.) ein abgabenfreies Schiff gewährt wurde (Archiv II, S. 212, Nr. 7), erst im Jahre vorher gestiftet worden (Hoogeweg, Die Stifter und Klöster der Provinz Pommern, Bd. I, 1924, S. 373. Gründungsurkunde vom 6. Juli 1277). Ferner ist das Privileg für das Kloster Belbuck von 1281 (Archiv II, S. 213, Nr. 9) eigentlich nicht für dieses Kloster bestimmt, sondern für das erst zu errichtende Vrämonstratenser-Nonnenkloster in Stolp, das unter Mitwirkung Belbucks gestiftet wurde und zu ihm in enger Beziehung stand, Hoogeweg II (1925), S. 631 f. Auch auf das Privileg für die neu zu gründende Stadt Rügenwalde und deren Lokatoren von 1312 (Archiv II, S. 214, Nr. 11) sei hingewiesen.
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ganz, daß wir die Rechtsverhältnisse am rügischen Außenstrande bis ins 17. Jahrhundert 11 ), am mecklenburgischen Strande bis ins 18. Jahrhundert 12 ) verfolgt haben. Und hier handelt es sich ja überall um Zeugnisse über tatsächliche Vorgänge und Zustände. Der Rechtszusammenhang aber zwischen diesen Zuständen und den aus den mittelalterlichen Quellen zu erschließenden ist ganz unabweisbar.

Aus den vorgebrachten Urkunden wählt Rörig (III, S. 62) einige aus, die seine Ansicht bestätigen sollen, daß Rechte an Meeresteilen zunächst von den an den Unterläufen von Flüssen gelegenen Städten ausgebildet seien. Er erwidert aber nicht auf die Ausführungen v. Gierkes (S. 13 f.), der diese Ansicht Rörigs bereits auf Grund des übrigen Materials widerlegt hat.

Zu den weiteren Einwürfen Rörigs bemerken wir noch: Seine Interpretation (III, S. 59, Anm. 14 ) der wichtigen pommerschen Urkunde von 1265 für das Kloster Dargun 13 ) ist unrichtig. Es handelt sich um die Worte: in mari salso terre nostre dominio adiacenti. Wir haben darauf aufmerksam gemacht 14), daß adiacere in der Urkundensprache im Sinne von pertinere gebraucht wurde 15 ), sich also auf ein Zubehör bezieht, ferner daß adiacenti zu dominio, der Herrschaft als Begriff, gehört. Demgemäß haben wir so wörtlich wie möglich übersetzt: in der zu unserer Landesherrschaft belegenen, ein Zubehör unserer Landesherrschaft bildenden salzigen See. Diese Übersetzung deckt sich dem Sinne nach mit der v. Gierkes (S. 52, Anm. 57): "in dem Salzmeere, das unserer Landesherrschaft zugehört". Wenn Rörig diese Übersetzung v. Gierkes für "eine willkürliche Vergewaltigung des Textes" erklärt 16 ), so ist dem zu entgegnen, daß seine eigene Auslegung ("in dem Salzmeere, das an das Herrschaftsgebiet unseres Landes angrenzt") das Entscheidende unberücksichtigt läßt. "Das Salzmeer als solches," so sagt er, sei "in der Urkunde mit aller Deutlichkeit als nicht zum Herrschafts-


11) Archiv II, S. 15 ff.
12) Archiv II, S. 70 ff.
14) Archiv II, S. 25 mit Anm. 42.
13) Daß übrigens damals zu Mecklenburg, nicht zu Pommern gehörte.
15) Es genügt, auf die in den Sachregistern des Mecklenburgischen Urkundenbuches angeführten Stellen zu verweisen.
16) Bei dieser Gelegenheit und auch III, S. 58 hat Rörig die Worte v. Gierkes (S 9, Sp. 1), er wolle "einige markante Belege für die richtige Ansicht" über das Hoheitsrecht am Küstengewässer aneinanderreihen, in einer Weise mißdeutet, die nicht scharf genug zurückgewiesen werden kann.
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bereich des Landesherrn gehörig gekennzeichnet." Merkwürdig, daß der Landesherr trotzdem Fischereigerechtigkeit in eben diesem Salzmeere erteilt 17 ). Auf verschiedene andere Urkundenstellen, die ebenfalls die Herrschaft über das Küstengewässer geradezu aussprechen, geht Rörig nicht ein. Er hat auch auf unseren Nachweis, daß für die Küstenfischerei vormals Abgaben erhoben wurden, nichts Stichhaltiges erwidert 18 ).

Zusammenfassend können wir sagen, daß Rörig unsere Beweisführung auch dort nicht erschüttert hat, wo er überhaupt versucht hat, sie anzugreifen.

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17) Der Sinn der Urkunde ist ja ganz eindeutig, vgl. Archiv II, S. 26 f.
18) Für seine Meinung, daß es sich bei den Fischereiabgaben nur um einen gewöhnlichen Zoll gehandelt habe, den wir "im Sinne eines Fischereiregals umzudeuten" versucht hätten (III, S. 60, Anm. 14), verweist Rörig (III, S. 17) auf das Privileg des Fürsten von Rügen für Lübeck von 1224. Aber in diesem Privileg handelt sichs ja gar nicht um den Heringsfang, sondern, wie Rörig selbst angibt, um die Heringsausfuhr. Und wenn die Lübecker hierfür rügische Schiffe mieteten, brauchten sie keinen Zoll zu bezahlen (Lüb. Urkb. I, S. 32 f.). Ferner beruft sich Rörig (III, S. 17, Anm. 18) auf Schäfer, Das Buch des Lübeckischen Vogts auf Schonen (Hansische Geschichtsquellen IV, 1887). Indessen unterscheidet Schäfer zwischen einem Heringsausfuhrzoll und Abgaben vom Fange (S. LI f., LXXXIV f.) S. LVIII sagt er: "Die Gewässer sind des Königs, aber die Fischerei in ihnen steht zunächst jedermann frei. Der König kann Anlaß nehmen, dieselbe einzelnen zu untersagen; er erläßt Ordnungen für den Betrieb und erhebt Abgaben, wie zu Skanör und Folsterbo den ,Königskauf'!" Sollte Schäfer hiernach wirklich kein Fischereiregal annehmen? - Wie wir in Archiv II (S. 28 f., vgl. S. 81 oben, S. 84) vorgebracht haben, wurde der Ausdruck "Zoll" noch im 17. und 18. Jahrhundert im mecklenburgischen Amte Ribnitz, am fischländischen Strande, für die Abgaben von der Heringsfischerei gebraucht. Nachdem wir inzwischen weitere Akten über diese Fischerei aus dem 18. Jahrhundert eingesehen haben, halten wir an unserer Ansicht durchaus fest. Die Herrschaft über die Fangstätte selbst, die schon Archiv II, S. 80 ff. hinreichend nachgewiesen ist, geht auch aus den neuen Akten mit der vollkommensten Deutlichkeit hervor. Und es kann der Zollhering (Heringszoll, Zollpacht) nichts anderes gewesen sein als eine Abgabe, später Pacht, für die Nutzung des Küstengewässers, das immer wieder als "Strand", auch als "Herzogl. Grund und Boden" (vgl. hierzu Archiv II, S. 70) bezeichnet wird. Es ist denn auch wiederholt von dem "sogenannten" Zoll die Rede. Wir könnten uns hierüber noch weitläufig äußern, doch ist die Frage des Zolles nicht von entscheidender Bedeutung, weil die Hoheit über das Küstengewässer ohnehin feststeht. Am Strande des Amtes Ribnitz haben sich die mittelalterlichen Verhältnisse, wohl wegen der hier besonders intensiven Fischerei, lange erhalten, bis ins 19. Jahrhundert hinein. Und es ist hier der Fischfang von der Regierung gefördert worden, indem Holz für Boote und Pfähle für Reusen aus der herzoglichen Waldung zur Verfügung gestellt wurden.
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In seinem ersten Gutachten (I, S. 44 f.) hat Rörig gesagt, daß sich eine Herrschaft Lübecks auf der Reede durch Okkupation ausgebildet habe, wenn sie nicht unmittelbar aus dem Barbarossaprivileg erwachsen sei. Diese Alternative kann man nicht aufstellen. Gesetzt nämlich den Fall, daß sich die bekannten Worte des Privilegs: "licebit . . piscari . . usque in mare" nicht nur auf Binnenfischerei, sondern auch auf Seefischerei bezögen, so wäre ja damit den Lübeckern nur ein Recht zum Fischfang bestätigt worden, das sie nach Angabe der Urkunde schon zur Zeit Heinrichs des Löwen gehabt hatten. Sie würden keinerlei Fischereiregal erlangt haben, sondern nur eine bloße Nutzung, wie die lübischen Fischer sie bis auf den heutigen Tag tatsächlich ausgeübt haben. Eine Herrschaft, d. h. eine Gebietshoheit über das strittige Gewässer müßte also in jedem Falle auf andere Weise entstanden sein. Das Privileg könnte sie auch dann nicht begründet haben, wenn Rörigs Auslegung richtig wäre.

Nun aber hat ja Rörig seine These von der Entstehung der Lübecker Gebietshoheit vor der Küstenstrecke Priwall-Harkenbeck auf der - a priori und ohne weitere Prüfung gebildeten - Vorstellung aufgebaut, daß es im Mittelalter keine landesherrliche Meereshoheit gegeben habe. Da die Irrigkeit dieser Vorstellung nachgewiesen ist, fällt selbstverständlich die Möglichkeit eines Erwerbes durch Okkupation im Rechtssinne weg 19 ). Viel schwieriger aber als die Okkupation eines herrenlosen Gebietes ist die Entstehung einer Gebietshoheit auf gewohnheitsrechtlichem Wege oder durch Unvordenklichkeit, weil hier mit den Ansprüchen und dem Widerstande des rechtmäßigen Herrn gerechnet werden muß.

Rörig, der immer noch an der Möglichkeit einer Okkupation festhalten möchte, klammert sich daran, daß wir für die Strecke Priwall-Harkenbeck keine besonderen Zeugnisse aus dem Mittelalter vorgelegt hätten. Hat denn aber er selber für die angebliche Lübecker Gebietshoheit Zeugnisse aus dem Mittelalter vorgebracht? Nicht eines! Die von ihm angezogenen Quellen beginnen im 16. Jahrhundert. Für eben dieses Jahrhundert ist aber bereits die mecklenburgische Ausübung des Bergerechtes an der Strecke Priwall-Harkenbeck belegt 20 ). Das Bergerecht aber galt als


19) Die Polemik, die Rörig (III, S. 55) in diesem Punkte gegen v. Gierke richtet, erklärt sich nur daraus, daß er die rechtlichen Unterschiede nicht beachtet, die v. Gierke (S. 38) in Hinsicht auf "die etwa möglichen besonderen Grundlagen" für die Erwerbung von Hoheitsrechten macht.
20) Zeugenaussage (5. Zeuge) im Fischreusenstreit 1616: " . . sey woll über 30 Jahr, das 2 Schuten nacheinander an dem Harckenseher" (Rosenhäger) "Felde, etwa ein viertelwegs von dem Ort, da die Reuse
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Zeichen für die Hoheit über das Küstengewässer 21 ). Wir erinnern auch an den Fall von 1516, in dem sich die Herzöge gegen einen Übergriff des Travemünder Vogtes in ihre Strandhoheit verwahrten 22 ). Sodann sind aus den Jahren 1616 und 1618 Beweise dafür vorhanden, daß eine mecklenburgische Fischerei vor der strittigen Küstenstrecke seit über Menschengedenken, also sicher schon im 16. Jahrhundert bestand 23 ). Es ist eine durchaus unzutreffende Behauptung Rörigs, daß die ältesten Zeugnisse über Ausübung von Hoheitsrechten vor der Strecke Priwall-Harkenbeck "mit aller Deutlichkeit für Lübeck, nicht für Mecklenburg" sprächen 24 ). Die ältesten Quellen, die über den Strandrechtsfall von 1516, sprechen nicht für Lübeck. Denn wenn wirklich die eine der beiden Schuten bei Rosenhagen geborgen war, so handelt es sich unbedingt um einen Übergriff des Travemünder Vogtes. Das würde sich nicht nur daraus ergeben, daß Lübeck in seiner Erwiderung auf die Beschwerde es vermied, den Ort Rosenhagen zu nennen 25 ), sondern vor allem daraus, daß Lübeck späterhin niemals die mecklenburgische Strandhoheit vor Rosenhagen angezweifelt, sondern beim Fischreusenstreit ausdrücklich zugegeben hat 26 ). Für das Mittelalter aber läßt sich überhaupt nichts feststellen außer der landesherrlichen Hoheit über das Küstengewässer, von der die kleine Strecke Priwall-Harkenbeck nicht ausgenommen sein konnte.

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II. Zur Beurteilung des Barbarossaprivilegs.

Will man die Worte usque in mare erklären, so ist man auf "vergleichende Stilkritik" angewiesen. Und wenn eine solche Fülle gleichartigen Materials vorgelegt werden kann, wie es von uns geschehen ist, - ein Material, das sich gewiß sehr vermehren ließe 27 ) -, so ist die Stilkritik kein so schwaches Mittel der


(  ...  ) gestanden, unterwerts gestrandet." Folgen Angaben über die Ladung. "haben Schiff und Gutt von dem Heubtman zu Grevesmuhlen müssen loßhandeln."
21) Vgl. Archiv II, S. 154.
22) Archiv II, S. 104.
23) Archiv II, S. 155 f. (vgl. S. 151, Anm. 283), S. 178, vgl. S. 74, Anm. 125. Artikel 1, und S. 75, Anm. Absatz 2.
24) Rörig III, S. 56.
25) Archiv II, S. 104 f. und Archiv III (die Travemünder Reede, Reedelage und Reedegrenze), S. 10.
26) Archiv II, S. 172, vgl. S. 165 f.
27) Wir fügen noch aus einer Urkunde Lübecker Herkunft folgendes Beispiel hinzu: Vogt, Rat und Gemeinde von Lübeck schließen einen Vertrag mit Hamburg zur Verfolgung auswärtiger Frevler (1241):
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Urkundenforschung, wie Rörig (III, S. 64) meint. Er selber hat mit dieser Kritik begonnen, aber auf ganz unzureichender Grundlage 28 ). Nun bemerkt er, daß wir unser Material "nach der ganz zufälligen Anwendung der Worte ,usque in' im Sinne von ,usque ad' zusammengesucht" hätten. Indessen steht das "usque in" im Barbarossaprivileg in einer Grenzangabe, und lauter Grenzangaben sind es, die wir zur Vergleichung herangezogen haben. Er macht ferner darauf aufmerksam, daß vorher in dem Privileg die Worte vorkommen: usque ad villam Odislo, übersieht aber, daß es an anderer Stelle der Urkunde wiederum heißt: usque in Radagost. Wir haben ja gerade (Archiv II, S. 94) hervorgehoben, daß "usque ad" und "usque in" überall in derselben Bedeutung gebraucht wurden.

Für seine eigene sogenannte "vergleichende Stilkritik" glaubt Rörig die Urkunden "unter dem "Gesichtspunkt, daß in ihnen dieselbe Materie zu ordnen war", herangezogen zu haben. Aber es liegt auf der Hand, welche Verwirrung er hierbei anrichtet. In den drei Urkundenstellen, die ihm durch v. Gierke und uns bekannt worden sind und die er III, S. 64 f., bespricht, kommt ja das usque in überhaupt nicht vor. Wie kann man denn in dem Privileg für Treptow an der Rega von 1309 bei der Begrenzung "usque ad spatium miliaris unius in ipsum mare salsum" die Worte "usque" und "in ipsum mare salsum" durch Fettdruck hervorheben, als ob sie zusammengehörten 29 ). Genau so hat Rörig in dem Privileg für Rostock von 1252 das usque, das zu "Warnemunde" gehört, mit den Worten "in marinis fluctibus" in Verbindung gebracht 30 ). Er meint jetzt, wenn es in der Rostocker Urkunde heiße, "daß das beneficium piscature sich erstrecken soll: usque Warnemunde necnon extra portum in marinis fluctibus", so komme das "auf dasselbe hinaus, als wenn es auch für Rostock geheißen hätte: usque in mare". Eben nicht, sondern das "usque in mare" der Barbarossa-Urkunde ist nur mit dem "usque Warnemunde" des Rostocker Privilegs vergleichbar. Es hätte in diesem Privileg gerade so gut gesagt werden


(  ...  ) a loco illo, ubi flumen, quod Travena dicitur, mare incidit, usque Hammemborg et sic per totam Albeam usque in mare, Hamb. Urkb. I, S. 446, Lüb. Urkb. I, S. 95. Nach dem zuverlässigen Hamburger Liber privilegiorum quadratus.
28) Rörig I, S. 23, Anm. 41.
29) Rörig III, S. 62.
30) Rörig II, S. 239. Hieran wäre natürlich durch die Auslassungspunkte zwischen "usque" und "in marinis fluctibus", die beim Druck weggefallen sind (Rörig III, S. 63, Anm. 18) gar nichts geändert worden.
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können: per alveum fluminis Warnowe usque in mare necnon extra portum Warnemunde in marinis fluctibus.

Schließlich das Privileg für Schleswig von 1480: "wenthe an dat gemeyne Meer ofte solte See enen Wecke Sees buthen Schlyes Munde". Hier erführen wir nach Rörig, "daß, selbst wenn man sagte: bis ans Meer, damit in Wirklichkeit eine Verleihung bis weit ins Meer gemeint sein" könne. Indessen ist hier zwischen dem "gemeinen" Meere, das natürlich keiner Herrschaft unterworfen war, und dem Küstengewässer zu unterscheiden. Die Stelle ergibt ja deutlich, daß sich das Nutzungsrecht der Stadt nur bis ans gemeine Meer erstrecken sollte, nicht - wie sich von selbst verstand - in dieses hinein. Wir erfahren also, daß das Küstengewässer bis auf eine "Wecke Sees" (Meile) in Anspruch genommen wurde, ebenso wie in dem Privileg für Treptow von 1309 bis auf eine Meile. Demgegenüber ist die Ausdehnung der Meereshoheit bis zur schiffbaren Tiefe, wie sie 1616 im Fischreusenstreit von Mecklenburg vertreten wurde, sehr bescheiden. - In Wirklichkeit hat Rörig an dem "usque im mare" gar keine vergleichende Stilkritik geübt, sondern behauptet, daß Lübeck 1188 Meeresnutzung habe erhalten müssen, weil sie später anderen Städten zuteil wurde. Er begibt sich also selber auf den "Treibsand" eines Analogieschlusses, der hier allerdings als "trügerisch" bezeichnet werden muß; denn Privilegien können sich ja von einander unterscheiden. Ganz etwas anderes ist es, einen Schluß auf die landesherrliche Hoheit über das Küstengewässer vor der Strecke Priwall-Harkenbeck zu ziehen, weil die überall festgestellte Herrschaft über das Küstengewässer unbedingt durchgängig gewesen ist.

Dann wendet sich Rörig (III, S. 67 f.) gegen unsere Verwertung des Berichtes, den die Chronik Arnolds von Lübeck über das Barbarossaprivileg erstattet 31 ). Dieser Bericht soll "in der Hauptsache gar nicht auf den jetzt strittigen Satz über das Fischereirecht" passen, sondern auf "den ihm vorgehenden über Holz und Weidenutzungen". Hier sei bei Arnold und dem Privileg "die wirkliche Parallele vorhanden". Indessen liegt diese Parallele keineswegs nur in den Angaben über Holz- und Weidenutzung; sie liegt auch in der Gewährung von Fischerei. Es ist unvollständig, wenn Rörig angibt, daß der Streit um "pascua" ging, und daß auch Arnold das sage. Denn nach Arnold nahm der Streit seinen Ausgang von dem Travemünder Zoll und dehnte sich dann auf alle Nutzbarkeiten (quicquid commoditatis) aus, die Adolf von Holstein den Lübeckern - weil sie den Zoll nicht zahlen


31) Vgl. Archiv II, S. 95.
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wollten - nahm. Arnold faßt diese Nutzbarkeiten kurz zusammen. Es sind nach ihm Nutzungen in fluviis (also Fischerei), in pascuis, in silvis. Dann kaufen die Lübecker sich auf des Kaisers Vermittlung vom Zolle los, zahlen auch Geld für die Weidegerechtigkeit, erhalten aber die Gesamtheit der Nutzbarkeiten zurück: et sic a mari usque Thodeslo libere fruerentur fluviis, pascuis, silvis. Die Begrenzung "a mari usque Thodeslo" schließt selbstverständlich Meeresfischerei aus. Wenn also die bekannten Worte des Barbarossaprivilegs schon nach dem Ergebnisse der vergleichenden Stilkritik nur "bis zum Meere" bedeuten können, so wird dies durch Arnolds Bericht um so gewisser.

Was Rörig demgegenüber aus der von Arnold mitgeteilten Vorgeschichte des Privilegs ableiten will, ist völlig verfehlt. Er versucht jetzt, die Worte usque in mare auf den Travemünder Zollstreit zurückzuführen. Von dem Zoll, den Graf Adolf von Holstein gefordert habe, seien ja auch die Lübecker Fischer betroffen worden, und so hätten denn "die Störungen unmittelbar am Ausgang zur See" die Veranlassung gegeben, daß das alte Gewohnheitsrecht der Fischerei, das die Lübecker schon zur Zeit Heinrichs des Löwen gehabt hatten, "jetzt auch urkundlich festgelegt wurde". Die Worte usque in mare sollen daher bedeuten: "abgabefrei bis ins Meer hinein". "Sie können," so sagt Rörig, "unter diesen Umständen nicht nur ,bis ins Meer' bedeutet haben, sie müssen es vielmehr." Immer vorausgesetzt natürlich, daß die Lübecker damals schon Seefischerei betrieben (was gar nicht bewiesen ist) und daß die Meinung, es habe die Befreiung von dem Travemünder Zoll ausgesprochen werden sollen, richtig ist. Rörig merkt nicht, daß er sich im Zirkel dreht; seine Folgerung ist zugleich seine Voraussetzung. Auch hätte sichs dann ja gar nicht um Verleihung von Meeresfischerei, sondern um Verleihung von Zollfreiheit gehandelt.

Wo aber, fragen wir, steht an dieser Stelle des Privilegs ein Wort von Zoll oder Abgaben? Es heißt einfach: licebit . . piscari. Hätte hier die Ursache des Streites zwischen Lübeck und dem Grafen Adolf getroffen werden sollen, so würde dies doch natürlich deutlich gesagt sein. Überdies heißt es, daß die Lübecker usque in mare fischen dürften, "sicut tempore ducis Heinrici facere consueverunt". Zur Zeit des Herzogs Heinrich war ja aber gerade der Travemünder Zoll gezahlt worden. Arnold berichtet ausdrücklich, daß Graf Adolf den Lübeckern dies entgegengehalten habe 32 ). Sie hätten erwidert, es sei nicht de iure geschehen,


32) Dicebat enim comes, theloneum sui iuris esse, quia tempore ducis Heinrici illic non sine theloneo transierant.
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sondern sei auf Zeit und zur Erhaltung des Kastells Travemünde gewährt worden, weil der Herzog darum ersucht habe 33 ). Wenn also usque in mare heißen würde: abgabenfrei bis ins Meer hinein, so würde dies durch den Zusatz (sicut . . consueverunt) wieder aufgehoben sein. Damit erledigt sich Rörigs vermeintliche Feststellung, daß "das vom Archivgutachten zur Debatte gestellte Material" (nämlich Arnolds Bericht) "bei gründlicher Interpretation" die "beste Stütze" für die Übersetzung "bis ins Meer" sei.

Der ganze Travemünder Zollstreit wird in dem Barbarossaprivileg gar nicht erwähnt. Das war auch nicht nötig. Arnold berichtet, daß Graf Adolf gegen Zahlung von 300 Mark Silbers auf die Zollerhebung verzichtete und auch für die Weidegerechtigkeit 200 Mark erhielt. Hierüber muß zwischen ihm und Lübeck ein besonderer Vertrag geschlossen sein, der in dem kaiserlichen Privileg nicht zum Ausdrucke zu kommen brauchte. Hätte man den Wegfall des Travemünder Zolles noch eigens in dem Privileg betonen wollen, so würde dies natürlich im Hinblick auf die Schiffahrt und den Warenhandel und an den Stellen der Urkunde geschehen sein, wo wirklich von Zollfreiheit die Rede ist, nicht aber im Hinblick auf eine angebliche Meeresfischerei, für die der Zoll viel geringere Bedeutung gehabt haben würde 34 ).

Von den weiteren Einwürfen Rörigs haben wir die Behauptung, daß die Waghenaersche Seekarte von 1586 eine Trave "bis ins Meer" verzeichne, schon in unserem letzten Erachten als ganz unhaltbar zurückgewiesen 35 ). Rörig geht noch ein auf unsere Bemerkung in Archiv II, S. 99: "Wo sollte der Kaiser auch Meeresfischerei verliehen haben? Der Strand gehörte zu jener Zeit sicher schon den anliegenden Territorialherren. . . . Wo sind Beispiele einer Verleihung von Seefischerei an der deutschen Küste durch den Kaiser?" Dem gegenüber verweist Rörig (III, S. 69) auf das Privileg Friedrichs II. für den deutschen Orden von 1226, das v. Gierke (S. 47) herangezogen hat. Es ist aber doch ein großer Unterschied, ob - wie in diesem Falle - eine gesamte


33) non hoc de iure factum, sed propter petitionem ipsius ducis ad castelli sustentationem ad tempus esse permissum.
34) Übrigens wird man die allgemeinen Bestimmungen, die das Privileg über Zollfreiheit enthält, so auslegen können, daß sie den Travemünder Zoll einbegreifen. Sie sind wohl sämtlich auf Heinrich den Löwen zurückzuführen. Daß der Travemünder Zoll tatsächlich zur Zeit des Herzogs gezahlt war, beruht ja nach Arnold auf einer besonderen Vereinbarung, durch die ein früheres Privileg Heinrichs modifiziert sein konnte. An dieser Stelle braucht hierauf nicht näher eingegangen zu werden.
35) Archiv III, S. 21 f.
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Landeshoheit verliehen wird oder eine Nutzung am Strande bereits beherrschter Territorien. Rörig fügt die Frage bei, wo denn Belege erbracht seien, daß die Territorialherren schon im 12. Jahrhundert über den Strand in einem Umfange zu verfügen gehabt hätten, daß dadurch eine Anerkennung von städtischen Nutzungen berührt würde, wie sie das Lübecker Privileg von 1188 seiner Meinung nach enthält. Soll man denn aber glauben, daß die Herrschaft über das Küstengewässer erst mit dem zufällig erhaltenen Urkunden beginnt? Für das 12. Jahrhundert hat sich doch nur dürftiges Material über die in Betracht kommenden Gebiete erhalten. Gerade für Mecklenburg aber haben wir die beiden Doberaner Privilegien von 1189 und 1192, deren rechtsgeschichtliche Bedeutung dadurch nicht getroffen wird, daß das eine falsch, das andere zweifelhaft ist 36 ). Viel später können beide Urkunden nicht geschrieben sein. Einfach annehmen, daß Friedrich Barbarossa sich 1188 über Rechte der Territorialherren hinweggesetzt habe, geht nicht an. Einer solchen Vermutung widerspricht auch sein Verhalten gegenüber Adolf von Holstein, mit dem er sich ja vor der Erteilung des Privilegs an Lübeck verständigte.

Schließlich aber sind wir zu der Überzeugung gekommen, daß die bisherige, auch von uns in Archiv II vertretene Interpretation, wonach sich die Grenzangaben der strittigen Stelle in dem Barbarossaprivileg auf den Travelauf beziehen sollen, überhaupt verkehrt ist. Es fällt doch auf, daß die Trave gar nicht genannt wird; es heißt einfach: "piscari per omnia (überall) a . . villa Odislo usque in mare preter septa comitis Adolfi". Nun gibt es ja im Holsteinischen zwischen Oldesloe und dem Meere noch verschiedene Fluß- und Bachläufe, die sich in die Trave ergießen, und die Fischwehren des Grafen Adolf brauchen auch nicht nur auf der Trave bestanden zu haben. Es ist dabei zu bedenken, daß die Chronik Arnolds von "fluviis", also von einer Mehrheit von Wasserläufen spricht. Wenn in der Chronik gesagt wird: "a mari usque Thodeslo libere fruerentur fluviis", so ist damit offenbar dasselbe gemeint, was das Barbarossaprivileg mit den Worten ausdrückt, daß die Lübecker überall von Oldesloe bis zum Meere fischen dürften, wie oder in dem Maße, wie sie es zur Zeit Heinrichs des Löwen gewohnt gewesen seien. Die "fluvii" bei Arnold würden also dem "per omnia" des Privilegs entsprechen 37 ). Dann aber ist klar, daß Oldesloe und


36) Archiv II, S.28.
37) Höchstens könnte man die Worte "per omnia" noch auf Teichfischerei beziehen, wovon aber Arnold nichts erwähnt.
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das Meer als Grenzbestimmungen für ein dazwischen liegendes Landgebiet des Grafen Adolf aufzufassen sind, worin den Lübeckern Binnenfischerei zustand 38 ). Daß diese Grenzbestimmungen das Gebiet nur ungenau bezeichnen, kann um so weniger stören, als auch die übrigen Grenzangaben des Privilegs ganz unklar sind. Auch würde ja der Hinweis auf die Verhältnisse zur Zeit Heinrichs des Löwen den Umfang der Lübecker Berechtigung festgelegt haben. Überdies gibt es noch eine dritte Quelle, die geradezu beweist, daß unsere Auslegung richtig ist. Wir meinen die von Rörig III, S. 18 erwähnte Bestimmung über Fischereigerechtigkeit, die sich in dem Privileg der Grafen von Holstein für Lübeck vom 22. Februar 1247 findet. Die Stelle lautet:

Preterea concedimus civitati in perpetuum in aquis nostris ius piscandi, exceptis nostris septis, que war (Wehr) dicuntur, secundum omnem consuetudinem et libertatem, quam ipsi Lubicenses in piscationibus nostris noscuntur hactenus habuisse 39 ).

Dieser Satz ist selbstverständlich nichts weiter als eine Bestätigung der umstrittenen Stelle des Barbarossaprivilegs. Es wird ja gar nichts Neues gewährt, sondern nur die alte Gewohnheit anerkannt. Und zwar handelt es sich hier nicht um die einzige Bestimmung des Barbarossaprivilegs, die in der Urkunde von 1247 bestätigt wird. Die Worte aber "in aquis nostris" können sich nicht allein auf den Travelauf beziehen. Sie beziehen sich auf Fischerei in mehreren holsteinischen Binnengewässern. Das nimmt auch Rörig an, der jedoch den Zusammenhang dieser Stelle mit dem Privileg von 1188 nicht erkannt hat. Meeresfischerei am holsteinischen Strande wurde Lübeck dagegen erst durch das bekannte Privileg von 1252 verliehen, in dem kein Wort über eine bereits bestehende Gewohnheit gesagt wird.

In keinem Falle kann mehr zweifelhaft sein, daß die sogenannte Barbarossa-Urkunde für den obwaltenden Rechtsstreit ganz ausscheiden muß. Es läßt sich überhaupt nicht feststellen, ob der fragliche Satz genau so im Original gestanden hat wie in der Fälschung. Das ist aber schließlich einerlei; denn eine Gewährung von Meeresfischerei kann aus dem Satze unter keinen Umständen ge-


38) Unsere Anlage IV in Archiv II ergibt ja genügend Beispiele für den Gebrauch von usque in im Sinne von "bis zu" bei Grenzbeschreibungen von Landgebieten.
39) Lüb. Urkb. I, S. 122. Über Rörigs Verwertung dieser Urkunde siehe v. Gierke, S. 64.
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schlossen werden 40 ). Und gesetzt den Fall, daß Rörig recht hätte, so würde sichs doch immer nur um eine bloße Nutzung handeln. Ebensowenig aber wie die Fälschung selbst kann die Bestätigung Friedrichs II. von 1226 eine Rolle spielen, und zwar schon deswegen nicht, weil sie ja auch nur denselben Satz enthält, der von Meeresfischerei nicht handelt 41 ).

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III. Fischerei und Strandrecht.

Die lübische Fischerei an der Strecke Priwall-Harkenbeck läßt sich seit dem 16. Jahrhundert verfolgen. Daß die bloße Tatsache ihrer Ausübung nicht für ein Regal Lübecks spricht, ist ohne weiteres klar. Denn die Lübecker fischten sowohl diesseit wie jenseit der Harkenbeck, ebenso am holsteinischen Strande, aber nirgends ausschließlich 42 ). Selbst wenn sie auf der heute strittigen Wasserfläche den Fischfang ohne Wettbewerb anderer ausgeübt hätten - was nachgewiesenermaßen nicht der Fall war -, so brauchte es sich doch keineswegs um eine de iure ausschließliche, auf Regal beruhende Fischerei gehandelt zu haben 43 ).


40) Die Tendenz der Fälschung (Rörig III, S. 71) braucht für unsere Zwecke gar nicht erörtert zu werden. Sie ist sicher ganz wesentlich in den Gebietsbestimmungen im ersten Teile der Urkunde zu suchen. In dieser Hinsicht ist die Arbeit von Ploen, die Rörig III, S. 71 Anm. 26 bespricht, sehr verdienstlich. Gewiß kam es Ploen darauf an nachzuweisen, daß sich aus dem Privileg kein Anspruch Lübecks auf den Dassower See herleiten läßt. Deswegen aber ist seine Arbeit noch lange keine "Tendenzschrift". Mit demselben Rechte kann man die Rörigschen Gutachten als Tendenzschriften bezeichnen.
41) Nach unserer Ansicht ist es ausgeschlossen, daß eine Fälschung wie die von 1188 durch eine spätere gutgläubig ausgestellte Bestätigung Rechtskraft erlangen kann. Indessen handelt sichs hier um eine rein juristische Frage. Archiv II, S. 92 haben wir gesagt, daß die Bestätigung von 1226 von einem Kenner der Kanzlei Friedrichs II. geprüft werden müsse, bevor ihre Echtheit als unbedingt feststehend zu gelten habe. Wie vorsichtig man hier sein muß, geht daraus hervor, daß das Barbarossaprivileg in dem 1890 entschiedenen Rechtsstreit von Fachleuten untersucht und für echt gehalten worden ist. Ob die von Rörig III, S. 70 Anm. 24 erwähnte Prüfung der Urkunde von 1226, die er und Reincke-Bloch vorgenommen haben, abschließend war, können wir nicht beurteilen. Es kam ja damals auf diese Urkunde nicht an. Im übrigen aber haben wir weder die "Qualifikation" Reincke-Blochs, noch die Rörigs "bezweifelt", wissen allerdings auch nicht, ob Rörig ein Kenner von Kaiserurkunden ist.
42) Archiv II, S. 137 ff.
43) Nehmen wir z. B. an, daß an diesem oder jenem Teile des mecklenburgischen Strandes der Fischfang nur von Rostockern oder Warnemündern betrieben sei, so könnte man doch hierin keinen Beweis für ein Eigentum der Stadt Rostock an dem betreffenden Küstengewässer erblicken.
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Wie aber ist es überhaupt dazu gekommen, daß die Lübecker an der Küste Mecklenburgs ungestört fischen durften, ohne daß sie hierfür ein Privileg, ähnlich dem holsteinischen von 1252, aufzuweisen hatten?

Rörig (III, S. 74) glaubt die Ausführungen v. Gierkes über das strittige Gewässer in folgendem "Bilde" zusammenfassen zu können :

"Zunächst mecklenburgisches Fischereiregal mit Erhebung von Abgaben 44 ). Dann: Wegfall der Abgaben und jedes Anzeichens für den Bestand des ehemaligen Regals. Endlich: Trotzdem, also diesmal "aus dem Nichts heraus" 45 ), mecklenburgische Fischereihoheit an derselben Strecke, wo gleichzeitig den Lübeckern Gemeingebrauch an der streitigen Strecke "von Mecklenburg zugestanden" (!) gewesen sein soll."

Eine solche Entwicklung, meint Rörig, habe "nicht gerade den Schein der Wirklichkeit" für sich. Es ist aber auch nur ein Bild, das Rörig gezeichnet hat. Den Ausführungen v. Gierkes entspricht es nicht. v. Gierke hat keinen solchen Bruch mit den mittelalterlichen Verhältnissen und dann - nach einem Vakuum - wieder eine den mittelalterlichen Verhältnissen ähnliche Neuschöpfung angenommen. Sondern nach ihm verlief die Entwicklung folgendermaßen: Mittelalterliches Regal der Landesherren am Küstengewässer nebst Erhebung von Fischereiabgaben, dann Wegfall dieser Abgaben, also Zulassung freier Fischerei, aber unter Wahrung der Hoheit über das Küstengewässer einschließlich der Fischereihoheit. Nach Rörig hätte sichs ja bei den Fischereiabgaben um einen gewöhnlichen Zoll gehandelt, was sicher nicht zutrifft. Aber würde denn nicht der Verzicht auf den Zoll ebenso auffallend sein wie der auf die Abgaben?

Seit wann man, im Gegensatze zu den Verhältnissen des 13. und noch des 14. Jahrhunderts, dazu überging, die abgabenfreie Seefischerei zu gestatten, können wir nicht genauer ermitteln. Wahrscheinlich ist es schon gegen Ende des Mittelalters geschehen infolge des immer stärkeren Eindringens römisch-rechtlicher Anschauungen. Aber nicht nur die Lübecker waren es, denen der Fang am landesherrlichen Strande Mecklenburgs freistand, son-


44) Hier schiebt Rörig in Klammern die Worte ein: "Beides vollkommen unbewiesen." Wir brauchen auf diese Behauptung nicht mehr einzugehen.
45) Die Worte "aus dem Nichts heraus", die Rörig in Anführungsstriche setzt, hat v. Gierke natürlich nicht in diesem Zusammenhange, sondern an anderer Stelle gebraucht.
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dern auch die Warnemünder 46 ), die Wismarer, ferner - wie die Akten über den Fischreusenstreit zeigen -, die in der Gegend der Küste wohnenden Dorffischer, wobei allerdings der fischländische Strand eine Ausnahme machte 47 ). Auch holsteinische Fischer lassen sich um 1580 bei Brunshaupten feststellen 48 ).

Wie man im 16. Jahrhundert über die Seefischerei dachte, ergibt sich aus einer Beschwerde, die Rostock 1583 wegen einer Pfändung Warnemünder Seefischer am Dars an den Herzog von Pommern richtete; es heißt darin, daß "vermüge des natürlichen und aller Volcker Rechtens" das "Mehr oder offenbare Sehe und die Fischerey in derselben wie dan auch die littora maris menniglich gemein" und niemand verhindert sei, sich ihrer zu gebrauchen 49 ). Ähnliches klingt uns aus den Briefen der Eigentümer jener 1616 von Lübeck zerstörten Fischreuse entgegen 50 ). Man hatte solchen Anschauungen, die indessen nur auf die Nutzung des Meeres zu beziehen sind, in der Praxis nachgegeben, und nicht nur in Mecklenburg. Für Preußen läßt sich eine ähnliche Entwicklung feststellen. Auch dort bestand im Mittelalter noch jenseit der Haffe im Küstengewässer ein Fischereiregal des Ordens und der Bischöfe von Ermland und Samland, schon im 13. Jahrhundert 51 ). Auch in Preußen wurden Abgaben für die Seefischerei erhoben 52 ). Das preußische Landrecht von 1620 aber erklärte das Meer und alle anderen offenen Wasserströme für "männiglich frey und gemein", so daß jeder dort fischen dürfe 53 ). Vermutlich folgte


46) Archiv II, S. 71 ff.
47) Vgl. oben Anm. 18.
48) Aussage von 1618, Archiv II, S. 75 Anm. (Absatz 2). Daß diese Holsteiner frei fischten, muß nach der Aussage angenommen werden. Was sie an Geld oder Fischen gaben, war für das gelieferte Holz bestimmt.
49) Ratsarchiv zu Rostock.
50) Archiv II, S. 151 f.
51) Siehe unten den angefügten Exkurs.
52) Man findet in Preußen noch im 15. Jahrhundert die sog. Keutelbriefe, die jährlich gegen Zahlung einer beträchtlichen Summe vom Orden erneuert wurden und deren Besitz zur Fischerei mit dem Keute (Schleppnetz, Wade) im Frischen Haff (auch wohl im Kurischen?) und in der offenen See berechtigte. Voigt, Gesch. Preußens VI, S. 639, von Brünneck, Zur Gesch. des altpreußischen Jagd- und Fischereirechts, Zeitschr. d. Savigny-Stiftung für deutsche Rechtsgesch., Germ. Abt., Bd. 39, S. 123.
53) v. Brünneck a. a. O. S. 134. Er führt diese Bestimmung auf den Einfluß des römischen Rechts zurück. Das Landrecht setzt jedoch gleichzeitig fest, daß die einmal geltenden Privilegien und das Herkommen geschützt bleiben sollten. Dem entspricht in Mecklenburg der tatsächliche Rechtszustand am Strande des Rostocker Gebietes, wo die Stadt
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diese Bestimmung einer schon bestehenden Gewohnheit. Auch am holsteinischen Strande scheint der Fischfang um 1600 bereits frei gewesen zu sein 54 ). Durchgängig allerdings ist diese Entwicklung nicht. So hat sich das mittelalterliche Seefischereiregal an der rügisch-neuvorpommerschen Küste bis auf den heutigen Tag erhalten 55 ).

Eine solche Bestimmung, wie sie das preußische Landrecht von 1620 enthält, findet sich für Mecklenburg nicht. Man wird daher den freien Fischfang am mecklenburgischen Strande als eine gewohnheitsmäßige Übung ansehen müssen, die auf Duldung durch die Landesherren beruhte. Diese Auffassung ergibt sich auch aus den Einwendungen, die 1621 von der Stadt Rostock gegen das Verbot der Warnemünder Seefischerei in der Gegend von Brunshaupten erhoben wurden; ebenso aus der herzoglichen Resolution, die daraufhin erging 56 ). Der Verzicht auf Fischereiabgaben bedeutet jedoch keinen Verzicht auf die Fischereihoheit. In der erwähnten Resolution von 1621 wird zwar den Warnemündern der weitere


(  ...  ) noch weit über das 17. Jahrhundert hinaus kraft ihrer Privilegien über ein ausschließliches Fischereirecht verfügte. Für Preußen lassen die Klauseln des Landrechtes und seiner Neuredaktionen überhaupt Einschränkungen zu. So ist das Fischereiregal auf den bei den Haffen noch von Bestand, v. Brünneck S. 139 ff.
54) Vgl. die Aussage des Tarnewitzer Zeugen von 1616, Archiv II, S. 156, zu Frage 7.
55) Hier ist die Küstenfischerei auf Grund des Provinzialrechts ein Regal des preußischen Staates, soweit nicht besondere Berechtigungen wie die der Stadt Stralsund bestehen. Es erstreckt sich aber in Rügen und Neuvorpommern nach dem Provinzialrecht, das als Gewohnheitsrecht noch gilt, das Eigentum an Grundstücken, die am Strande - sei es am Binnenstrande oder an der offenen Küste - liegen, zugleich über den Küstensaum einschließlich des sog. Schaars, der so weit reicht, wie man waten kann, nach der Rechtsprechung bis zu 1 m Wassertiefe (Gefällige Mitteilung des Regierungspräsidenten in Stralsund). Worauf Rörigs Meinung (III, S. 19) beruht, daß "die Stralsunder Verhältnisse" (d. h. die des Regierungsbezirks Stralsund) "kein gewöhnliches Küstengewässer" beträfen, wissen wir nicht. Vor den offenen Küsten Rügens und Neuvorpommerns liegt überall gewöhnliches Küstengewässer im geographischen Sinne. - Die Sonderrechte der Stadt Stralsund gehen auf alte Privilegien zurück, vgl. Archiv II, S. 21 f.
56) Archiv II, S. 72. 76 f. Nachdem wir inzwischen das gesamte Material des Rostocker Ratsarchivs über diesen Streit eingesehen haben, wollen wir unserer Darstellung in Archiv II hinzufügen, daß der Amtshauptmann Vieregge auf ausdrücklichen Befehl des Herzogs Adolf Friedrich handelte, der ihn am 22. August 1618 angewiesen hatte, den Warnemündern "die Fischerey auf dem Strande, da Unsre Dorfer anschießen", zu verbieten. Im übrigen bestätigen die Rostocker Akten alles, was wir über die Ursache des Streites und zu dessen Beurteilung ausgeführt haben.
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Gebrauch der freien Seefischerei zugebilligt, aber die landesherrliche "Gerechtigkeit" vorbehalten. Ferner zeigen der Fischreusenstreit sowie die Fischereistreitigkeiten zwischen der Stadt Ribnitz und der Landesherrschaft im 17. und 18. Jahrhundert 57 ), daß die Fischereihoheit keineswegs aufgegeben war. Wie hätte man sonst auch dazu kommen sollen, den Seefischern in Tarnewitz und Boltenhagen noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts Fischereiabgaben aufzuerlegen, also tatsächlich auf das Regal zurückzugreifen 58 )!

Daß auch am holsteinischen Strande die Fischereihoheit bestehen blieb, ist aus den Kämpfen zu schließen, die Lübeck im 16. Jahrhundert wegen seines dortigen Fischereirechtes durchzufechten hatte 59 ).

Schon in Archiv II haben wir die Ausübung des Fischfanges durch die Lübecker an den Küsten Holsteins und Mecklenburgs in Parallele gesetzt. Es machte rechtlich kaum einen Unterschied, daß Lübeck für das holsteinische Küstengewässer das Privileg von 1252 besaß; denn an die Stelle eines Privilegs trat für den mecklenburgischen Strand die Gewohnheit. Als 1575 lübische Fischer im Holsteinischen, zwischen dem Pelzerhaken und der Niendorfer Wiek, gepfändet waren, berichteten sie ihrem Rate, es sei in jener Gegend von alters her "ein freier Strand" gewesen 60 ). Nicht anders ist die den Fischreusenstreit einleitende Beschwerde Lübecker Fischer von 1616 aufzufassen, daß sie "des Orts, da die Ruse stehet, auch woll jenseits derselben, die Wahde zu ziehen pflegen" 61 ). Die Harkenbeckmündung, bei der die Reuse sich befand, erscheint hier also durchaus nicht - überhaupt nicht im ganzen Fischreusenstreit - als Grenze. Auch beriefen sich die Fischer nicht auf eine Lübecker Gebietshoheit 62 ). In dem Schreiben, das dann der Lübecker Rat an die Eigentümer der Reuse richtete, heißt es, daß den lübischen Fischern durch die Reuse "der Ort, da sie ihren freyen Wadenzug zu haben pflegen, gentzlich benommen" werde 63 ). Dieser Ausdruck "freier Wadenzug" entspricht jener Bezeichnung "freier Strand" (im Holsteinischen) von 1575. Er allein widerlegt schon die Meinung Rörigs, daß Lübeck für den Fischfang im mecklenburgischen Küstengewässer Abgaben erhoben


57) Archiv II, S. 80 ff.
58) Archiv II, S. 37, 85.
59) Rörig I, S. 8 ff.
60) Rörig II, S. 257, Anm. 57.
61) Rörig I, S. 38.
62) Die spätere Beschwerde von 1658 (Rörig I, S. 39, II, S. 317, Anl. II) ist auf die Behauptungen zurückzuführen, die der Lübecker Rat im Verlaufe des Fischreusenstreites erhob.
63) Archiv II, S. 151.
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habe 64 ). Freilich sprach der Rat gleichzeitig von seiner Reede. In Wahrheit aber war an der Strecke Priwall-Harkenbeck und darüber hinaus genau so "freier Strand" wie an der holsteinischen Küste. Und die Vernichtung der mecklenburgischen Fischreusen ist gar nicht anders zu beurteilen als die Zurückdrängung der Anliegerfischerei in der Niendorfer Wiek durch Lübeck. Eher waren die "Repressalien" berechtigt, die der Rat gegenüber der Störung der lübischen Fischerei an dem holsteinischen Strande anordnete 65 ).

In den Gründen für die einstweilige Verfügung des Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich vom 10. Oktober 1925 wird gesagt, es sei bisher nicht glaubhaft gemacht worden, daß es sich bei den Reusenzerstörungen von 1616, 1617 und 1658 um unrechtmäßige Übergriffe gehandelt habe. Diese Unrechtmäßigkeit ist aber schon 1616 und 1617 von Mecklenburg behauptet worden, während sich über den Fall von 1658 nur einseitiges Lübecker Material erhalten hat. Wäre Lübeck im Recht gewesen, so müßten natürlich die Aufstellungen der Reusen Übergriffe gewesen sein, also Unrechtmäßigkeiten auf mecklenburgischer Seite vorgelegen haben. Daß man aber in Mecklenburg nicht nur von seinem Rechte überzeugt war, sondern auch in den Ansprüchen Lübecks etwas völlig Neues erblickte, lehren die Akten von 1616 und 1617. Es ergriffen ja auch die Herzöge Maßregeln zum Schutze ihrer Rechte. Warum sollte dieser Standpunkt Mecklenburgs falsch gewesen sein, obgleich sowohl die allgemeine rechtsgeschichtliche Entwicklung wieder tatsächliche Rechtszustand in der Travemünder Bucht (mecklenburgische Strandhoheit, mecklenburgische Fischerei) für ihn zeugen? Wäre das umstrittene Meeresgebiet wirklich lübeckisch gewesen, so würden die Reuseneigentümer schwerlich gewagt haben, hier nicht etwa nur ein wenig Raubfischerei zu treiben, sondern ein sehr kostbares Fanggerät aufzurichten und es auf dessen Zerstörung ankommen zu lassen.

Wir haben Archiv II, S. 163 bemerkt, daß der Fischreusenstreit nicht im Gebietsrecht wurzele. Dies kann sich aber nicht auf Mecklenburg beziehen, das ja sein Gebietsrecht zu verteidigen hatte. Es soll nur für die Ursache gelten, aus der Lübeck den Streit begann. Sie lag, wie wir in dem früheren Erachten ausgeführt haben, in der Gefahr, die den wichtigsten Fangplätzen


64) Wir haben diese Meinung bereits Archiv II, S. 181 f. zurückgewiesen.
65) Vgl. Rörig I, S. 8.
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der lübischen Fischer (Travemünder Bucht und Binnengewässer) von den ungeheuren Reusen drohte. Mit der Ansicht, daß die Reusenfischerei den übrigen Fang verderbe, stand ja Lübeck nicht allein 66 ). Die Gefahr wog so schwer, daß die Notwendigkeit, sie abzuwenden, über alle Bedenken hinwegsehen ließ.

Man gewinnt aus den Akten durchaus nicht den Eindruck, daß Lübeck an sein Recht glaubte. Dazu sind seine Erklärungen zu widerspruchsvoll 67 ). Sie sind selber das beste Zeugnis dafür daß die Zerstörung der Reusen sich nicht rechtfertigen ließ; denn es ist völlig unmöglich, in den krausen Lübecker Argumentationen 68 ) einen logischen Gedankengang aufzufinden. Der Spiegel der Kritik wirft diese Erklärungen in folgendem Bilde zurück: Wir


66) Vgl. Archiv II, S. 164. Nach Akten des Rostocker Ratsarchivs, die den 1674 zwischen Rostock und der Landesherrschaft ebenfalls wegen einer Fischreuse ausgebrochenen Streit (Archiv II, S. 77) betreffen, klagten die Rostocker Fischer, daß infolge der Reusensetzung "der liebe Fischfang allhie mehr und mehr verödet, die Armuth und allgemeine Bürgerschaft dahero in ihrer Haußhaltung höchlich gefehret" werde und die Fischer ihre "Netze und kostbahre Wadegahrn in ledigen Waßern vergeblich verbrauchen" müßten. Die Reuse sei wie ein "Zaun", der die am Ufer entlang streichenden Fische aufhalte. Ein Rostocker Kaufmann sagte aus, er wisse von seinem Vater, daß vor der Errichtung von Reusen bei Wustrow (am Ribnitzer Amtsstrande) der Heringsfang vor Warnemünde so ergiebig gewesen sei, daß man die Wade nicht habe ans Land ziehen können, sondern sie in einen Prahm entleert habe. Man sah also den Grund für die Verminderung des Fanges wesentlich in den Reusen. Eine vormals von Rostocker Seite aufgestellte Reuse war wieder entfernt worden, und der Rat hatte damals auf Bitten der Hundertmänner beschlossen, daß, so lange Rostock stehen werde, keine Reuse mehr auf dem Strandgebiet der Stadt ausgelegt werden solle. Übrigens war Rostock in dem Streit von 1674/5 im Recht, da es sich um sein Gebiet handelte. Und die Landesherrschaft, die vom Ribnitzer Amtshauptmann falsch unterrichtet war, ließ - anders als in dem Streit mit Lübeck - die Reuse auf die Vorstellungen des Rostocker Rates hin bis auf weitere Untersuchung wieder entfernen, womit die Sache zu Ende war. - Wie weit solche Reusen in die See reichten, ergibt sich schon aus der Beschreibung der Reuse von 1616 (Archiv II, S. 150 f., 266 Faden genauer = 459 m). In Akten des Amtes Ribnitz aus dem 18. Jahrhundert wird gesagt, daß die landwärts gesetzten Reusenpfähle 3-4 Faden (18-24 Fuß) lang seien, und es werden Pfähle von 38 Fuß (über 10 m) Länge genannt. Auch findet sich die Angabe, daß die Reuse 1/4 Meile weit in die See hinausragten, was für den westlichen, sehr flachen Teil des Ribnitzer Amtsstrandes gar nicht übertrieben zu sein braucht, weil die Reusen erst in größerer Entfernung vom Lande anfingen.
67) Vgl. Archiv II, S. 165 ff., 173 f.; v. Gierke S. 92. Wenzel S. 60, Anm. 63.
68) Schreiben des Rates vom 12. Juni 1616 (Rörig II, Anl. I b) und die Exzeptionsschrift von 1618 (Archiv II. Anl. V).
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Lübecker behaupten, daß der Ort, wo die Reusen gestanden haben, zu unserer Reede gehört, die uns samt dem Travenstrom, von Oldesloe bis in die offenbare See, auf Grund von Privilegien zusteht. Zwar liegt die Reede nicht in der strittigen Gegend, sondern nahe bei Travemünde, aber weil keine Grenze für sie festgesetzt ist, so können wir sie beliebig weit rechnen. Auch enthalten unsere Privilegien eigentlich nichts von einer Reede, und die Stelle des Privilegs von 1188, die wir meinen, spricht überhaupt nicht von Gebietshoheit, doch muß man sie nur richtig auslegen. Ferner berufen wir uns auf actus possessorios, wenn wir auch die Frage offen lassen, was dies für Akte sind und ob sie just auf dem fraglichen Gewässer vorgenommen wurden. Bei alledem sind wir aber weit davon entfernt, die Strandgerechtigkeit am mecklenburgischen Ufer oder ein alleiniges Fischereirecht zu beanspruchen. Denn es ist schwer zu bestreiten, daß Mecklenburg die Strandgerechtigkeit an seiner Küste und damit auch die Hoheit über das Küstengewässer besitzt; wir sagen dies ungern mit klaren Worten, geben es aber implicite zu, und zum Beweise dessen, daß wir das umstrittene Küstengewässer in Wahrheit gar nicht begehren, führen wir an, daß wir die Reusen nicht beschlagnahmt, sondern die Trümmer haben im Wasser liegen lassen. Ferner leugnen wir nicht, daß die Mecklenburger von jeher mit Netzen und Waden auf unserer Reede gefischt haben. Wir gönnen ihnen dies gerne, bestreiten jedoch, daß sie in der "Possession" sind, Reusen auszusetzen. Dies ist der Punkt, auf den es uns ankommt; wir wünschen, daß die Fischerei sich in den Grenzen des Herkommens hält. Außerdem sind unsere Reede oder unser portus sowie die litora des Meeres nach dem römischen Recht 69 ) loca publica, wo nichts angerichtet werden darf, was den usus publicus behindert. Dies taten aber die Reusen, indem sie den Fischfang schädigten und die Schiffahrt gefährdeten.

So sieht der Mantel aus, mit dem Lübeck sein Unrecht zu verdecken sucht. Die Reede, auf die es sich berief, konnte man, wenn man wollte, zu einem sehr vagen Begriff machen, wird doch in einem Lübecker Wetteprotokoll von 1735 sogar das Gewässer der Niendorfer Wiek, vor Niendorf und Timmendorf, als Reede bezeichnet 70 ). Wäre die Ursache des Fischreusenstreites wirklich


69) Vgl. 1 ff. J. de rerum divisione, 2,1.
70) Kühn, Der Geltungsbereich des Oldenburgisch-Lübeckischen Fischereivergleichs von 1817 und die Travemünder Reede, Eutin 1927, S. 4 f. Diese Schrift beruht auf Akten des Landesarchivs in Oldenburg und der Eutiner Regierungsregistratur. Bisher liegt uns der erste Teil gedruckt vor (bis S. 24). Das Protokoll von 1735 betrifft einen Boots-
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darin zu suchen, daß Lübeck eine bis zur Harkenbeck reichende Gebietshoheit verteidigen wollte, so müßte man doch auch erwarten, daß diese Grenze in den Akten eine Hauptrolle gespielt hätte. Daß nirgends gesagt wird, die Harkenbeck bilde die Scheide, fällt um so mehr auf, als die Reusen von 1616 und 1617 dicht bei der Bachmündung gestanden hatten. Wo sie standen, ob diesseit oder jenseit der Harkenbeck, ist gleichgültig gewesen. Lübeck würde sie in jedem Falle zerstört haben, zumal da es erklärte, auch am holsteinischen Strande, wo es ja sicher keine Gebietshoheit hatte, Reusen nicht dulden zu wollen 71 ).

Während um Priwall und Dassower See die Jahrhunderte hindurch immer wieder zwischen Mecklenburg und Lübeck gestritten und prozessiert wurde, hat die Stadt auf das Küstengewässer östlich vom Priwall vormals nur bei den Fischreusenstreitigkeiten Anspruch erhoben. Nachdem die Gefahr, die von den Reusen drohte, aufgehört hatte, vernimmt man von diesem Anspruche nichts mehr 72 ). Es blieb bei der mecklenburgischen Strandhoheit. Einige wenige Gewalthandlungen, die aus besonderer Ursache entsprangen und also erklärbar sind, können für den tatsächlichen Bestand eines Lübecker Hoheitsrechtes um so weniger etwas beweisen, als ihnen unzweifelhafte Hoheitsakte und Verfügungen Mecklenburgs bis in die neueste Zeit gegenüberstehen. Gewalthandlungen, die sich den Reusenzerstörungen an die Seite stellen ließen, haben sich auch anderswo ereignet.

Freilich begründet Rörig seine Meinung, es habe eine Lübecker Fischereihoheit auf dem strittigen Gewässer bestanden, nicht nur mit dem Vorgehen des Rates gegen die mecklenburgischen Reusen. Daß aber auch das übrige Material, das er dafür beibringt, nicht Stich hält, haben wir in Archiv II gezeigt, und v. Gierke hat es ebenfalls nachgewiesen. Hier seien noch einige Worte zur Beur-


(  ...  ) unfall zwischen Aalbeckmündung und Timmendorfer Wohld, "auf der Rheede an der Holsteinischen Seite". Kühn bemerkt mit Recht, daß man auf diesen Ausdruck niemals den Versuch gründen könne, die Niendorfer Wiek zu einem lübeckischen Hoheitsgewässer zu machen.
71) Vgl. Archiv II, S. 169.
72) Der Konflikt wegen der Löschung von Waren am Rosenhäger Strande im Jahre 1739 (Archiv II, S. 183) hat seinen Grund nicht im Gebietsrecht, sondern im Hafenrecht. Und es ist hinzuzufügen, daß Lübeck die Löschung nach anfänglichem Einspruche zuließ. Dies ergeben Auszüge, die der Justizrat v. Paepcke auf Lütgenhof aus den gleichzeitigen Regierungsakten gemacht hat, die hernach bei dem Brande des Schweriner Regierungsgebäudes 1865 zugrunde gegangen sind. In den Auszügen ist nur von einem Schiff die Rede, während in den Kommissionsakten von 1762, die wir in Archiv II benutzt haben, zwei Schiffe genannt werden.
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teilung der Lübecker Fischereiordnungen und zur Bewertung dessen hinzugefügt, daß Streitigkeiten zwischen den Lübecker Fischergruppen über den Fang vor der Strecke Priwall-Harkenbeck von Lübecker Gerichten entschieden wurden.

Es ist nachgewiesen, daß die lübischen Fischereiordnungen nicht auf gebietsrechtlicher Grundlage aufgebaut sind, sondern auch Gewässer betreffen, die unstreitig nicht lübeckisch waren und sind. Die Ordnungen beruhen sowohl auf der Korporationshoheit des Lübecker Rates über die Fischerzünfte wie auf seiner Personalhoheit über alle lübischen Untertanen, was auf dasselbe hinauskommt 73 ). Sie sind aus demselben Rechte abzuleiten, mit dem der Lübecker Rat den Travemünder Fischern in den Jahren 1580 bis 1583 wiederholt befahl, die Fischerei an der holsteinischen Küste fortzusetzen, wo sie damals auf Widerstand stießen 74 ). Genau so hat Rostock im Oktober 1621 - nach dem Erlasse jener herzoglichen Resolution, die das gegen die Warnemünder Seefischer gerichtete Verbot wieder aufhob, - den Fischern durch den Vogt zu Warnemünde befehlen lassen, daß sie die Fischerei an der landesherrlichen Küste "vleißig warten und treiben" sollten, "darmit wir hinwieder zu vollem Besitz gelangen und sie hinferner wegen Mangels der Fische sich nicht zu entschuldigen haben muegen" 75 ). Und wenn der Rostocker Rat gleichzeitig den Vogt wissen ließ, es dürfe nicht wieder vorkommen, daß die Warnemünder sich gegen herzogliche Untertanen ungebührlich betrügen und deren Fischnetze verdürben, so beruht doch eine solche Verfügung, die das Verhalten der Fischer außerhalb des Stadtgebietes betrifft, ebenfalls nur auf personalhoheitlicher Grundlage.

In diesem Zusammenhange sei auf eine Bemerkung hingewiesen, die sich in dem bekannten Bericht des Travemünder Lotsenkommandeurs Harmsen von 1828 über die Fischerei der Lotsen findet. Sie lautet: "So viel ich weiß, haben unsere Fischer kein Amt noch Zunft; und in der See hat wohl jeder gleiches Recht" 76 ). In der Tat waren die Travemünder Fischer, die mit den Lotsen in Streit lagen, damals nicht zu einer Zunft zusammengeschlossen 77 ),


73) Vgl. v. Gierke, S. 80, Wenzel S. 52 ff.
74) Vgl. Rörig I, S. 9.
75) Nach den Akten des Rostocker Ratsarchivs.
76) Archiv II, S. 127.
77) Dies wird in der Relation des Oberappellationsgerichtsrates Dr. Hach zum Urteil über den Prozeß der Travemünder Fischer gegen die Schlutuper 1825 gesagt. Nach der Fischereiordnung von 1585 scheint es übrigens, daß die Travemünder vormals zünftig gewesen waren. Die Ordnung beginnt: "Lubische, Schluckuper und Travemunder Vischere belangende. Nachdem einem erbarn Rade von ohren Underdanen, den
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ebensowenig natürlich die Lotsen. Der Kommandeur war also offenbar der Meinung, daß der Lübecker Senat überhaupt nur kraft einer Zunfthoheit Vorschriften über die Seefischerei erlassen könne.

Was ferner die Entscheidungen Lübecker Gerichte angeht, so waren diese bei Streitigkeiten zwischen den Lübecker Fischergruppen über deren fischereiordnungsmäßige Berechtigungen in jedem Falle zuständig. In dem Prozesse, der 1823 ausbrach, weil die Schlutuper Fischer vor Rosenhagen ihre Waden über die Stellnetze der Travemünder, denen sie das Recht, hier zu fischen, bestritten, hinweggezogen hatten, entschied zunächst die Lübecker Wette, dann das Obergericht, schließlich das Oberappellationsgericht. Genau derselbe Fall hat sich aber 1802 in der Niendorfer Wiek ereignet, und auch über ihn entschied die Wette. So ergibt sich aus der Relation des Oberappellationsgerichtsrates Dr. Hach von 1825 zum Urteil über den vorhin erwähnten Prozeß von 1823. In der Relation wird gesagt, es sei von den Travemündern, um zu zeigen, daß die Schlutuper von der Wette nicht so zurückgesetzt würden, wie sie behaupteten,

"ein Wettebescheid vom 25. Sept. 1802 producirt, woraus sich ergebe, daß die Bekl." (Schlutuper) "damals nicht bloß eigene Straflosigkeit, sondern sogar Bestrafung der Kläger" (Travemünder) "verlangt und erhalten hätten, ungeachtet sie angeklagt worden, daß sie die Klr. in der denselben unstreitig zustehenden Strandfischerei in der Niendorfer Wiek - eine Meile über den Mevenstein hinaus 78 ) - turbiret hätten und daß sie, ohne diesen nur Zeit zur Einziehung ihrer Netze zu gönnen, die Waden darüber hingeworfen hätten" 79 ).

Ein Senatsdekret vom 19. Oktober 1803 sprach sich aber hernach für die Travemünder aus, indem es deren Fischerei in der Niendorfer Wiek in Schutz nahm. Und hierzu bemerkten die Schlutuper, daß, wenn der Senat von seiner Befugnis, die Rollen der Ämter zu ändern, Gebrauch mache, dies nur aus Rücksicht auf das Gemeinwohl geschehen könne 80 ). Also ganz entsprechend den


(  ...  ) Olderluden und gemeinen Vischern sowol binnen dieser Stadt alß tho Travemunde und Schluckup geseten allerhandt Klagen vorgekammen . ." (nach einer uns vom Lübecker Staatsarchiv erteilten Abschrift). Auch die Bestimmung am Ende des Fischereivergleichs von 1610 (Rörig II, S. 313, Anl. 1 a) ließe auf eine Zunft der Travemünder schließen.
78) Also in der Gegend von Niendorf und Timmendorf.
79) Staatsarchiv Hamburg, Akten des Oberappellationsgerichtes zu Lübeck, Parteiakten Nr. 52, S. 82 f.
80) Nach der Hachschen Relation.
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Schlüssen, die aus den Fischereiordnungen zu ziehen sind, ergibt sich, daß Senat und Wette die Berechtigungen der Fischer auch außerhalb des von Rörig angenommenen Reedegebietes, in der Niendorfer Wiek ebenso geregelt und über Streitigkeiten, die hier entstanden, ebenso entschieden haben, wie es in Hinsicht auf die lübische Fischerei vor der Strecke Priwall-Harkenbeck geschehen ist.

Gesetzt einmal den Fall, die Lübecker Gerichte hätten ihre Zuständigkeit überschritten oder gar die Niendorfer Wiek und das Gewässer bis zur Harkenbeck als lübisches Gebiet angesehen, was würde dadurch bewiesen sein? Gar nichts. Denn Lübecker Gerichte sind zu keiner Zeit imstande gewesen, über Hoheitsrechte eines fremden Staates zu präjudizieren, am allerwenigsten in einem internen Lübecker Prozeß, von dem Mecklenburg erst nach hundert Jahren etwas erfährt. In Wirklichkeit aber handelte es sich in diesem Fischereiprozeß von 1823-25 gar nicht um eine gebietsrechtliche Beurteilung der strittigen Wasserfläche, sondern nur um die Auslegung der alten Fischereiordnungen, besonders des Vergleichs von 1610. Und in den Entscheidungsgründen des Oberappellationsgerichtes, das ja seinen Sitz in Lübeck hatte und dem der Dr. Hach, ein früherer Lübecker Wetteherr, angehörte, steht folgender Satz:

"Bey der Beurtheilung der . . Beschwerde der Kläger kommt es nun freilich nicht auf die Grundsätze des gemeinen Rechtes an, wonach es sogar zur Injurienklage berechtigt, wenn man andere in der Befischung der See hindern oder stören will
   L 13 § 7. L 14 ff. de iniuriis (47.10) coll.
   L 2 § 9 ff. ne quid in loco publico (43.8),
sondern es beruht alles zunächst und hauptsächlich darauf, den richtigen Sinn des am 1. Oktober 1610 geschlossenen Vergleiches auszumitteln."

Der hier ausgesprochene Gedanke setzt voraus, daß man das Gewässer vor Rosenhagen als einen Meeresteil betrachtete, wo nach römisch-rechtlicher Anschauung an sich jedermann fischen konnte, nicht aber als ein mit allen Rechtsmerkmalen eines Binnengewässers ausgestattetes Lübecker Gebiet.

Auf den Prozeß folgte der Fischereivergleich von 1826, der nach Rörig ebenfalls zu Unrecht für die Lübecker Ansprüche ins Feld geführt worden ist. Bei der Vorbereitung des Vergleichs wurde eine Ortsbesichtigung veranstaltet. Hieraus aber, wie Rörig 81 ) will, auf eine "Ausübung der Lübecker Fischereihoheit"


81) Rörig III, S. 83, 91.
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zu schließen, ist ganz unmöglich. Warum hätten denn nicht Lübecker Kommissare auch einmal auf die Niendorfer Wiek hinausfahren sollen, um - etwa zur Vorbereitung des Niendorfer Vergleichs von 1817 - das dortige Fischereigebiet in Augenschein zu nehmen? Wir möchten glauben, daß es geschehen ist. Wenn ferner die Schlutuper Fischer in ihrer Eingabe vom November 1825 bemerkten, daß sie bisher "das ausschließliche Recht auf die ganze Strecke vom alten Blockhause bis zur Harkenbeck in Anspruch genommen" hätten 82 ), so ist klar, daß das Wort "ausschließlich" sich nur auf das Verhältnis der streitenden Fischergruppen bezieht, nicht aber auf fremde Fischerei. Da Rörig das "ausschließlich" durch Fettdruck hervorhebt, so will er es offenbar im Sinne eines Lübecker Fischereiregals auslegen. Dies ist aber eine unstatthafte Pressung der Aktenstelle. Ein Vergleich wie der von 1826 hätte zwischen den Lübecker Fischergruppen auch für die Niendorfer Wiek abgeschlossen werden können. Und eben weil der Vergleich nur die lübischen Fischer band, so war es auch nicht nötig, mecklenburgische Gerechtsame in ihm zu berühren. Auch die Fischereiordnung von 1585 und der Vergleich von 1610 erwähnen keine mecklenburgische Hoheit und Mitfischerei, die, wie wir in Archiv II nachgewiesen haben, gleichwohl bestanden, als die Ordnungen erlassen wurden.

Daß man in Lübeck noch über fünfzig Jahre nach dem Abschlusse des Fischereivergleichs von 1826 durchaus keinen rechtlichen Unterschied zwischen der Fischerei am mecklenburgischen Ufer der Travemünder Bucht und der Fischerei in der Niendorfer Wiek machte, ergibt sich deutlich aus dem, was Rörig aus dem Gutachten des Senators Overbeck mitteilt 83 ). Es wird darin der "Seestrand" beider Buchten, d. h. das Gewässer in der Nähe der Küste, in Hinsicht auf die Fischerei gleichgesetzt. Schon die Ausführungen Rörigs lehren, daß dieses Gutachten eines Lübecker Senators, das nur 17 Jahre jünger ist als das Fischereigesetz von 1896 und nur 32 Jahre vor dem Ausbruche des Streites zwischen Mecklenburg und Lübeck (1911) verfaßt wurde, mit den heutigen Lübecker Behauptungen nicht zu vereinbaren ist, sondern ihnen widerspricht. Wir dürfen dies auch daraus schließen, daß der Lübecker Senat nach einer Mitteilung des Staatsarchivs es abgelehnt hat, uns eine Abschrift des Gutachtens zu erteilen, weil es eingehend interne Rechtsverhältnisse behandele. Eine Gebietshoheit Lübecks über das heute strittige Gewässer


82) Rörig III, S. 91 und Anl. 1.
83) Rörig III, S. 101 ff.
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hat Overbeck, der nur völkerrechtliche Meeresgrenzen kannte, sicher nicht angenommen. Und wenn Rörig meint, die von Overbeck gezogene Linie Harkenbeck-Haffkruger Feld habe "nach Ansicht ihres geistigen Urhebers selbst" die Travemünder Reede nicht seewärts abgegrenzt, sondern durchschnitten, so könnte man aus den von ihm mitgeteilten Textstellen des Gutachtens doch höchstens das Gegenteil folgern. Tatsächlich liegt allerdings die Kriegsschiffreede bei 17 m Wassertiefe jenseit der Linie. Und dieses Gewässer rechnete Overbeck zur offenen See. Es kam ihm eben auf eine nautische Reede und Grenzen dafür nicht an. -

Der Anspruch, den Lübeck im 17. Jahrhundert, um die Zerstörung der Fischreusen zu bemänteln, auf das Küstengewässer bis zur Harkenbeck erhoben hat, wird durch seine gleichzeitig gemachten Zugeständnisse, insbesondere das Zugeständnis der mecklenburgischen Strandgerechtigkeit, tatsächlich wieder aufgehoben. Hätte die Stadt auch späterhin dieses Gewässer als ihr Eigentum angesehen, so würde sie hiervon niemals abgewichen sein. Niemals hätte dann der Lübecker Senat im 19. Jahrhundert die Regeln des Meeresvölkerrechts als maßgebend für die Abgrenzung seiner Hoheit anerkennen können. Gebietsrechte auf einer von den lübischen Fischern so oft besuchten Wasserfläche konnten nicht in Vergessenheit geraten.

Daß auch aus dem Fischereigesetz von 1896 nicht eine Absicht Lübecks gefolgert werden darf, das strittige Gewässer in seine Hoheit einzubeziehen, hat jetzt Wenzel in seiner Abhandlung über die Hoheitsrechte in der Lübecker Bucht (S. 89 ff.) überzeugend nachgewiesen. Und dem entspricht ja auch die Handhabung dieses Gesetzes in den Jahren nach seiner Erlassung. Auch die neuerdings, am 21. März 1927 gemachten Zeugenaussagen Dassower Fischer ergeben wiederum, daß die mecklenburgische Fischerei vor der Strecke Priwall-Harkenbeck noch nach 1896 nicht von Lübecker Seite beanstandet wurde.

Rörig (III, S. 103) meint, es sei kein Wunder, daß seit der Festsetzung der Linie Harkenbeck-Haffkruger Feld "die Irrtümer über die Rechtsverhältnisse auf der Reede und der Niendorfer Wiek innerhalb der Lübecker Verwaltung selbst und in den Kreisen der Fischer sich häuften", daß man, "verführt durch die neue Linie, ein Gegenseitigkeitsverhältnis, zunächst zwischen Lübecker und Niendorfer Fischern annahm, und daß dann in den Kreisen der Fischer vorübergehend der Gedanke aufkommen konnte, sie hätten ein Interesse daran, gegenüber gelegentlicher Fischerei Mecklenburger Fischer auch innerhalb der Linie ein Auge zuzudrücken, weil sie ja

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auch im mecklenburgischen Küstengewässer jenseits der Harkenbeck fischten: die einfache Übertragung des - an sich schon falschen - Gegenseitigkeitsstandpunktes den Niendorfer Fischern gegenüber auf die mecklenburgischen!" Diese Vorstellung Rörigs aber leuchtet, was die mecklenburgischen Fischer angeht, an sich nicht ein und entspricht in keiner Weise den Tatsachen. Die von Overbeck vorgeschlagene und 1879 vom Lübecker Senat festgesetzte Linie Harkenbeck-Haffkruger Feld galt in ihrer ganzen Ausdehnung, sowohl für die Travemünder Bucht wie für die Niendorfer Wiek. Ihr Zweck war lediglich, eine Grenze zu bilden, jenseit der die Travemünder Einwohner, die keiner Innung 84 ) angehörten und nicht eigentlich Fischer waren, den Fang betreiben durften, während innerhalb der Linie die, wie Overbeck sich ausdrückte, "festgeordneten Berechtigungen" der lübischen Fischer und der aus dem Fürstentum Lübeck vorlagen. Wenn diese Linie zu etwas hätte "verführen" können, so würde es höchstens die Annahme gewesen sein, daß innerhalb der Linie nur die genannten Fischer fangberechtigt seien. Es hätte also höchstens die Meinung entstehen können, daß die mecklenburgischen Fischer nicht zugelassen, sondern ausgeschlossen werden müßten. In Wirklichkeit aber haben die Lübecker Fischer den Sinn der Linie, die ja nur für die Travemünder "wilde" Fischerei galt, natürlich gekannt.

In keinem Falle sind denn auch die mecklenburgischen Fischer erst nach 1879 in das Gebiet binnen der Linie eingedrungen. Bei dem jüngsten Zeugenverhör in Leipzig vom 21. März 1927 haben drei Dassower Fischer im Alter von 65, 56 und 43 Jahren ausgesagt, daß nicht nur sie, sondern auch ihre Väter und Großväter vor der Strecke Priwall-Harkenbeck gefischt hätten. Und der 41jährige Fischer Post aus Fährdorf auf Poel erklärte bei dem Verhör in Wismar vom 29. September 1924, daß "unsere alten Vorfahren" immer gesagt hätten, es dürfe in der Travemünder Bucht soweit gefischt werden, als das mecklenburgische Ufer reiche. Die jetzt von Lübecker Seite erhobene Behauptung, daß diese Fischerei auf einer stillen Duldung durch Lübeck beruht habe, kehrt die tatsächlichen Rechtsverhältnisse um. Im übrigen kommt es auf die Lübecker Meinung nicht an. Die mecklenburgischen Fischer haben, wie die Zeugenaussagen ergeben, ihre Berechtigung aus der Hoheit Mecklenburgs abgeleitet. Und es kann nicht zweifelhaft sein, daß der mecklenburgische Besitzstand durch diese Fischerei (der Dassower, Wismarer, Poeler, Barendorfer, wenn nicht noch anderer


84) Damals gab es offenbar wieder eine Travemünder Innung, vgl. Rörig I, S. 27.
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Fischer) gewahrt worden ist, auch nach 1896. Wenn die lübischen Fischer, wie Rörig meint, wegen des "Gegenseitigkeitsverhältnisses" es für zweckmäßig hielten, "ein Auge zuzudrücken", so könnte dies nur in Hinsicht darauf geschehen sein, daß Mecklenburger Fischer auch den westlichen Teil der Bucht, nämlich das Gewässer vor der Lübecker Küste aufsuchten 85 ).

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Da ja in Rörigs Beweisführung die These, es habe auf dem angeblichen Reedegebiete seit Jahrhunderten eine ausschließliche Fischerei Lübecks bestanden, eine große Rolle spielt, so ist es für den vorliegenden Streit von höchster Wichtigkeit, daß diese These inzwischen auch für die ganze Westküste der "Reede" zusammengebrochen ist.

Denn es ist nicht einmal so gewesen, daß nur Lübecker und Mecklenburger den Fang in der Travemünder Bucht betrieben. Zu ihnen kamen die Fischer aus den vormals domkapitularischen Dörfern des Fürstentums Lübeck hinzu. In dem kürzlich erschienenen ersten Teil der Arbeit von Kühn über den Geltungsbereich des Oldenburgisch-Lübeckischen Fischereivergleichs von 1817 und die Travemünder Reede wird nachgewiesen, daß die Niendorfer Fischer im 18. Jahrhundert an der Westküste der Bucht bis zum Traveauslauf hin gefischt haben 86 ). Sie fischten also innerhalb der Bucht nicht nur am Strande des Domkapitels, sondern auch an dem sich südlich anschließenden Lübecker Strande


85) Siehe Zeugenverhör in Dassow vom 16. Juli 1924, Aussagen der Zeugen Staack und Lintzhöft über die Barendorfer Fischerei (vgl. Archiv II, S. 185), ferner die mecklenburgischen Aussagen in Leipzig vom 31. Januar und 21. März 1927.
86) Und zwar mit Netzen und Angeln sowie mit Tobiaswaden, Kühn S. 11 ff. Ob auch die eine Heringswade, die Lübeck dem Krüger in Niendorf aus besonderen Gründen zugestanden hatte, bis an die Trave hin gezogen wurde, ist unseres Erachtens zweifelhaft. Die Einschränkung der Wadenfischerei läßt aber keineswegs auf eine Lübecker Fischereihoheit schließen; denn auch in der Niendorfer Wiek hat Lübeck den domkapitularischen Fischern, auch denen aus Timmendorf und Hemmelsdorf, nur eine beschränkte Zahl von Waden zugestanden und den Niendorfern in dem größeren Teile der Wiek, westlich von der Aalbeck, überhaupt das Recht auf Wadenfischerei bestritten (vgl. Rörig I, S. 12, Kühn S. 7 f. und Anl. 1). Rörig (I, S. 18) erwähnt einen Fall von 1661, in dem Lübeck gegen Niendorfer Fischer wegen Fischens auf der Reede eine Strafandrohung (Beschlagnahme der Fischereigeräte) ergehen ließ. Man sieht hier aber nicht klar. Es wird sich um von Lübeck nicht anerkannte Wadenfischerei handeln. Auch in der Niendorfer Wiek sind 1729 Fischereigeräte der Niendorfer (Boote und Wade) beschlagnahmt worden (Rörig I, S. 12, Anm. 25, gemeint ist wohl der von Kühn S. 7 ff. besprochene Fall).
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bis zur Flußmündung 87 ). Ohne Zweifel ist diese Fischerei älter als die erste von Kühn dafür angezogene Quelle, ein Lübecker Wetteprotokoll von 1729. Es bestehen nicht einmal Gründe gegen die Möglichkeit, daß die Niendorfer Fischer auch vor der mecklenburgischen Küste erschienen sind.

Auch bei den Verhandlungen, die in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts zwischen dem Domkapitel und der Stadt Lübeck über einen Fischereivertrag zur Beendigung der vielfachen Streitigkeiten geführt wurden, ward die hergebrachte Fischerei domkapitularischer Fischer in der Travemünder Bucht berücksichtigt. Dies geht hervor aus den von Kühn abgedruckten beiderseitigen Vertragsentwürfen, dem des Justizrats Detharding, des Vertreters des Domkapitels, von 1771 und dem Gegenentwurf des Lübecker Syndikus Dreyer von 1774 88 ). Detharding sah den Geltungsbereich des abzuschließenden Vertrages in dem ganzen Strande "von der Trave an, bis an die Gosebeck", also bis zum Ende der Niendorfer Wiek. Und auch nach Dreyer sollten beide Parteien die Freiheit "behalten", Netze, Angeln und Schnüre "allenthalben außerhalb der Trave zu setzen". Daß dies nur heißen kann: außerhalb der Travemündung, ist nach den Darlegungen Kühns nicht mehr zu bestreiten. Dagegen machte Dreyer für die Fischerei mit Waden zwar in der Niendorfer Wiek Zugeständnisse 89 ), wollte aber diese Geräte der Gegenpartei nicht bis zur Trave zulassen. Nach ihm sollten die Heringswaden der domkapitularischen Fischer nur "außerhalb des Traven-Strohms jenseits der Travemunder-Rheede" gezogen werden, während er für die Tobiaswaden die einzelnen Strandstrecken bis zur Gosebeck aufzählte, beginnend mit dem Gneversdorfer und dem Brodtener Strande, von denen der erste ganz, der zweite zum Teil an der


87) Die Grenze zwischen diesen beiden Strandstrecken ist, wie Kühn S. 8 ff. darlegt, nicht immer dieselbe geblieben. Denn die 1329 in den Besitz Lübecks gekommene 10 Ruten breite Uferkante zwischen dem Travemünder Gebiet und der Brodtener Südscheide ist nördlich vom Möwenstein in einer Länge von ungefähr 600 m mit der Zeit vom Meere abgespült worden. Infolgedessen trat hier, zwischen Brodten und dem Möwenstein, das Feld des Kapitelsdorfes Gneversdorf an die See heran. Das Kapitel nahm das Strandrecht an dieser Strecke mit Erfolg in Anspruch, bis 1769 die Grenze neu festgesetzt wurde, so daß der Lübecker Strand nun wieder annähernd bis zur Brodtener Scheide reichte.
88) Kühn S. 16 ff. und Anlagen 3 und 4.
89) Kühn S. 20. Ein Zugeständnis Dreyers war es auch, daß er die Zahl der gegnerischen Waden nicht beschränkte (vgl. oben Anm. 86) und nur Nachtwaden für den Heringsfang nicht zubilligen wollte.
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Westseite der Travemünder Bucht liegt 90 ). Daß der Gneversdorfer Strand südlich bis zum Möwenstein gerechnet wurde, macht Kühn sehr wahrscheinlich. Und er erblickt den Anfangspunkt für die Heringsfischerei (jenseit der Travemünder Reede), einen Punkt also, der sich mit dem Endpunkte der Reede deckt, gleichfalls im Möwenstein. Die näheren Nachweise hierfür sind in dem zweiten, uns bisher noch nicht vorliegenden Teile seiner Arbeit zu erwarten 91 ).

Wenn Kühn recht hat, so wäre natürlich auch im Niendorfer Fischereivergleich zwischen Oldenburg und Lübeck von 1817 92 ) die Grenzbestimmung "von der Travemünder Rehde an" auf den Möwenstein zu beziehen. Auch in dem Vergleich gilt diese Grenzbestimmung nur für die oldenburgische Fischerei mit Heringswaden und Tobiaswaden, für deren Gebrauch der Strand nördlich vom Mövenstein wegen seiner steinigen Beschaffenheit allerdings ungeeignet ist. Ferner ist die Bestimmung des Dreyerschen Entwurfes von 1774, wonach beide Parteien mit Netzen, Angeln und Schnüren "allenthalben außerhalb der Trave" fischen dürften,


90) Über den Grund für die Aufzählung der Strandstrecken siehe Kühn S. 20 f.
91) Auch wir haben in unseren früheren Erachtens die Ansicht vertreten, daß die nautische Reede ungefähr gegenüber dem Möwenstein geendet habe (Archiv II, S. 102 f., Archiv III, S. 8 Anm. 15, S. 51), aber angenommen, daß in dem Dreyerschen Entwurf von 1774 und dem Niendorfer Fischereivergleich von 1817 mit der Reede die Bucht gemeint sei (Archiv II, S. 132 ff., S. 184, Anm. 335). Ist die Auffassung Kühns, für die allerdings Verschiedenes sprechen möchte, richtig, so hätte man jedenfalls den Steinriffzipfel der Travemünder Bucht nicht zur Reede gerechnet. Da es sich hier aber nur um ein kleines Gebiet handelt, so würde man trotzdem - wenn es nicht gerade auf genaue Abgrenzung ankam - den Ausdruck "Reede" im Sinne von "Travemünder Bucht" haben gebrauchen können. - Es sei hier folgende Berichtigung angeschlossen. Archiv III, S. 45 haben wir gesagt, daß Rörig jetzt bestätigt habe, es sei der Ausdruck "Reede" für die Travemünder Bucht verwendet worden, ferner findet sich S. 70 ausgesprochen, daß Rörig nun schon dreierlei Reeden annehme: die nautische Reede, die Reede im weiteren Sinne und die Reede im Sinne von Travemünder Bucht. Dies beruht auf einem Mißverständnis. (Rörig (III, S. 132 f., 146) nimmt nicht dreierlei Reeden an, sondern meint, daß der Ausdruck "Travemünder Bucht", den er seit dem Anfange des 19. Jahrhunderts in den Quellen gefunden hat, sich auf seine "Reede im weiteren Sinne" beziehe. Das ist aber eine sehr willkürliche Ansicht; denn die vermeintliche Reede im weiteren Sinne soll ja weit über die Bucht hinausgeragt haben und etwa doppelt so groß gewesen sein als diese. Was die Travemünder Bucht ist, lehrt die Karte. Dem Abdruck von Archiv III im Jahrbuche für mecklenburgische Geschichte 90 haben wir diese Berichtigung noch hinzufügen können.
92) Abdruck bei Rörig I, Anl. 1.
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wörtlich in den § 4 des Niendorfer Vergleiches aufgenommen, doch sind Beschränkungen für die oldenburgischen Fischer hinzugefügt. Wir nehmen an, daß Kühn sich über diesen § 4 noch äußern wird. Soviel aber steht schon jetzt fest, daß der Vergleich den Oldenburgern Fischereiberechtigung in dem angeblichen Reedegebiet zubilligt, und es fragt sich nur noch, wieweit diese Berechtigung geht. Noch das Lübecker Fischereigesetz von 1896 sagt in seinem § 4 unter ausdrücklicher Berufung auf den Niendorfer Vergleich: "Durch die Bestimmungen des § 3" (der die Verteilung der einzelnen Fischereibezirke auf die Lübecker Genossenschaften regelt) "wird nicht berührt das vertragsmäßige Mitbefischungsrecht der Oldenburgischen Fischer in der Travemünder Bucht."

Mithin: Die Behauptung Rörigs, daß Lübeck ein ausschließliches Fischereirecht auf der "Reede", von der Harkenbeck bis zum Brodtener Grenzpfahl besessen habe und besitze, ist nicht nur gegenüber Mecklenburg, sondern auch gegenüber Oldenburg unhaltbar. Seine Auffassung des Niendorfer Vergleichs beruht auf der Annahme, daß man die ganze Wasserfläche bis zum Brodtener Grenzpfahl hin zur Reede und sogar noch zur Trave gerechnet habe, was beides völlig ausgeschlossen ist. Und für den Umstand, daß in dem Dreyerschen Vertragsentwurf von 1774 der Gneversdorfer und der Brodtener Strand eigens aufgezählt werden, hat er eine Erklärung zu geben versucht, die man nur als gewaltsam bezeichnen kann 93 ).

Wichtig ist ferner der Nachweis Kühns, daß das Lübecker Domkapitel noch im 18. Jahrhundert an seinem in die Travemünder Bucht hineinreichenden Strande das Strandrecht ausgeübt hat, und zwar, wie die Nachrichten darüber ergeben, unter voller Anerkennung durch Lübeck 94 ). Auch das Fahrrecht des Kapitels wird für den Brodtener Strand in einem Fall von 1757 bezeugt 95 ). Natürlich hat das Kapitel diese Hoheitsrechte bis zu seiner Auflösung (1803) besessen. Und ganz unmöglich ist demgegenüber die auch von Kühn zurückgewiesene Behauptung des Lübecker Baumeisters Soherr von 1775, daß der Brodtener Strand der Stadt gehöre 96 ). Diese Behauptung aber steht auf gleicher Stufe wie die


93) Rörig I, S. 17, Anm. 30. Dazu Kühn S. 21 f.
94) Kühn S. 6 und 10, Strandrechtsfälle von 1732 und 1757 am Brodtener Strande und von 1734 an dem noch weiter südlich gelegenen Gneversdorfer Strande. In Gneversdorf hatte das Kapital nur bis 1769 Uferbesitz, vgl. oben Anm. 87.
95) Kühn S. 6 f.
96) Vgl. Rörig I, S. 32, Archiv II, S. 131, Kühn S. 5 f.
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des Zöllners Tydemann von 1547, wonach Lübeck über Strom und Strand bis zur Harkenbeck sollte zu gebieten haben.

1599 trug der Großvogt des Domkapitels in einer Kapitelsitzung vor, daß "das ganze littus maris vom Travemünder Felde bis an den Gronenberge und Scharboiß dem Capitul zugehörte". Hiermit brachte er nach Kühn (S. 10) "in Verbindung, daß das Domkapitel in possessione iuris piscandi sei, und folgerte aus beidem das Recht eines Untertanen des Domkapitels, überall an der genannten Strandstrecke zu fischen. Diese ,Capituls Gerechtigkeit' wurde dessen Sekretarius beauftragt, den Wetteherren in einer schwebenden Streitsache in Erinnerung zu bringen. Er tat dies mit dem Erfolge, daß der über ein Guthaben des betr. Kapitelsuntertanen in der Stadt verhängte Arrest aufgehoben wurde." Es war eben überall dasselbe: Strandhoheit schloß die Fischereigerechtigkeit ein. Und es sind nur entsprechende Erscheinungen, daß Lübeck auf der einen Seite die Wadenfischerei der domkapitularischen Fischer zu deren Unwillen 97 ) wider alles Recht stark beschnitt und mit Beschlagnahme von Geräten gegen sie vorging, auf der anderen Seite aber ein paar mecklenburgische Fischreusen zerstörte.

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In seinem zweiten Gutachten (S. 294 f.) behauptet Rörig, daß das Schweriner Archiv an einer "gänzlichen Aktenlosigkeit für das fragliche Gebiet" leide im Gegensatze zu dem "durch die Jahrhunderte hindurch lückenlosen Aktenbefund über ungestörten Genuß der Hoheitsrechte in Lübeck." Hoheitsrechte (Mehrzahl)! Wir müssen dem entgegnen, daß wir mit unseren Aktenbeständen zufrieden sind. Sie haben uns ermöglicht, im Archiv II die mecklenburgische Strandhoheit einschließlich des Fahrrechts nachzuweisen 98 ), während von den gleichartigen Rechten, die Rörig für Lübeck glaubte feststellen zu können, nichts übrig bleibt. Und über die Fischerei konnten, solange man keine allgemeinen Fischereigesetze, auch nicht für die Binnengewässer, erließ, Akten - von Privilegien sehen wir dabei ab -immer nur bei Streitigkeiten entstehen; so die Akten über den Fischreusenstreit und das wichtige Rostocker Protokoll von 1618 99 ). Das war überall dasselbe. Was wüßten wir denn von den Fischereiverhältnissen in der Travemünder Bucht während früherer Jahrhunderte, wenn es keine Konflikte gegeben hätte? Gar nichts! Auch die alten


97) Vgl. Kühn S. 7 f.
98) Archiv II, S. 107 ff.
99) Archiv II, S. 177 f.
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Lübecker Fischereiordnungen sind ja, wie sie selber lehren, aus Zwistigkeiten der Fischergruppen hervorgegangen. Und ebenso steht es um die Niendorfer Wiek. Für die Fischerei der Niendorfer ist das Quellenmaterial nach Kühn (S. 13) "außerhalb der Zone beständigen Streites äußerst dürftig". Wollte man jedoch aus dem Mangel an Streitakten für irgendein Gewässer folgern, daß überhaupt nur eine Partei gefischt habe, so wäre das ein grober Trugschluß.

Daß aber die tatsächlich für verschiedene Zeiten nachgewiesene mecklenburgische Fischerei vor der Strecke Priwall-Harkenbeck auf privater Berechtigung der Fischer beruhte, daß also die Mecklenburger an der Küste ihres eigenen Landes und dennoch in fremdherrlichem Gewässer gefischt hätten, kann nicht angenommen werden. Ein solches Verhältnis wäre von Haus aus sehr unwahrscheinlich. Das Umgekehrte dagegen, die Nutzung des mecklenburgischen Küstengewässers durch Lübecker Fischer, entspricht der auch sonst festgestellten Entwicklung. Überdies haben wir sichere Anzeichen für die mecklenburgische Hoheit in der Gerichtsbarkeit (Fahrrecht) und besonders in dem Strandrecht im engeren Sinne, dem Bergerecht. Es war allgemeine Regel, in der Ausübung des Bergerechts einen Beweis für den Besitz des gesamten Strandregals, d. h. der Hoheit über das Küstengewässer zu erblicken 100 ). Und daß das Bergerecht vor der Strecke Priwall-Harkenbeck Mecklenburg zustand, darüber kann es keinen Zweifel geben. Hier ist das Bild geschlossen bis zu der mecklenburgischen Verordnung vom 17. Dezember 1874 hin, die zur Ausführung der Reichsstrandungsordnung erlassen wurde und ausdrücklich bis zur Grenze des Lübecker Gebietes, also bis zur Staatsgrenze am Priwall gilt. Die Verordnung ist noch heute in Kraft. Sie setzt, wie es das Bergerecht von jeher getan hat, die Hoheit über das Küstengewässer voraus. Und es entspricht ihr, daß Lübeck in seiner eigenen Ausführung zur Reichsstrandungsordnung vom 2. November 1874 den Lübecker Ostseestrand "von der Mecklenburgischen bis zur Oldenburgischen Gränze", also ebenfalls von der Staatsgrenze am Priwall an, rechnete 101 ).

Demgegenüber kommen die ein bis zwei Übergriffe Lübecks, die aus Jahrhunderten bekannt geworden sind, gar nicht in Betracht. Es handelt sich um die Fälle von 1516 und 1750. Über den von 1516 ist unbedingte Klarheit nicht zu gewinnen. Weil


100) Vgl. Archiv II, S. 79 (Rostock), S. 81 (Ribnitz) und S. 153 f.
101) Sammlung der Lübeckischen Verordnungen, 1874 Vgl. v. Gierke S. 108 f.
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Rörig (III, S. 119 f.) meint, daß Lübeck damals vor Rosenhagen "das Bergerecht", also ein Regal ausgeübt habe, und daß sich der Fall "ganz ungezwungen in die Nachrichten über die Ausdehnung der Reede" einfüge, so müssen wir noch einmal darauf eingehen 102 ).

Mecklenburg beschwerte sich darüber, daß der Travemünder Vogt zwei landrührige Schuten widerrechtlich geborgen habe, eine am Priwall, die andere bei Rosenhagen. Davon kommt die erste hier nicht in Betracht, weil der Priwall strittig war und Streitigkeiten wegen des Strandrechts dort oft vorkamen. Der Lübecker Rat wiederholte in seiner Entgegnung zunächst die mecklenburgische Behauptung über den Strandungsort beider Schiffe. Man habe inzwischen Erkundigungen eingezogen, wonach beide Schuten auf städtischem Strom und Gebiet Schiffbruch erlitten hätten, die eine hart am Hafenbollwerk und am Priwall, die andere jenseit des Bollwerks auf der Reede 103 ). Ist diese letzte Ortsbestimmung richtig, dann ist die mecklenburgische (Rosenhagen) falsch, und das Schiff war auf der Reede, also nicht weit von der Travemündung, schiffbrüchig geworden. Stimmt es aber mit Rosenhagen - und das ist das Wahrscheinlichere -, dann liegt in dem Lübecker Schreiben eine absichtliche Ungenauigkeit vor; denn die Ortsbestimmung "af gensydt Bolwarkes up der Reyde" konnte kein Mensch auf den Rosenhäger Strand beziehen, der vom Bollwerk ungefähr 3 km weit abliegt. Der Lübecker Rat würde dann eben nur die Strandung am Priwall zugegeben, um den zweiten Fall aber herumgeredet haben 104 ). Warum ging er denn im weiteren Verlaufe des Schreibens nur auf sein Recht am Priwall ein, nicht aber auf ein Recht am Strande vor Rosenhagen, obwohl doch der mecklenburgische Protest beide Örtlichkeiten betraf? Das ganze Schriftstück ist so abgefaßt, daß man es in Mecklenburg gar nicht anders verstehen konnte, als daß beide Schuten am Priwall gestrandet sein sollten. Und wie die Erwiderung der Herzöge lehrt, verstand man es in der Tat so 105 ).

Aber auch wenn wir voraussetzen, daß das eine Fahrzeug bei Rosenhagen gescheitert war, so ist das Verhalten Lübecks dennoch begreiflich. Die Seestädte verwarfen das Bergerecht überhaupt und sprachen den Schiffbrüchigen die Befugnis zu, selber für Ber-


102) Vgl. Archiv II, S. 104 f., Archiv III, S. 10
103) Vgl. den Auszug bei Rörig III, S. 119. Inzwischen sind auch die anderen beiden Aktenstücke über den Fall dem Lübecker Staatsarchiv und also Rörig zugänglich gemacht worden.
104) Vorausgesetzt, daß nicht schon der Rat selbst von dem Vogte im Unklaren gelassen war, was wenig wahrscheinlich ist.
105) Vgl. den Auszug in Archiv III, S. 10, Anm. 22.
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gung zu sorgen 106 ). Sie konnten sich dabei auf gewisse Reichssatzungen und päpstliche Verordnungen gegen das Strandrecht stützen, an deren Erlassung Lübeck großen Anteil hatte 107 ). Außerdem lagen für den mecklenburgischen Strand landesherrliche Privilegien vor, die ebenfalls von Lübeck erwirkt waren, und zwar eine allgemeine Aufhebung des Strandrechts von 1220, eine Bestätigung von 1327 und eine weitere Bestätigung von 1351 worin Herzog Albrecht II. speziell den Lübeckern die selbständige Bergung bei Schiffbrüchen an der ganzen mecklenburgischen Küste zugestand und seinen Beamten verbot, sie dabei zu stören 108 ). Demgemäß, wenn auch ohne die mecklenburgischen Privilegien zu nennen, betonte der Lübecker Rat 1516, daß beide Schuten Lübeckern gehörten und von ihnen selbst geborgen seien. Ferner heißt es in dem Schreiben, die Herzöge würden doch nicht verkürzen wollen, was die gemeinen Rechte und die "naturlike Rede" (d. h. die allgemeine Rechtsempfindung) in diesem Falle gestatteten und den Lübeckern auch durch päpstliche und kaiserliche Begnadungen erlaubt sei.

In Wirklichkeit aber war es Lübeck bekannt, daß die mecklenburgischen Landesherren seit dem 15. Jahrhundert irgendwelche Satzungen gegen das Strandrecht ebensowenig mehr gelten ließen wie die Strandungsprivilegien ihrer Vorfahren. Sie vertraten statt dessen das Bergerecht in seiner schärfsten Gestalt und betrachteten schiffbrüchiges Gut als dem Strandherrn anheimgefallen. Von den beiden Herzögen, an die das Schreiben des Rates von 1516 erging, war Heinrich V. ein ausgesprochener Anhänger dieser Auffassung 109 ) und sein Mitregent Albrecht VII. gewiß nicht minder. Dazu kam, daß die Stimmung der beiden Fürsten gegen Lübeck ohnehin nicht die beste sein konnte. Einige Jahre früher (1506-1508) hatte man wegen des Priwalls und Dassower Sees in offener Fehde gelegen, wobei die Lübecker schwere Verwüstungen auf mecklenburgischem Boden angerichtet hatten 110 ). Wurde


106) Dem widerspricht nicht, daß die Städte an ihrer eigenen Küste eine Bergehoheit besaßen. Denn sie haben diese immer nur als vom Hilfs- und Schutzrecht aufgefaßt und gewiß nie Gewinn daraus gezogen.
107) Vgl. im einzelnen Techen, Hansische Geschichtsblätter 12, S. 280, 282 ff.
108) Mecklb. Urkb. I Nr. 268 VII, Nr. 4811, XIII, Nr. 7425 Vgl. Techen a. a. O. S. 279 ff. Die selbständige Bergung war übrigens unzweifelhaft schon nach dem ursprünglichen Privileg von 1220 zugelassen.
109) Vgl. Techen S. 293.
110) Damals fühlte sich Lübeck noch recht stark. Und wenn Rörig III., S. 126 von dem "überaus vorsichtigen Verhalten Lübecks in auswärtigen Fragen den Nachbaren gegenüber im 17. Jahrhundert" spricht, so können
(  ...  )
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die eine Schute bei Rosenhagen von den herzoglichen Beamten geborgen, so sah man in Lübeck von dem Strandgute nie etwas wieder oder doch besten Falles erst nach langen Verhandlungen und gegen Zahlung von Lösegeld. Das wußte natürlich der Travemünder Vogt so gut wie der Lübecker Rat und die Eigentümer des Schiffes. Deshalb griff der Vogt zu oder lieh wenigstens seine Unterstützung bei der Bergung, und deshalb trat der Rat für ihn ein. Hätte dieser, wie die Herzöge verlangten, das Strandgut an Ort und Stelle zurückbringen lassen, so hätten die Eigentümer es büßen müssen. Wie die Dinge lagen, ist es einigermaßen verständlich, daß der Rat die Bergung nicht nur mit allgemeinen Rechtssätzen, Privilegien und Verordnungen rechtfertigte, die ja überhaupt nur für fremdherrlichen Strand Bedeutung haben konnten, von den Herzögen aber notorischer Weise nicht anerkannt wurden, sondern daß er einen nahe der Grenze vorgekommenen Fall auch gebietsrechtlich zu decken suchte, indem er den Strandungsort leise nach dem Priwall zu verschob. Lübecks Recht auf den Priwall setzte der Rat doch nur deswegen in dem Schreiben auseinander, weil es klar war, daß die Hoheit über die Halbinsel auch deren Strand mit umfaßte, auf dem eines der Schiffe ja zugegebenermaßen gelegen hatte. Jenseit des Priwalls aber gehörte das Ufer unbestritten Mecklenburg. Soll man denn annehmen, daß der Rat sich hier - östlich von Priwall - den überfluteten Strand zuschrieb, am Priwall aber nur unter der Voraussetzung des Eigentums am festen Lande? Gewiß nicht, sondern wenn die eine Schute bei Rosenhagen geborgen war, so liegt in dem Schreiben eine Verschleierung des Tatortes vor. Daraus aber kann man nur folgern, daß Lübeck sich östlich vom Priwall kein Bergeregal und also auch das Strandgewässer nicht beilegte. Das hat es auch später nicht getan, nicht einmal in seinen verworrenen und ganz singulären Erklärungen beim Fischreusenstreit. Rörig will den Fall von 1516 einem anderen von 1660 111 ) gleichsetzen. Aber 1660 hat Lübeck mit keinem Worte behauptet, daß die damals bei Rosenhagen verunglückten Schiffe auf seiner Reede gesunken seien. Es sagte, sie seien "nicht auf dem Unsern angetrieben, sondern an Seiten E. F. Durchl. Lande beschädiget", aber "nicht an den Strandt kommen, sondern drey Klafter (5,17 m) tief in See geblieben". Es bestritt also lediglich, daß solche Tiefe noch zum Strande zu rechnen sei. Darin aber liegt das Zugeständnis, daß


(  ...  ) wir nur entgegnen, daß es nicht gerade vorsichtig war, 1660 bei einem Strandrechtskonflikt am Priwall auf den Herzog Christian und seine Leute mit Kanonen zu schießen (Archiv III, S. 27, Anm. 83).
111) Vgl. Archiv II, S. 108 ff.
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der gesamte Strand vor Rosenhagen, trockener und bespülter, zu Mecklenburg gehöre. Ferner ergibt sich aus dem Falle von 1660, daß der Herzog Christian auch noch das tiefe Wasser vor seiner Küste beanspruchte, also eine Lübecker Hoheit darüber nicht in Betracht zog. Dagegen ergibt sich nicht, das Lübeck eine solche Hoheit vor Rosenhagen geltend machte.

Während Mecklenburg 1516 Protest erhob, hat es von dem weiteren Falle von 1750 wahrscheinlich gar nichts erfahren. Wir haben in unserem Archiv jedenfalls nichts darüber gefunden. Nach dem Material, das Rörig vorlegt 112 ), handelte es sich um Holz, das von einem dicht vor der Travemündung gesunkenen Ballastboote 113 ) weggetrieben und "unter Rosenhagen an der mecklenbürgischen Seiten angeschlagen" war. Die Bergung dieses Holzes durch Lübeck ist nach Rörigs eigener, in seinem zweiten Gutachten 114 ) vertretenen Anschauung ein Übergriff gewesen. Denn wenn - seiner Meinung nach - Mecklenburg das Bergerecht über Fahrzeuge zustand, die "angeschlagen" waren, "so daß vom Strand aus die Bergearbeiten vollzogen werden konnten", so hätte dasselbe doch auch für angeschlagenes Holz gelten müssen. Ein Teil des Holzes war schon am Tage vorher am Priwall angetrieben, und der Leutnant Hinzpeter, der über diesen Fall berichtete, hatte es von Soldaten bewachen lassen, die während der Nacht patrouillierten, "soweit die obrigkeitliche Jurisdiction gehet", d. h , wie auch Rörig angibt, bis zum Ostende des damals noch strittigen Priwalls. Der Strand weiter östlich, an den der Rest des Holzes

angeschwemmt wurde, lag also jenseit der lübischen Jurisdiktion. Und diesen Strand mußten doch die Lübecker beim Bergen betreten.

Immer jedoch bleibt zu bedenken, daß in den Fällen von 1516 und 1750 Übergriffe zwar nach der in Mecklenburg herrschenden Auffassung vorlagen, nicht aber nach der Lübecks, das ganz allgemein die Berechtigung in Anspruch nahm, ohne Einmischung der Strandherren selber zu bergen. Dies hat es z. B. 1660 besonders klar ausgesprochen 115 ). Auch konnte sich Lübeck schon allein auf


112) Rörig III, Anl. 4, vgl. S. 120.
113) Vgl. Archiv III, S. 36., Anm. 109.
114) Rörig II, S. 267 f.
115) Schreiben des Lübecker Rates an den Herzog Christian vom 7. November 1660, betreffend den oben Anm. 110 erwähnten Strandrechtskonflikt am Priwall: "den(n) eo ipso und indeme E. Fürstl. D. bekennen, daß ein Schiff der Unsrigen mit Guthern gestrandet sey, so gestehen Sie auch, daß wir und die Unserige Macht, Fueg und Recht haben, dieselbe zu bergen und an uns zu nehmen. Und wen(n) iemand E. Furstl. Durchl. vorbringen wolte, daß dafür ein also genantes Strandtgeldt gebuhret oder umb ein Billiges gelöset werden muße, der
(  ...  )
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Grund der oben genannten mecklenburgischen Privilegien zu jeder Bergung von schiffbrüchigem Gut am Mecklenburger Strande befugt halten. Auf diese Privilegien berief es sich noch 1712 und 1728 116 ). Dagegen ist es ganz unmöglich, aus den Fällen von 1516 und 1750 ein Lübecker Bergeregal vor Rosenhagen zu folgern. Denn dieses Regal wie die gesamte Strandhoheit hatte immer der, dem die Hoheit über das Ufer gehörte. Das war allgemein Regel. Hierin liegt auch der einzige Grund dafür, daß Lübeck sich 1329 jenen schmalen Landstreifen nördlich von Travemünde bis zur Brodtener Grenze hin übertragen ließ. Als aber ein Teil dieses Streifens von der See weggespült war und infolgedessen das Gneversdorfer Gebiet ans Meer herantrat, nahm das Lübecker Domkapitel hier das Bergerecht in Anspruch 117 ), auch ein Zeichen dafür, daß dieses Regal vom Uferbesitz abhängig war. Wie hätte denn Mecklenburg seine Strandhoheit nicht behaupten sollen, die sogar das schwache Domkapitel an seiner Küste wahren konnte!

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Im 19. Jahrhundert hat dann Mecklenburg früher als Lübeck allgemeine Verordnungen über den Fischereibetrieb am Außenstrande der Ostsee sowie in den Ostsee-Binnengewässern (Salzhaff, Wismarer Bucht usw.) erlassen. Es sind die Verordnungen von 1868 und 1875. In den Gründen für die einstweilige Entscheidung des Staatsgerichtshofes wird, wenn wir die Stelle recht verstehen, bezweifelt, daß diese Verordnungen auch das Gewässer vor der Strecke Priwall-Harkenbeck betreffen. Dies ergibt sich aber schon daraus, daß Mecklenburg um dieselbe Zeit in anderen Verordnungen, die noch nach 1868 erlassen sind, über das strittige Gewässer, und zwar unter Anerkennung durch Lübeck, verfügt hat,


(  ...  ) würde wiederrechtlich handeln und die hochverpoente Reichs-Satzungen aus den Augen setzen, welche im Munde haben, daß ein jeder solche Schiffe und Güther an allen Orten, da sie gestrandet sindt, selbst wieder zu sich nehmen solle, könne und möge. Ut perinde sit, saget der iuris consultus, ac si quis onere pressus in viam rem abjecerit, mox cum aliis reversurus, ut eandem auferret." Dieselbe Auffassung wird in der Klage vertreten, die Lübeck darauf beim Reichskammergericht erhob. Acta naufr. IV A. Vgl. auch das Lübecker Schreiben von 1660 in Archiv II, S. 110, das sich aber auf andere, fast gleichzeitige Fälle bezieht.
116) Acta naufr. IV A und B, Strandungen am Klützer Ort und bei Tarnewitz. 1712 wurden sogar Abschriften der Privilegien eingesandt. 1715 gab Mecklenburg ein beim Klützer Ort gescheitertes Lübecker Schiff aus Rücksicht auf die Privilegien ohne eigentliches Strandgeld nach Zahlung der Unkosten frei.
117) Vgl. oben Anm. 87.
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nämlich in der Verordnung vom 10. Oktober 1874 zum Schutze der Dünen des Ostseestrandes bei Rosenhagen, Barendorf usw. sowie in der Ausführungsverordnung zur Reichsstrandungsordnung vom 17. Dezember 1874 118 ). Unmöglich konnte Mecklenburg das strittige Gewässer das eine Mal als seiner Hoheit unterworfen betrachten, das andere Mal aber nicht 119 ). Und ebensowenig konnte Lübeck diese mecklenburgische Hoheit bald anerkennen, bald bestreiten.

Die Seefischereiverordnung von 1868 wird durch die von 1875 revidiert und außer Kraft gesetzt, ebenso die Verordnung von 1875 durch die von 1891. Diese letzte Verordnung regelt den gesamten Fischereibetrieb sowohl in den Binnengewässern wie in den Küstengewässern. Der Fischereibetrieb in den Küstengewässern aber umfaßt nach § 1 "die Fischerei am Außenstrande der Ostsee" sowie in den Ostsee-Binnengewässern. Der Ausdruck "Außenstrand der Ostsee" wird schon in den Verordnungen von 1868 und 1875 gebraucht. Mithin ist gar kein Zweifel, daß die Verordnung von 1891 denselben Geltungsbereich hat wie die Regelungen von 1868 und 1875. Auch die Verordnungen zum Schutze der Fischerei auf Plattfische von 1904 und 1913 betreffen den Fang "an der ganzen Ostseeküste Unseres Landes". Wäre hier die Strecke Priwall-Harkenbeck nicht mitgerechnet worden, so hätte dies unbedingt ausgesprochen werden müssen 120 ).


118) Archiv II, S. 187. v. Gierke S. 107 ff. Die Verordnung zum Schutze der Dünen gilt bekanntlich bis auf 400 m vom Fuße der Dünen oder hohen Ufer in die See hinein. Der also mit einbezogene trockene Strand ist vor Rosenhagen nach dem Meßtischblatte im allgemeinen 50-80 m breit.
119) Vgl. auch Wenzel S. 86.
120) Die Verordnungen gelten bis auf 5 1/2 km von der Küste, also bis zur Drei-Seemeilen-Grenze. Diese Grenze hat man auch in Lübeck zeitweilig angenommen (Rörig I, S. 29, II, S. 308, Anm. 140, III, S. 50). Natürlich ist sie in der Travemünder Bucht wegen deren Schmalheit nicht möglich. Auch die 1870 vom Lübecker Stadt- und Landamt vertretene Hoheitszone von einer Seemeilenbreite läßt sich nur für den nördlichen Teil der Bucht aufstellen. 1879 gab der Senator Overbeck die völkerrechtliche Kanonenschußweite ebenfalls auf "etwa eine Seemeile vom Ufer" an (Rörig III, S. 102). Es ist aber klar, daß die mecklenburgischen Verordnungen ebenso wie die Lübecker Angaben dahin zu verstehen sind, daß in dem Grenzgebiete, wo ja keine genaue Scheidelinie vereinbart war, nicht mehr beansprucht werden sollte, als das Völkerrecht zuläßt, dessen Satzungen man offensichtlich zugrunde legte. Vgl. v. Gierke S. 105, Anm. 240. Auch wenn die mecklenburgische Meereshoheit erst bei der Harkenbeck anfinge, würde die Drei-Seemeilen-Zone noch weit über das Küstengewässer hinweggehen, das Lübeck völkerrechtlich zukommt.
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Zwischen diese mecklenburgischen Verordnungen fällt zeitlich das Lübecker Fischereigesetz von 1896. Wenzel (S. 89 ff.) hat im einzelnen gezeigt, daß es nicht so auszulegen ist, als ob die vorher von Lübeck anerkannten völkerrechtlichen Grundsätze darin durchbrochen werden sollten. Hierzu stimmt auch die 1879 vom Senator Overbeck vertretene Rechtsanschauung. Und weil Overbeck die völkerrechtliche Ausdehnung der Meereshoheit (Kanonenschußweite) noch auf "etwa eine Seemeile vom Ufer" berechnete, so muß wohl die ebenfalls in der Lübecker Verwaltung zeitweilig vertretene Anschauung, daß diese Ausdehnung drei Seemeilen betrage 121 ), erst nach 1879 aufgekommen sein.

Freilich hat Lübeck sich später auf Grund des Fischereigesetzes von 1896 eine alleinige Hoheit in der Travemünder Bucht zugeschrieben. Da wir aber in der Grenzverlegung von 1923 ein Beispiel dafür haben, wie schnell und unter wie brüchiger Begründung Lübeck sich zu entschließen vermag, Hoheitsrechte in Anspruch zu nehmen, so könnte die nach 1896 bemerkbare Wandlung in seiner Ansicht über das, was ihm in der Travemünder Bucht zusteht, sich allerdings schon aus der mißverständlichen Fassung des Gesetzes von 1896 selbst erklären lassen. Aus der in § 2 gegebenen Umschreibung des Fischereibezirkes III, wonach dieser hauptsächlich durch "die Travemünder Bucht bis zur Linie Harkenbeck-Haffkruger Feld" gebildet werden soll, vermochte ja sogar die Meinung zu entstehen, daß hier auch noch die Niendorfer Wiek, also die gesamte Wasserfläche binnen der bezeichneten Linie gemeint sei 122 ). Leichter jedenfalls ließ sich aus dem Gesetze eine Einbeziehung des mecklenburgischen Gewässers bis zur Harkenbeck folgern.

Indessen spricht aus dem ganzen Verhalten Lübecks nach 1896 zunächst eine große Unsicherheit. Weder gelang es, die mecklenburgischen Fischer zu verdrängen, noch wurde ihnen gegenüber ein irgendwie konsequentes Verfahren beobachtet, nicht einmal nach 1911. Und höchst bezeichnend ist es, daß der Lübecker Senat seine Erwiderung auf die Anfrage der mecklenburgischen Regierung von 1911 solange hinauszögerte, bis ihm ein Archivbericht vorlag, in dem nur der erste (ungedruckte) Bericht Rörigs erblickt werden kann 123 ). Mithin ist zu schließen, daß Lübeck seine eigentliche Rechtsüberzeugung erst aus den Rörigschen Darlegungen geschöpft hat. Sehr wünschenswert aber wäre es zu erfahren, welches denn "die letzten gutachtlichen Äußerungen" sind, die Rörigs "unge-


121) Vgl. vorige Anmerkung.
122) Vgl. Rörig I, S. 27 f.
123) Vgl. Archiv II, S. 189.
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druckten vom Jahre 1912 vorausgingen" und die noch ganz von völkerrechtlichen "Vorstellungen beherrscht waren" 124 ). Von wem und wann sind diese gutachtlichen Äußerungen verfaßt? Jedenfalls können wir nur wiederholen, was wir schon oben einmal gesagt haben: Es ist ausgeschlossen, daß Hoheitsrechte, wie Lübeck sie seit Jahrhunderten vor der Strecke Priwall-Harkenbeck besessen haben will, in Vergessenheit gerieten. Und wer hätte denn je seine Rechte eifriger gewahrt als Lübeck!

Schließlich bemerken wir, daß es unseres Erachtens für die endgültige Entscheidung des Streites auf die Zustände der letzten Zeit überhaupt nicht ankommen kann. Denn eine Verjährung der mecklenburgischen Rechte ist ja unter keinen Umständen eingetreten. Mithin ist die Auffassung und das Verhalten Lübecks in der Zeit nach 1896 nur seinen Behauptungen gleichzusetzen, die es beweisen muß. Durch die Rörigschen Gutachten aber wird nichts bewiesen, weder Lübecker Hoheitshandlungen auf dem strittigen Gewässer noch die für die Beanspruchung eines Gebietes notwendigen Grenzen. Im Hinblick auf die Seegrenze hat übrigens Lübeck in seinem dem Staatsgerichtshofe eingereichten Schriftsatze vom 25. Juli 1925 unter VI behauptet, daß die Änderung der Grenzlinie der Travemünder Reede, die es durch die Bekanntmachung vom Januar 1923 vorgenommen habe, "nur eine sachlich geringfügige geographische Berichtigung" enthalte. Indessen lehrt ein Blick auf die Kartenskizze 2 bei Rörig I, daß diese Behauptung ganz unzutreffend ist. Das 1923 hinzugenommene Gebiet, das jenseit der Linie Harkenbeck-Haffkruger Feld liegt, ist ja nur etwa um ein Viertel kleiner als die ganze Travemünder Bucht.

Auch die auf dem Termin in Leipzig am 21. März d. J. übergebene Lübecker Karte mit der blaugefärbten Plate erkennen wir in keiner Weise an. Es ist über diese Karte noch Verschiedenes zu sagen, doch wollen wir uns einen Nachtrag zur Reedelage vorbehalten, bis wir den zweiten Teil der Abhandlung von Prof. Kühn über den "Geltungsbereich des oldenburgisch-lübeckischen Fischereivergleichs von 1817 und die Travemünder Reede" in Händen haben.

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124) Vgl. Rörig III, S. 50.
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Exkurs.

Zum Meeresfischereiregal in Preußen.

Über dieses Regal vgl. v. Gierke, S. 47 f., und die von ihm zitierte Abhandlung v. Brünnecks, Zur Geschichte des altpreußischen Jagd- und Fischereirechts, Zeitschr. d. Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 39, S. 120 ff. Rörig (III, S. 57, Anm. 12) ist auf diese Abhandlung und das preußische Seefischereiregal eingegangen und glaubt, auch hier wieder eine Sonderbildung feststellen zu können. Indessen liegen die Dinge doch so, daß die Zustände, die v. Brünneck für das preußische Küstengewässer nachweist, in die jetzt für die ganze deutsche Ostseeküste ermittelten Rechtsverhältnisse eingeordnet werden müssen. Wenn v. Brünneck meint, es sei daraus, daß das Privileg Kaiser Friedrichs II. für den deutschen Orden von 1226 die Landeshoheit nicht nur am Binnenlande, sondern auch am vorgelagerten Meere übertrug, "allein noch nicht die Schlußfolgerung zu ziehen", daß ein Fischereiregal im Küstengewässer entstanden sei, so ist das natürlich richtig. Denn die Übertragung der Meereshoheit beweist noch nicht die tatsächliche Ausübung eines Fischereiregals. Dieses ist erst aus den preußischen Urkunden zu folgern. Der weiteren Bemerkung v. Brünnecks aber, daß außer dem Privileg noch andere Umstände hätten hinzukommen müssen, um die Ausdehnung des landesherrlichen Binnenfischereiregals in Preußen auf die Küstengewässer "zu ermöglichen und zu rechtfertigen", nicht mehr zuzustimmen. v. Brünneck erörtert dann, daß man im Mittelalter die beiden preußischen Haffe weder als Landseen noch als eine Erweiterung der darin mündenden Flüsse betrachtet, sondern sie mit den jenseit der Nehrungen belegenen Küstengewässern "unter dem einen Begriff Meer" zusammengefaßt habe. "Innerhalb dieses weiteren Gattungsbegriffs" habe man nach der Beschaffenheit des Wassers zwischen "mare recens" und "mare salsum" unterschieden. Weil die Haffe durch das Pillauer und dem Memeler Tief mit dem Meere in Verbindung ständen, so habe es nahe gelegen, die Küstengewässer ihnen rechtlich gleichzustellen. Wichtiger aber noch als die geographische Lage der beiden Haffe "und das darin beruhende nahe Verhältnis, in dem sie sich zur Ostsee und den Küstengewässern befanden", sei ein rechtsgeschichtlicher Vorgang gewesen, der zur Zeit, als der Orden Preußen eroberte, im benachbarten Pommerellen "entweder schon vollendete Tatsache geworden war oder doch im Begriffe stand, verwirklicht zu werden". Gemeint ist das Meeresfischereiregal der Herzöge von Pom-

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merellen, das v. Br. mit einer Urkunde von 1257 belegt. Nach diesem Beispiel habe man sich in Preußen gerichtet und sich dabei auf das Privileg von 1226 berufen können. v. Br. hat aber nicht, wie Rörig meint, die Ansicht ausgesprochen, daß das Regal zunächst auf die Haffe und dann auf das Wasser davor ausgedehnt worden sei. Sondern seine Darlegungen können nur so verstanden werden, daß er glaubte, es sei das Binnenfischereiregal auf Haffe und Küstengewässer zugleich übertragen worden. Die rechtsgeschichtliche Beurteilung der Haffe durch v. Brünneck widerspricht der Ansicht Rörigs, daß die Haffe, im Gegensatze zum Meer, wie Binnengewässer behandelt seien.

Nun kommt es für unsere Zwecke nicht darauf an, seit wann das preußische Meeresfischereiregal unter noch unfertigen Verhältnissen ausgeübt sein mag, sondern nur darauf, daß es tatsächlich festzustellen ist. Die Entwicklung, mit der v. Brünneck rechnet, wäre möglich, ist aber nicht bewiesen. Es hindert nichts, anzunehmen, daß das Seefischereiregal ebenso alt ist wie das Binnenfischereiregal, so daß man nicht von diesem auszugehen braucht. Der Hauptgrund für v. Brünnecks Auffassung ist ja die Vermutung, daß der Orden das Meeresfischereiregal nach dem Muster Pommerellens ausgebildet habe. Es erklärt sich aber doch diese Vermutung daraus, daß v. Br. außer dem preußischen allein das Regal der Herzöge von Pommerellen bekannt geworden war, nicht aber der Rechtszustand an der Ostseeküste weiter westlich. Sonst würde er sicher auf diese verwiesen haben, so auch auf Pommern für den Unterschied zwischen "mare recens" und "mare salsum", der sich in pommerschen Urkunden genau so findet. Das

jetzt für die ganze deutsche Ostseeküste zusammengestellte Material läßt ja die mittelalterlichen Rechtsverhältnisse des deutschen Küstenmeeres in neuem Lichte erscheinen. An diesem Material aber redet Rörig immer vorbei, ohne es ernstlich anzupacken. Mit "Sonderbildungen" ist da nicht mehr auszukommen. Wir sind überzeugt, daß v. Brünneck, wenn er noch lebte, uns zustimmen würde; denn was er für Pommerellen und Preußen aus Urkunden über Fischereiverleihungen geschlossen hat, hätte er auch für Pommern, Mecklenburg usw. aus Urkunden gleicher Art gefolgert. - Die weiteren Ausführungen Rörigs erklären sich aus seiner Neigung, Rechtsentwicklungen aus allgemeinen Vorstellungen abzuleiten. Die Quellen widersprechen dem aber. Wie schließlich das preußische Seefischereiregal durch den Hinweis auf Caspar, Hermann von Salza, in Zweifel gezogen werden soll, wissen wir nicht. Die Darlegungen v. Gierkes über dieses Regal bleiben in jedem Punkte unerschüttert.

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Anhang.

Auf die Exkurse a-d bei Rörig III, S. 29 ff., in jedem Punkte zu erwidern, sehen wir uns nicht veranlaßt. Wir bemerken nur:

zu a) Es ist unvorsichtig, daß Rörig sich zum Beweise der Wissenschaftlichkeit seiner Gutachten auf seine "vollkommen unabhängige Stellung beiden Parteien gegenüber" beruft, zu der unsere "dienstliche Abhängigkeit" von einer der Parteien im "seltsamen Gegensatz" stehe. Denn Rörig verteidigt doch nur immerfort, was er als Lübecker Archivar behauptet hat. Eine "dienstliche Abhängigkeit" bei der Gestaltung von Archivberichten hat es in Mecklenburg selbstverständlich nie gegeben, und es liegt uns fern anzunehmen, daß es in Lübeck je anders gewesen sein könnte. - Für die Fischerei vor 1500 verweisen wir auf unsere Ausführungen in Archiv II, S. 137 ff., die Rörig noch nicht vorlagen, als er den Exkurs schrieb, und auf die er später nichts entgegnet hat (vgl. Rörig III, S. 61, Anm. 15 am Schlusse). Das Buch von Giesebrecht, Wendische Geschichten, ist zwar schon von 1843, aber noch sehr brauchbar. Leider hat Rörig nicht das richtige Zitat untersucht. Es kommt nicht auf die Note 1 bei Giesebrecht I, S. 16, sondern auf die Note 2.

zu b) Auf Rörigs Behauptung, daß wir in unserem ungedruckten Erachten von 1923 "oberflächlich" geurteilt hätten, entgegnen wir, daß das Erachten zwar ergänzt und vertieft werden konnte, sich aber in den wesentlichen Punkten bewährt hat. Der Aufsatz von Techen über das Strandrecht an der mecklenburgischen Küste, Hans, Geschbl. 12 (1906), ist nach seinem Erscheinen unserem Archiv nicht unbekannt geblieben, wie die Besprechung im Jahrbuche für mecklenburgische Geschichte 72, Jahresbericht, S. 19 f. beweist. Wir haben uns der Arbeit 1923 bedauerlicherweise nicht erinnert. Aber das Dogma, daß man keine Literatur übersehen dürfe, gilt immer nur solange, bis der Dogmatiker selber einmal dagegen verstößt. Da Rörig sich auf den Aufsatz besonders beruft, so hätte er auch wohl erwähnen können, daß Techen zwar für die Zeit bis zum Ende des 15. Jahrhunderts allen gedruckten Quellenstoff benutzt hat, für die spätere Zeit aber, wie er ausdrücklich

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feststellt (S. 291), nur die Akten des Wismarer Ratsarchivs über die Strandungsverhältnisse in der Wismarer Bucht. Er konnte und wollte also für die Zeit nach 1500 nur einen Ausschnitt geben. Die Hauptakten für die ganze mecklenburgische Küste liegen in Schwerin, und sie schaffen über das Strandrecht in mancher Hinsicht erst Klarheit.

zu c am Ende) Die Wismarer Zeugenaussage von 1597 (Archiv II, Anlage I, S. 194, Zeuge 6): "Außer dem großen Bohme heiße es uf der Reide oder im Tiefe" ist wohl nicht so zu verstehen, als ob der Zeuge "das Wismarer Tief selbst eine Reede" habe nennen wollen, sondern er wollte wahrscheinlich sagen, außerhalb des Hafenbaums komme zunächst die Reede, dann das Tief. Der Ausdruck "Reede" erscheint hier ja ganz vereinzelt; die übrigen Zeugen sprachen nur vom Wismarer Hafen und Tief, und manche unterschieden ausdrücklich zwischen beiden. Im übrigen kommt es auf solche Benennungen nicht an. Und wenn der Zeuge 10 meinte, ein Hafen sei dort, wo man Schiff und Gut bergen könne, wie es im Wismarer Tief möglich sei, und dann hinzufügte: Vor Lübeck und Rostock heiße es eine Reede, so ist es doch ganz ausgeschlossen, in solchen Bezeichnungen, die eben nichts sind als Namen für Wasserflächen, auf denen man ankerte oder ankern konnte, einen Beweis für gebietsrechtliche Sonderbildungen zu erblicken. Auch erklärte der Zeuge 4 (Archiv II, S. 197), wenn die Schiffe sich vor anderen Städten außerhalb des Hafenbaumes befänden, so sage man, "daß sie in der See liegen".

zu d) Rörig hat behauptet, daß die Seestädte am landesherrlichen Strande Mecklenburgs bis ins 16. Jahrhundert eine Art von Herrschaft ausgeübt hätten, und erklärt dies mit dem politischen Übergewicht der Städte über die Territorien während des ganzen Mittelalters. Dem gegenüber haben wir auf die starke Stellung der Herzöge im 14. und in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hingewiesen, die eine anerkannte geschichtliche Tatsache ist und sich auch im Verhältnisse zu den Städten geltend machte. Hierüber kann man sich aber nicht aus der Rörig in die Hände geratenen Geschichtlichen (d. h. rechtsgeschichtlichen) Übersicht unterrichten, die Böhlau seinem Mecklenburgischen Landrecht (I, 1871) vorangestellt hat. Diese Übersicht ist ohnehin zu einem guten Teil veraltet. Es hat mit dem herzoglichen Strande nicht das Geringste zu tun, daß Rostock sich im Verhältnisse zu anderen Territorialstädten innerhalb seines eigenen Gebietes großer Selbständigkeit erfreute, kraft seiner immer wieder von ihm betonten landesherrlichen Privilegien. Diese hat Herzog Albrecht II.

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1358 durch den Verkauf der hohen Gerichtsbarkeit gekrönt. Daß aber Albrecht II. stärker war als Rostock, mag ja wohl auch Rörig nicht bestreiten wollen. Innere Selbständigkeit einer Stadt ist überhaupt noch kein Beweis für politische Macht. Und trotz seinen Vorrechten ist Rostock, ebenso wie Wismar, stets eine erbuntertänige Stadt geblieben, hat dies auch selber nie geleugnet. - Wegen der Enthauptung des Schwaaner Vogtes schließlich hätte Rörig sich mit unserer Anmerkung 96 in Archiv II (S. 59) auseinandersetzen sollen, nicht aber uns auf Koppmanns Geschichte der Stadt Rostock verweisen dürfen, die wir in der Anmerkung selbst und auch sonst mehrfach zitiert haben. Wir haben die Strand-These Rörigs überdies im einzelnen widerlegt. Sie kann in keiner Weise mehr in Betracht kommen, wenn sich auch Rörig (III , S. 121, Anm. 114) noch darauf berufen will.

 

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III.

Die Lage
der Travemünder Reede

 

von

 

Werner Strecker.

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Erwiderung des Mecklenburg=Schwerinschen Geheimen und Haupt = Archivs auf das Erachten Prof. Dr. Rörigs vom 20. April 1927:
"Die endgiltige Lösung des Reedeproblems." * )

5. Archivgutachten vom 26. September 1927 für das Mecklenburg=Schwerinsche Ministerium des Innern.



*) Dieses Erachten Rörigs wird in der Zeitschrift für lübeckische Geschichte veröffentlicht werden.
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Inhalt.

  1. Die neuen Quellen über die Reedelage von 1784-1801
    Die neuen Quellen. Kartenbeilage 3 zu Rörig IV (Hagensche Karte) S. 73 - 74. Berechnung des Lübecker Fadenmaßes und der 1784 genannten Entfernungen zwischen Bollwerk und Reede, S. 74 - 76. Besprechung der Hagenschen Karte, S. 76 - 79. Anwendung der Quellen von 1784 und 1801 auf die französische Seekarte von 1811 und die dänische von 1860, S. 79 - 80. Desgl. auf die neueste Admiralitätskarte (siehe Kartenbeilage), S. 80 - 82. Streitfall von 1784 S. 82 - 85. Quellen von 1792 und 1731, S. 85 bis 86. Angaben der französischen Karte, Punkt B der Sahnschen Skizze von 1823, S. 87 bis 88. "Reedekopf", Wohlersche Karten, S. 88 bis 89. Anweisungen von 1855 und 1875, S. 90 bis 91. Angaben der heutigen Lübecker Sachverständigen, S. 91 - 94. Ankergrund der inneren Bucht, S. 94 f. Wismarer Reede, S. 95. Mecklenburgische Verordnung von 1925, S. 96. Keine Reede bei Rosenhagen, S. 96 f. Angebliche "Platenreede", S. 97. Irrtümliche Meinung Rörigs über die Lage der Leichterreede, S. 98 f. Quarantänereede S. 99. Ballastordnung von 1787, S. 100. Eigentliche Reede und Reede im geographisch-nautischen Sinne, S. 101 - 104.
  2. Die Quellen der Akten über Fischereistreitigkeiten
    Fall von 1823, Außenreede, S. 105 - 109. Raumbegriffe im Prozeß von 1823-1825, Begriff der nautischen Reede in der Aussage von 1547 und im Fischereivergleich von 1610, S. 109 bis 114. "Binnen de Reide" und "buten de Reide", S. 114. Aus der Bezeichnung "Reede" keine Gebietshoheit ableitbar, S. 114 f. Punkt A der Sahnschen Kartenskizze von 1823, S. 115 f. Die beiden "Gruppen" unserer Einwendungen gegen Rörigs Beweisführung. S. 116 - 118.

Exkurs. Zur Beurteilung der älteren Seekartenwerke

Nachtrag

Beilage. (Skizze zur Lage der Travemünder Reede um 1800.)

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I. Die neuen Quellen über die Reedelage
von 1784-1801.

In dem neuesten Erachten Prof. Dr. Rörigs vom 20. April 1927 (Nochmals Mecklenburger Küstengewässer und Travemünder Reede. Teil IV. Die endgiltige Lösung des Reedeproblems. Zitiert im Folgenden: Rörig IV) werden für die Reedelage wichtige Quellen aus der Zeit von 1784-1801 vorgebracht. Sie bestehen

  1. in den Akten über den Fall des englischen Kohlenschiffes von 1784, zumal dem damals von der Frau des Lotsenkommandeurs Scharpenberg erstatteten Bericht, worin die Entfernung der Reede vom Bollwerk in Kabeltau- und Faden-Längen angegeben wird 1 ),
  2. in den Kartenskizzen und Mitteilungen des Lotsenkommandeurs Wohlers von 1788 und 1801, woraus sich Fadentiefen der Reede ergeben 2 ).

Schwerlich wird ein Leser des Erachtens den Eindruck gewinnen, als ob dieses Material zu den bisherigen Behauptungen Rörigs über die Reedelage stimme. Selbst wenn man die von Rörig vorgenommene Umrechnung der Fadenmaße in Meter und die danach auf der Karteibeilage 3 des Erachtens von Herrn Stabsingenieur Hagen bestimmten Reedelinien gutheißen wollte - was unter gar keinen Umständen möglich ist - , so würde man doch einräumen müssen, daß hier von einer Reede vor Rosenhagen oder auch nur annähernd in der Höhe dieses Dorfes schlechterdings nicht mehr gesprochen werden kann, sondern daß der Ankerplatz im westlichen Teile der Travemünder Bucht und fast vollkommen außerhalb des mecklenburgischen Gewässers liegt. Es handelt sich hier nicht, wie Rörig meint, um "subtile Verfeinerungen" der Kartenskizze 2 seines ersten Erachtens, sondern um einen vollkommenen Umsturz dessen, was aus dieser Kartenskizze zu entnehmen war.


1) Rörig IV, S. 36 ff.
2) Rörig IV, S. 31 ff. und Kartenbeilagen 1 und 2. Eine Kartenskizze Wohlers von 1787 wird nicht mit vorgelegt.
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Wir sehen auf der neuen Kartenbeilage 3, die wir in Zukunft die Hagensche Karte nennen wollen 3 ), den Verlauf der Majorlinie im Jahre 1810 eingetragen und parallel zu ihr zwei kurze Striche, die das 1784 in dem Scharpenbergischen Bericht bezeichnete Reedegebiet begrenzen sollen. Ferner finden wir auf der äußeren Grenzlinie drei Anker; sie sollen den Angaben und Karten des Lotsenkommandeurs Wohler entsprechen.

Auf die genannten Grenzstriche und auf die Ankerlage kommt es an. Alles andere ist Nebensache. Nach den Abgrenzungen auf der Hagenschen Karte liegt die Reede um die Majorlinie herum, der Grenzstrich seewärts mit den Ankern gut 300 m dahinter. Es würde hierin, wenn man die Reedelage an sich, ohne Berücksichtigung der Majorlinie, betrachtet, für die Zeit um 1800 nicht einmal ein so wesentlicher Unterschied zu unseren Berechnungen in Archiv III zu erblicken sein, wie Rörig meint, doch müssen wir die Karte berichtigen. Dazu bedarf es einer Betrachtung der Quellen, auf denen sie hier beruht. Und weil es sich in diesen Quellen um Maßangaben nach Faden handelt, so muß zunächst die Länge des Fadens noch einmal festgestellt werden.

Nach Rörig (IV, S. 39) betrug der in Lübeck bei Seemessungen benutzte Fuß, wie aus Umrechnungen von 1875 hervorgehe, 0,2876 m 4 ). Es sei also der Lübecker Fuß. Damit wird zugegeben, daß wir diesen in Archiv III, S. 18 genau richtig berechnet haben (0,28762 m). Und weil der Faden nun einmal 6 Fuß lang ist, so hätten wir eigentlich das weitere Zugeständnis erwarten können, daß die von uns ermittelte Länge des Lübecker Fadens (1,72572 m) ebenfalls richtig und überhaupt allein möglich ist. Statt dessen erklärt Rörig, sie sei "durchweg falsch". Er beruft sich auf die Angabe des Lotsenkommandeurs Wohler von 1801, wonach die Tiefe auf der Reede, "wo die Schiffe gewöhnlich ankern" , "beinahe 5 Faden oder 30 Fuß" betrage. Hier würden - so behauptet Rörig - "30 Fuß nicht etwa 5 Faden gleichgesetzt", sondern sie seien "beinahe 5 Faden". Also sei der Faden etwas größer als sechs Fuß. Indessen ist es doch ganz selbstverständlich, daß die Einschränkung "beinahe" sich auf beide Größen bezieht und daß Wohler die 5 Faden den 30 Fuß gleichsetzte, indem er die Fadenlänge noch einmal in dem gewöhnlichen Grundmaß, nämlich dem Fuß, ausdrückte. Ebenso würden wir heute sagen: 5 preußische Faden oder 9,41 m. Demgemäß hat denn auch Wohler auf seiner Kartenskizze von 1788 eine Tiefe von 5 Faden dort angegeben, wo auf seiner Karte von 1801 30 Fuß stehen. Er wollte also sagen:


3) Über sie vgl. die Bemerkungen bei Rörig IV, Anl. 4.
4) In unserer Abschrift des Erachtens steht versehentlich 2,876.
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Die Tiefen betragen nicht ganz 5 Faden. Übrigens war es auch nicht gut möglich, daß die Schiffe überall genau auf 30 Fuß oder 5 Faden Wasser ankerten; denn die Tiefen wechseln in der fraglichen Buchtgegend schnell.

Weil wir ja wissen, daß man in Lübeck bei Seemessungen den Lübecker Fuß und also auch den Lübecker Faden zugrunde legte, so kann kein anderer Faden in Betracht kommen, auch nicht der englische. Rörig nimmt nun "die mindest mögliche Fadengröße" zu 1,80 m an und begründet dies damit, daß Wohler nebenher auch in Klaftern gerechnet habe und daß man dieses alte Naturmaß mit 1,80 m wiedergebe. Aber Klafter ist nur ein anderer Ausdruck für Faden, und Abrundungen wie die des Klafters auf 1,80 m konnten erst entstehen und sind auch erst entstanden, seit man die alten Längenmaße mit dem Meter und dem Dezimalsystem in Einklang zu bringen suchte. Vorher rechnete man nach Zoll, Fuß, Ellen, Faden (Klafter). Es ist natürlich unmöglich, daß man diese Maße mit dem Meter in Verbindung brachte, das es, als Wohler seine Karte von 1788 zeichnete, überhaupt noch nicht gab und das noch sehr lange in Lübeck gar nicht verwendet wurde. Es wäre dies gerade so, als ob wir unsere heutigen Maßeinheiten nach einem unbekannten oder ungebräuchlichen System abrunden wollten. 1,80 m sind für uns heute ein Begriff, für den Lotsenkommandeur Wohler war es keiner. Der lübische Faden betrug also 6 Fuß = 1,72572 m. Daran ist festzuhalten 5 ).


5) Rörig (IV, S. 40 Anm. 56) meint, daß ein Faden von 1,80 m für die Angaben der niederländischen und schwedischen Seebücher vermutlich noch zu klein sei. Nach welchem Faden rechnete denn aber Waghenaer in seinem Seekartenwerk? Daß er überall selber gemessen hat, ist doch ganz ausgeschlossen. Er wird sich im wesentlichen an Mitteilungen gehalten haben, die man ihm machte. Und daß seine doch nur sehr ungenauen Einzeichnungen der Wassertiefen überall nach demselben Faden berechnet sind. ist gar nicht anzunehmen (vgl. Archiv III, S. 18, Anm. 57). Auch Peter Geddas Karte der Lübecker Bucht beruht zweifellos nicht auf eigenen Messungen. Er wird die Fadentiefen angegeben haben, die man ihm in Travemünde nannte. Wenn er selber maß, kamen ganz andere Karten zustande, so die Karte der Wismarer Reede in seinem Atlas und die Karte der Wismarischen Gründe und Einfahrt von 1694 (abgeb. Mitt. d. Meckl. Geologischen Landesanstalt XV, 1903), die beide sehr wohlgelungen sind, Die Fadenlänge aber, nach der er rechnete, läßt sich aus ihnen nicht ermitteln, wenn es auch z. B. auffällt, daß er in der Mitte der Wohlenberger Wiek Tiefen von 6, 6 1/2, ja 7 Faden angibt, während die Admiralitätskarte von 1873 hier über 9 m nicht hinauskommt. Das Wahrscheinlichste ist jedenfalls, daß Gedda (und auch sein Vorgänger Månsson) bei eigenen Messungen den schwedischen Faden gebraucht hat. Dieser ist 6 schwedische Fuß lang. Der schwedische Fuß beträgt 131,6 Pariser Linien, der Faden also 1,781 m, noch nicht 6 cm mehr als der Lübecker.
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Wenden wir uns nun zunächst der Quelle von 1784 zu. Es berichtete damals die Frau des Lotsenkommandeurs Scharpenberg, daß "alle Schiffe" 5-6 Kabellängen vom Bollwerk lägen, "wo alldorten die Rehde heißt", und daß eine Kabeltau-Länge 130, 140 Faden betrage. Auch hier können nur Lübecker Faden gemeint sein, umsomehr, als die Länge eines Kabeltaus sonst nur zu 120 Klaftern gerechnet wurde 6 ). Die geringste Entfernung vom Norderbollwerk 7 ) betrug also 650 Faden = 1121,7 m (rund 1120 m), die größte 840 Faden = 1449,6 m (rund 1450 m). Statt der 840 Faden setzt Rörig (IV, S. 42) 900 an, aber zu dieser Vergrößerung besteht nicht der geringste Anlaß; ebenso gut könnte man nach unten, auf 800, abrunden. Rörig kommt so, da er ja einen Faden von 1,80 m annimmt, auf 1620 m als größte Entfernung vom Norderbollwerk; die kleinste beträgt nach ihm 1170 m 8 ). Dem stellen wir die soeben von uns errechneten Abstände vom Bollwerk (1120 und 1450 m) entgegen.

Nun liegen auf der Hagenschen Karte (Kartenbeilage 3 bei Rörig IV) beide Reedegrenzstriche so gut wie ganz im festen Sektor des heutigen Leuchtfeuers. Diese Lage der Reede entspricht den Angaben des Travemünder Lotsenkommandeurs und des Lübecker Hafenkapitäns vom Januar und Februar 1927 9 ). Wenn auch diese Sachverständigen als Reedegebiet nur den Teil des Sektors bezeichnen, der jenseit der 10-m-Tiefengrenze liegt 10 ), so wird doch auch dieseit dieser Grenze, wo die Reede nach den Quellen von 1784-1801 zu suchen ist, das tiefste Wasser von den Lichtstrahlen des Sektors umfaßt. Man wird also annehmen dürfen, daß auch die Reede um 1800 im wesentlichen innerhalb des jetzigen Leuchtfeuersektors lag. Nur für dieses Gebiet passen auch die Angaben der Kartenskizze von 1773 (Archiv III, S. 31 ff.), abgesehen von den 4-Faden-Tiefen, die ja am weitesten travewärts liegen und noch etwas über den Sektor hinausgehen. Sogar bei 1450 m vom Norderbollwerk, also der größten 1784 genannten


6) Vgl. z. B. Krünitz, Ökonomische Enzyklopädie (1784). unter Kabel.
7) Daß nicht das Süderbollwerk gemeint ist, versteht sich von selbst.
8) Warum er nebenbei die kleinste Entfernung noch nach einer gar nicht genannten Kabellänge von 150 Faden ausrechnet, wissen wir nicht. In Klammern schiebt er außerdem noch die Entfernungen von 1188 und 1646 m ein, die nach dem englischen Faden berechnet sind, der aber nicht in Frage kommt.
9) Rörig IV, Anl. 2, zu 3 und 6, Anl. 3, zu 2 und 4.
10) Die Bemerkung des Hafenkapitäns, daß "für kleinere Schiffe bei ablandigem Wind wohl auch noch die Mecklenburger, von Steinen reine Seite bis zur 10 m Tiefengrenze" (also noch außerhalb des Sektors) in Betracht komme, interessiert hier nicht, weil diese Gegend nach den Quellen von 1784-1801 ausscheidet.
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Entfernung, kommt man auf der Admiralitätskarte außerhalb des Sektors nicht mehr auf 5 Faden, wo doch die Schiffe nach dem Zeugnisse des Lotsenkommandeurs Wohler ungefähr ankerten 11 ).

Innerhalb des Sektors wird die Reede auf der Hagenschen Karte im Nordwesten begrenzt durch eine Peillinie Badehaus-Kirchturm Travemünde, die nach Rörig (IV, S. 50) 1875 als Nordgrenze des Ankergrundes genannt wird. Für die frühere Zeit ist eine entsprechende Linie nicht nachgewiesen. Zwar findet sich auf der Hagenschen Karte das Gebiet westlich von der Linie als "der Steingrund" bezeichnet, und es wird durch die hinzugefügten Jahreszahlen 1784 und 1836 auf Quellen für diese Benennung verwiesen. Aber 1784 wird nur angegeben, daß ein Schiff nordwärts dem steinigen Grunde zu nahe gelegt worden sei 12 ). Und wenn es 1836 heißt, daß er als "Hoher Zug" bezeichnete Fischereizug "an der rechten Seite von dem Steingrund" begrenzt werde 13 ), so ist damit nicht gesagt, daß der "Steingrund" bis an die heutige Linie Badehaus-Kirchturm gerechnet wurde. Die Seekarten jedenfalls verzeichnen hier noch keinen steinigen Grund. Nach ihnen endet das Steinriff eine kleine Strecke südlich vom Möwenstein 14 ). Es kommt jedoch auf die Linie Badehaus-Kirchturm wenig an.

Nicht zu billigen ist, daß auf der Hagenschen Karte die Entfernungen der Reedestriche vom Bollwerk - die, wie wir sahen, überhaupt berichtigt werden müssen - auf dem Lot abgetragen sind, das vom Bollwerk auf die Majorlinie gefällt ist. Dieses Lot liegt außerhalb des Leuchtfeuersektors, der überdies auf der Hagenschen Karte nicht ganz richtig liegt und etwas nach Nord-


11) Auf der Seekarte des dänischen Marineleutnants Schultz von 1860 würde man außerhalb des Sektors (wenn man diesen in die Karte hineinverlegt) bei 1450 m Abstand vom Bollwerk noch gerade eine Tiefenzahl von 4 dänischen Faden 4 Fuß (8,78 m) berühren, die sich dicht neben dem Sektor findet.
12) Rörig IV, S. 50.
13) Rörig IV, S. 37, Anm. 52.
14) Auf der französischen Seekarte von 1811 ist der Grund des Steinriffes sehr häufig mit Pi (Pierres) bezeichnet. Es hören jedoch diese Bezeichnungen 1250 m nördlich vom Norderbollwerk auf. Die neueste Admiralilätskarte vermerkt St. (Stein) zuletzt an einer Stelle, die fast gegenüber dem Möwenstein liegt und 1500 m vom Norderbollwerk entfernt ist. Auf der Sonderkarte der Traveeinfahrt, die sich auf der Admiralitätskarte findet, wird 1100 m nördlich vom Norderbollwerk und 300 m vor der westlichen Buchtküste gr. Sd. Stg. (grauer Sand, Seetang) angegeben, aber nirgends steiniger Grund (siehe unsere Kartenbeilage). Und auch auf der Kartenskizze des Lotsenkommandeurs Wohler von 1788 (Kartenbeilage 1 zu Rörig IV) endet das durch kleine Kreuze gekennzeichnete Steinriff in der Gegend der alten Schanze, die nahe beim Möwenstein lag.
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weste verschoben werden müßte. Die abgemessenen Entfernungen stimmen also überhaupt nicht mehr für das Gebiet innerhalb des Sektors. Wenn auch der bis zur Majorlinie reichende sogenannte "Hohe Zug" südlich durch eine "gerade auf das Norderbollwerk gezogene Linie" begrenzt wird 15 ), so darf doch eine solche Fischereischeide nicht einfach für die nautische Reede übernommen werden. Man kann daher die Reedelage nur so bestimmen, daß man von der Spitze des Norderbollwerks aus Kreisbögen mit den Radien der 1784 genannten Abstände (1120 und 1450 m) durch den Sektor des Leuchtfeuers schlägt.

Wir kommen schließlich auf die Tiefenzahlen der Hagenschen Karte und die danach bestimmte Lage der drei Anker, die den auf der Wohlerschen Karte von 1801 vorgefundenen Schiffen entsprechen sollen. Die Tiefenzahlen sind für das fragliche Gebiet aus der französischen Seekarte von 1811 entnommen, weiter draußen sind auch noch Tiefenangaben der neuesten Admiralitätskarte in Klammern hinzugefügt. Mit der Übernahme von Tiefen der französischen Karte können wir uns aber nicht befreunden 16 ). Auf dieser Karte sind es vom Leuchtturm bis zu den Tiefen von 26 französischen Fuß (8,66 m), die 5 Lübecker Faden (8,63 m) entsprechen, gut 1900 bis etwa 2050 m. Auf der Admiralitätskarte aber kommt man bei 1900 m Entfernung vom Leuchtfeuer zwar auch nur auf etwa 8,8 m, bei 2050 m Abstand aber schon fast auf den westlichen Teil der 10-m-Tiefengrenze 17 ), und etwas weiter seewärts ist das Wasser schon 10,9 m tief, während die französische Karte die dem Leuchtturm am nächsten gelegene Tiefenzahl 30 (= 10 m) in 2300 m Abstand vom Turme vermerkt. Es wird


15) Rörig IV, S. 37, Anm. 52.
16) Beiläufig sei erwähnt, daß es statt 9,5 m (an der Majorlinie, gegenüber dem Zollhause) heißen muß 6,30 m (19 französ. Fuß, deren 3 auf ein Meter gehen). Statt 8,3 vor dem mittleren Anker wird man 8,6 (26 Fuß) setzen müssen, vgl. die Abbildung der Karte bei Rörig III, Kartenbeilage 2 a, wo die entsprechenden Tiefen gleich hinter dem Punkte (a) zu finden sind. Man übersieht ferner nicht, wie die Tiefe von 9,2 (beim nördlichsten Anker) und weiter draußen Tiefen wie 12,2 oder 14,5 bestimmt sind, weil die französische Karte hier nur volle Fußzahlen angibt, so daß man bei der Umrechnung in Meter immer nur auf Dezimalbrüche von 0,3 und 0,6 (genauer 0,33 und 0,66) kommen kann. Schließlich ist der Abstand der Tiefenzahlen vom Leuchtturm auf der französischen Karte vielfach etwas größer, so daß die Zahlen hier weiter seewärts stehen als auf der Hagenschen Karte. Der Leuchtturm liegt auf dem Original recht genau, so daß man ihn gut als Bestimmungspunkt verwenden kann.
17) Ebenso ist auf der französischen Karte eine noch etwas weiter östlich stehende Tiefenzahl von 26 Fuß dort eingetragen, wo die Admiralitätskarte 9,9 m verzeichnet.
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dies auch auf der Hagenschen Karte deutlich. Auf ihr ist die 10-m-Tiefenlinie eingetragen, allerdings nicht ganz richtig, weil sie etwas zu weit an die mecklenburgische Küste herangezogen ist. Am Rande der Linie finden sich die beiden aus der Admiralitätskarte entnommenen Tiefenzahlen 10,9. Jenseit dieser Tiefen aber, die doch schon fast 11 m betragen, stehen Tiefen von 9,9, die aus der französischen Karte stammen 18 ). Sie stehen also an Stellen, wo das Wasser unzweifelhaft viel tiefer ist als 10 m.

Und während auf der Hagenschen Karte die Tiefenzahlen 8,3 (besser 8,6) 19 ) und 8,6, die vor den Ankern eingefügt sind und wohl für die Stelle der Ankerspitzen gelten sollen, etwa 1970 m vom Leuchtturme abliegen, sind entsprechende Tiefen von 8,7 und 8,6 m auf der Admiralitätskarte 20 ) nur 1640-1670 m vom Leuchtturm entfernt. Auch verzeichnet die Hagensche Karte die Ansegelungstonne Lübeck 1 dicht hinter der Tiefe von 8,6 m; auf der Admiralitätskarte aber liegt sie viel weiter seewärts.

Wie sind diese doch nicht bedeutungslosen Unstimmigkeiten zu erklären? Tiefer kann das Buchtgewässer seit dem Ursprungsjahre der französischen Karte nicht geworden sein, eher flacher 21 ). Die Erklärung ist nur darin zu finden, daß die französische Karte, wenn sie auch für ihre Zeit gewiß ein Meisterwerk war, nicht genau ist. Wenn man daher ihre Tiefenangaben in das Meßtischblatt hineinkonstruiert, wie es auf der Hagenschen Karte geschehen ist, so muß das zu Irrtümern führen.

Wollte man die Reedelage auf der französischen Karte mit Hilfe der Quellen von 1784-1801 bestimmen, so müßte man die Originalkarte selbst zugrunde legen. Erinnern wir uns, daß nach der Angabe des Lotsenkommandeurs Wohler von 1801 die Tiefen, wo die Schiffe gewöhnlich ankerten, beinahe 5 Faden, also nicht ganz 8,63 m betrugen. Auf der Skizze Wohlers von 1788 liegt das eingezeichnete Schiff bei 4 1/2 bis 5 Lübecker Faden (7,76-8,63 m). Dies wäre in Einklang zu bringen mit der Kartenskizze von 1773. auf der die Worte "Reede vor Travemünde oder Lübeck" zwischen den Tiefenlinien von 4 und 5 Faden stehen 22 ). Schlägt man nun auf der französischen Karte vom Norderbollwerk aus Kreisbögen in den 1784 genannten Entfernungen von 1120 und 1450 m, so kommt man bei 1120 m zwar


18) Es sind wohl die beiden Tiefenzahlen von 30 Fuß, die auf der französischen Karte allerdings noch etwas weiter vom Leuchtturm abliegen. Eigentlich also 10 m.
19) Vgl. oben Anm. 16.
20) Sonderkarte der Traveeinfahrt, siehe unsere Kartenbeilage.
21) Vgl. Archiv III, S. 39.
22) Archiv III, S. 31.
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im westlichen Buchtteil über eine Tiefenzahl von 20 französischen Fuß hinaus, erreicht aber nicht die Zahlen 23 und 24, d. h. man kommt wohl noch nicht auf 4 1/2 Faden (etwas über 23 franz. Fuß). Bei 1450 m Entfernung jedoch überschreitet man den Auslauf der Tiefenlinie von 25 Fuß (8,33 m), die noch ein Stück über die Majorlinie vorragt, überschreitet an einer Stelle auch fast eine Tiefenzahl von 25, die unmittelbar an der Majorlinie steht. Über die Majorlinie selbst kommt man im heutigen Sektorgebiet teils gar nicht, teils nur wenig und nirgends mehr als etwa 150 m hinweg. Würde man sich also nach der französischen Karte richten - unter der freilich nicht zutreffenden Voraussetzung, daß ihre Tiefenangaben genau seien - so wären die von Wohler angegebenen Tiefen etwa = 25 französischen Fuß, und dann wäre auch die Reede an der Majorlinie so gut wie zu Ende. Die Tiefenzahlen von 26 Fuß liegen 150 -300 m weiter seewärts als die Tiefenzahl 25, was allerdings nicht ausschließen würde, daß das Wasser auch schon etwas näher bei der Majorlinie, wo keine Zahlen stehen, 26 Fuß tief ist.

Nun könnte man etwa die Seekarte der Neustädter Bucht zugrunde legen, die der dänische Marineleutnant J. P. Schultz 1860 vermessen hat. Sie gibt die Wassertiefen in dänischen Faden und Fuß an und bezeichnet die Tiefengrenzen von 1 bis 10 Faden durch Linien. Schlägt man vom Norderbollwerk aus, das zwar nicht abgebildet ist, dessen Länge man aber aus der Admiralitätskarte (nach der Entfernung der Bollwerkspitze vom Leuchtturme) auf den Maßstab der dänischen Karte übertragen kann, einen Kreisbogen mit dem Radius von 1120 m, so kommt man über die 4-Faden-Linie (7,53 m) eine Strecke hinweg. Mit dem Radius von 1450 m durchschneidet der Bogen schon die erste Zahl einer Tiefe von 4 Faden 4 Fuß (8,79 m) und erreicht fast die 5-Faden-Linie, von der er nur 80 bis höchstens 300 dänische Ellen (50 bis 188 m) abbleibt 23 ). 5 dänische Faden sind aber bereits 9,41 m, also rund 0,80 m mehr als 5 Lübecker Faden. Und zwar kommt man auf die genannten Tiefen im Sektor des Leuchtfeuers, wenn man diesen in die Karte hineinverlegt, und südöstlich von der Linie Badehaus-Kirchturm Travemünde, die man natürlich ebenfalls konstruieren kann.

Aber wir wollen uns nach der genauesten Karte richten, die zur Verfügung steht. Dies ist die jüngste deutsche Admiralitäts-


23) Der Maßstab der Karte gilt für dänische Ellen. 1 Elle = 0,628 m; 1 m = 1,592 Ellen. 1120 m also =- 1783 dänischen Ellen, 1450 m = 2308 Ellen.
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karte 24 ), und zwar die auf ihr enthaltene Sonderkarte der Einfahrt nach Travemünde. Nach ihr ist unsere beigefügte Kartenskizze hergestellt worden 25 ). Es ist eine Pausenskizze mit den Küstenlinien, soweit sie sich auf der Sonderkarte finden. Übernommen sind ein Teil der Tiefenzahlen, der Leuchtfeuersektor und die heutige Ansegelungstonne Lübeck 1. Innerhalb des Leuchtfeuersektors liegen die Kreisbögen, die vom Norderbollwerk aus in den bekannten Abständen von 1120 und 1450 m geschlagen sind, und es ist das so ermittelte Gebiet durch fette Linien umrandet. Ferner sind in die Skizze hineinkonstruiert die Staatsgrenze am Priwall, der Möwenstein, die Peillinie Badehaus-Kirchturm Travemünde, die Majorlinie in ihrem Verlaufe von 1801, also dem Jahre der Angaben und der jüngsten Karte des Lotsenkommandeurs Wohler, sowie in ihrem Verlauf von 1748, dem Jahre des Scharpenbergischen Berichtes 26 ), schließlich - durch eingeklammerte Kreise bezeichnet - die am weitesten seewärts gelegenen Ansegelungstonnen (rote und schwarze Tonne) der Admiralitätskarte von 1873. Diesseit der Majorlinie sind drei Tiefenzahlen von 8,6 und 8,7 m unterstrichen. Es sind die Tiefen, die 5 Lübecker Faden (8,63 m) entsprechen. Die mittlere dieser Tiefen steht am Rande des Fahrwassers 27 ), könnte also an sich eine Baggertiefe sein; da sie aber im Zuge der 5-Faden-Tiefen liegt, so wird sichs um eine natürliche Tiefe handeln. Weiter nach Nordwesten, nach dem Brodtener Ufer zu, wird das Wasser tiefer. Es steht hier schon eine Zahl von 9,1 und zwischen dieser und der Zahl 8,4 wird sich die 5-Faden-Linie fortsetzen. Weiter westlich finden sich dann geringere Tiefen.

Lagen nun die Schiffe 1801, wie der Lotsenkommandeur Wohler angab, auf beinahe 5 Faden, so müssen sie innerhalb der

P. Friedrich (Lübecker Blätter 1901, S. 68) hat den jährlichen Rückgang des Ufers durchschnittlich auf 1,2 m berechnet. Vgl. auch Benick, Lübecker Heimatbuch 1926, S. 14: ".. nach den Erfahrungen der letzten 90 Jahre jährlich mindestens 1,2 Meter." Seit 1901 waren es jährlich im Durchschnitt 0,85 m.


24) Nr. 37, neue Ausgabe von 1925.
25) Angefertigt auf dem Landesvermessungsamte in Schwerin.
26) Die Majorlinien sind auf unserer Skizze so konstruiert, daß sie dieselbe Richtung haben wie die Linie auf der Hagenschen Karte, aber 10 m (für 1801) und 30 m (für 1784) weiter seewärts liegen. Auf der Hagenschen Karte ist der Verlauf der Linie im Jahre 1810 eingetragen, gemäß der vom Lübecker Katasteramt hergestellten Aufnahme des Landverlustes am Brodtener Ufer. 10 m sind als Uferschwund für die Jahre von 1801-1810 anzusetzen, weitere 20 m für die Zeit von 1784-1801.
27) Mitten durch die zwischen den Tonnen verlaufende Fahrstraße führt heute die Linie der Priwallfeuer (Feuer in Linie) zur Bezeichnung des Fahrwassers.
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Majorlinie geankert haben, im Schutze des Brodtener Ufers. Fast das ganze nach der Quelle von 1784 zu konstruierende Reedegebiet liegt diesseit der Majorlinie. Nimmt man das Mittel der 1784 angegebenen Entfernungen (1285 m), so kommt man weder auf unserer noch auf der Hagenschen Karte über die Linie hinaus.

Noch 1849 sind die Schiffe von den Lotsen zum mindesten dicht an der Linie verankert worden, die vom Gömnitzer Turm, der jetzt die Stelle des Majors vertrat, am Brodtener Ufer vorbeilief, wahrscheinlich auf der Linie selbst 28 ). Es wird sich um den Liegeplatz für die größeren Schiffe handeln; denn daß man kleinere Fahrzeuge noch weiter buchteinwärts brachte, ist nach unserer Kartenskizze anzunehmen. In jedem Falle ist es durchaus verständlich, daß 1828 der Lotsenkommandeur Harmsen die Majorlinie als eine Grenze zwischen Reede und See betrachtete 29 ). Ferner ist klar, daß wir auf unserer Kartenskizze in Archiv II die Lage der alten Reede im wesentlichen richtig eingetragen haben, wenn man den vormaligen Verlauf der Majorlinie berücksichtigt.

Unsere neue Karte ergibt, daß die Reede völlig außerhalb des mecklenburgischen Gewässers lag. Selbst wenn man den äußeren Kreisbogen nach der mecklenburgischen Küste zu über den Sektor hinaus verlängern wollte, so würde man eine von der Priwallgrenze nach Norden gerichtete Linie nur unwesentlich überschneiden und jedenfalls nicht mehr in einer Gegend, die für die Reede noch in Betracht gekommen wäre.

Und nun können wir die alten Seekartenwerke von Waghenaer und anderen ganz beiseite lassen 30 ); denn die Reede, wie sie um 1800 lag, könnten wir auch schon für die Zeit des Fischreusenstreites akzeptieren.

Es ist nach diesen Ermittlungen gar nicht möglich, aus dem Falle des englischen Kohlenschiffes von 1784 den Schluß zu ziehen, den Rörig (IV, S. 37) daraus gezogen hat, den Schluß nämlich, daß die Reede im allgemeinen bei der Majorlinie, in der Richtung auf die See zu, angefangen habe. Wie Rörig mitteilt, war in diesem Jahre den Lübecker Fischern ausnahmsweise gestattet


28) Vgl. Archiv III, S. 49.
29) Archiv II, S. 126 f., Archiv III, S. 49. Rörig (IV, S. 12) meint, wir hätten die Majorlinie in den Bericht Harmsens von 1828 "hinein interpretiert". Es handele sich daher um keine "objektiv gesicherte Tatsache". Eine andere Auffassung des Berichtes als die unserige ist aber überhaupt nicht möglich.
30) Vgl. unten den Exkurs, auch über die angebliche Außentrave bei Waghenaer
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worden, den sogenannten "Hohen Zug" noch über den 1. Mai, den Endtermin der eigentlichen Heringszeit, hinaus zu befischen. Der "Hohe Zug" begann (nach einer Ordnung von 1836) 31 ) an der Majorlinie und führte von hier aus auf das Travemünder Ufer. Nun kam am 2. Mai 1784 das englische Kohlenschiff an. Der Kapitän nahm dem Lotsen das Steuerruder aus der Hand, steuerte sein Schiff selber buchteinwärts und verankerte es im Bereiche des hohen Zuges. Die Lotsen, die über die Verlängerung der Heringszeit nicht unterrichtet waren, erhoben keinen Einspruch, mußten dann aber auf Anordnung der Kämmerei das Fahrzeug weiter seewärts legen.

Wo hatte nun das Schiff ursprünglich geankert? Nach dem Bericht des erkrankten Lotsenkommandeurs 32 ) hatte der Kapitän sein Schiff "dorthin" gesteuert, weil er "es anderwards foll Schiffe fand". Daraus ist nicht viel zu entnehmen. Die Fischer ihrerseits beschwerten sich darüber, daß die Lotsen Schiffe bis auf 80 Faden (138 m) ans Bollwerk herangelegt hätten, "statt dessen zu wünschen stehe, daß sie solche ganz bis nach die Rehde hinausbringen möchten, damit das Fischereigerätschaft durch die Schiffe nicht beschädigt werden könnte" 33 ). Die natürlich unterschätzte Entfernung von 80 Faden erklärte die Frau des Lotsenkommandeurs für ausgeschlossen. Sie gab statt dessen die oft erwähnten Abstände von 650 bis 840 Faden (1120-1450 m) an. Daraus aber, daß die Entfernung von den Fischern so auffallend gering eingeschätzt wurde, ist jedenfalls der Schluß zu ziehen, daß das Schiff recht tief in den Bereich des hohen Zuges hineingefahren war; wenn auch in der Beschwerde der Fischer von einer Mehrheit von Schiffen die Rede ist, so war doch wohl in erster Linie das englische Fahrzeug gemeint. Da außerdem bemängelt wurde, das Schiff sei nordwärts dem steinigen Grunde zu nahe gelegt worden 34 ), so muß es dort geankert haben, wo sich der hohe Zug im Winkel zwischen der Majorlinie und der Küste stärker verkürzt.

Die Klage der Fischer richtet sich offenbar nur dagegen, daß Schiffe ungewöhnlich weit buchteinwärts verankert wurden. Ihr Verlangen aber, es möchten die Schiffe "ganz bis nach die Rehde" hinausgelegt werden, braucht keineswegs zu bedeuten: bis hinter die Grenze des hohen Zuges, also bis hinter die Majorlinie. Das behauptet zwar Rörig, hat es aber nicht


31) Rörig IV, S. 37, Anm. 52.
32) Rörig IV, S. 36, Anm. 50. Es handelt sich wohl um den von der Frau des Kommandeurs erstatteten Bericht.
33) Rörig IV, S. 38, Anm. 53.
34) Rörig IV, S. 50.
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quellenmäßig nachgewiesen. Wäre seine Auffassung richtig, so würde sich ergeben, daß zwischen Fischern und Lotsen über die Lage der Reede keine Einigkeit herrschte. Es kam ja auch während der Heringszeit eine Behinderung der Fischerei durch die Schiffahrt nicht immer in Frage. Diese Zeit endete nach Rörig am 1. Mai. Wann begann sie? Bei den Leipziger Zeugenaussagen vom 21. März 1927 rechnete ein früherer Dassower Fischer 35 ) sie vom Dezember bis zum Frühjahr. Danach würde sie großenteils in den Winter fallen, wann die Segelschiffahrt ruhte. Und wenn im Frühling Schiffe bei ungefähr 5 Faden ankerten, so wurde im Gebiete der hohen Zuges nur die letzte kleine Strecke besetzt, auf die es doch gar nicht ankommen konnte. Auch vor der mecklenburgischen Küste begannen die Wadenzüge ja erst bei 4-5 Faden Tiefe 36 ). Außerdem ließen sich in dem Raume zwischen den Schiffen am Ende noch Waden auswerfen, ohne daß man mit dem Reedebetrieb kollidierte. Je weiter aber die Schiffe buchteinwärts kamen, desto lästiger mußten sie für die Fischerei werden, zumal im nördlichen Teile des hohen Zuges, wo dieser schnell kürzer wird. Wir verstehen daher die Beschwerde von 1784 so, daß die Fischer sich nur gegen allzu nahe am Bollwerk vorgenommene Verankerungen wehrten. Und selbst wenn in der Heringszeit die Schiffe bis an die Majorlinie oder in das Gebiet dicht dahinter zurückgezogen wären, so würde das doch an der Reedelage gar nichts Wesentliches ändern. Man konnte Hunderte von Metern jenseit der Majorlinie ankern, ohne das mecklenburgische Gewässer zu berühren. Daß die Schiffe den Fischern ganz hätten weichen müssen, wäre doch mit dem Grundsatz: "Schiffahrt geht vor Fischerei", der nach Rörig 37 ) in den Lübecker Akten häufig genannt wird, nicht zu vereinbaren. Die Bedürfnisse der Schiffahrt obenanzustellen, war ja überhaupt in den Seestädten allgemeine Regel.

Es ist für die Reedelage doch sehr bezeichnend, daß es zu einem solchen Streite zwischen Fischern und Lotsen überhaupt kommen konnte. Und aus dem vorgelegten Material von 1784 bis 1801 läßt sich nur der eine Schluß ziehen, daß "normal verankerte" Schiffe nicht jenseit, sondern diesseit der Majorlinie lagen, freilich bei 5 Faden auch schon dicht an ihr. Als der englische Kapitän eintraf, dachte er gar nicht daran, seewärts hinter der Linie zu bleiben, wo sich


35) Zeuge 2.
36) Archiv III, S. 53.
37) IV, S. 62, Anm. 88.
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doch Raum genug bot, sondern er steuerte noch weiter in die Bucht hinein, als üblich war.

Zu der Reedelage, wie sie sich aus den Quellen von 1784-1801 ergibt, paßt auch die in unseren früheren Erachten angeführte Aussage über ein Schiff, das 1792 auf der Reede gekentert war 38 ). Diese Quelle soll nach Rörig 39 ) "gänzlich minderwertig" sein. Dabei handelt es sich um die gleichzeitige Aussage eines Augenzeugen, des mecklenburgischen Strandreiters, und zwar in dem hier interessierenden Punkte um eine der von Rörig sonst so geschätzten Angaben, die nichts Strittiges betreffen - denn die Reedelage war nicht strittig - , sondern beiläufig gemacht wurden. Nach der Erklärung des Strandreiters befand sich das Fahrzeug "unter den auf der Rheede liegenden Schiffen wohl 400 Schritte vom Lande". Zu bezweifeln ist an diesem Bericht die angegebene Entfernung, niemals aber, daß eine Wasserfläche der inneren Bucht gemeint ist. Das Schiff war "durch den Sturm vom Anker getrieben" und "auf der Rheede umgeschlagen", und zwar am 6. Mai, also nach Schluß der Heringszeit. Es darf daher angenommen werden, daß die Schiffe ohne Rücksicht auf den "Hohen Zug" so weit wie möglich buchteinwärts verankert lagen. Die Entfernung von 400 Schritten ist am Tage darauf (7. Mai) geschätzt worden, als die ursprüngliche Lage des Schiffes sich schon geändert haben konnte. Mag sie nun, wie wir in Archiv III angenommen haben, vom Travemünder Ufer aus berechnet sein oder vom Priwall aus, unterschätzt ist sie in jedem Falle 40 ). Die Lübecker Fischer behaupteten ja 1784 sogar, daß Schiffe bis auf 80 Faden (138 m, also noch nicht 200 Schritt) ans Bollwerk herangelegt seien; auch ein Zeichen dafür, daß Entfernungen auf dem Wasser leicht zu gering geschätzt werden. Ferner darf man den Ausdruck "unter den auf der Rheede liegenden Schiffen" nicht pressen. Wenn auch das Fahrzeug mehr oder weniger weit vor den übrigen gelegen haben mag, so konnte man doch aus der Entfernung, vom Ufer aus, den Eindruck haben, daß es sich "unter" diesen befand. Niemals aber hätte das unzweifelhaft ganz in der inneren Bucht liegende Schiff mit Fahrzeugen, die hinter der Majorlinie ankerten, in eine räumliche Verbindung gebracht werden können. Die Art, wie Rörig sich mit


38) Vgl. Archiv II, S. 103, Anm. 188, Archiv III, S. 9 und 32.
39) IV, S. 23, Anm. 29 unten.
40) Ist sie vom Travemünder Ufer aus berechnet, so würde die Unterschätzung wesentlich weniger bedeutend sein. Der kleinste Abstand des Reedegebietes (innerhalb der Linie Badehaus-Kirchturm) bis zur Küste beträgt nach unserer Kartenskizze knapp 600 m.
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der Quelle von 1792 auseinandersetzt oder vielmehr nicht auseinandersetzt, ist sehr sonderbar. Daß sie ihm nicht ganz bequem ist, schließen wir aus seiner Bemerkung, es handle sich bei unseren Angaben "vermutlich um einen Auszug, der die zutreffenderen Mitteilungen derselben Akten nicht wiedergibt". Dabei sind unsere Angaben vollkommen eindeutig. Rörigs ebenso unüberlegte wie ungehörige Bemerkung veranlaßt uns, diese für die Reedelage ja recht instruktiven Akten im Original beizufügen mit der Bitte, sie dem Staatsgerichtshofe vorzulegen. Die in Betracht kommenden Stellen sind darin bezeichnet 41 ).

Ebenfalls stimmt zu der ermittelten Reedelage eine Nachricht von 1731. Wir entnehmen sie der jetzt abgeschlossenen Arbeit von Kühn über den Geltungsbereich des Oldenburgisch-Lübeckischen Fischereivergleichs von 1817 und die Travemünder Reede 42 ). Es sollten 1731 zwei Niendorfer Fischerboote samt einer Wade, die 1729 von den Lübeckern in der Niendorfer Wiek beschlagnahmt waren, wieder ausgeliefert werden. Dies sollte nach einem Vorschlage des Lübecker Rates geschehen: "außerhalb Travemünde auf dortiger Rhede der Gegend des Leuchten-Feldes". Später ließ der Rat erklären, er sei bereit, "auf der Spitze gegen dem Leuchten-Felde über auf der See, die danische Reede genandt, die Sachen restituiren zu lassen". Wie aus den Ausführungen Kühns hervorgeht, erfolgte die Rückgabe bei der Grenzscheide zwischen dem Leuchtenfelde, also dem Lübecker Strand, und dem Gneversdorfer Strande des Domkapitels, einer Grenze, die nach Kühn im Möwenstein zu suchen ist. Zugleich handelte es sich um die Gegend der alten Schanze, die südlich vom heutigen Seetempel und vom Möwenstein lag 43 ). Hier in der Nähe war also die "danische Reede". Dies kann nur eine Bezeichnung für einen Ankerplatz sein, der, wie die Reede überhaupt, nicht weit vom Leuchtenfelde entfernt war. Man wird ja auch, um ein paar kleine Fischerboote auszuliefern, nicht weit in die See hinausgefahren sein. Wir erinnern in diesem Zusammenhange an jene früher von uns beigebrachte Quelle von 1670 über die "Reide bey dem Lüchtenfeldt" 44 ).


41) Übrigens ist es um so erstaunlicher, daß Rörig sich zu einer solchen völlig unbegründeten Vermutung versteigt, als gerade ihm schwere Fehler in der Quellenforschung nachgewiesen sind, die sehr irreführend hätten wirken müssen, wenn wir sie nicht berichtigt hätten.
42) S. 9 und S. 31.
43) Vgl. Kühn, S. 4.
44) Archiv II, S. 103, Anm. 188. Archiv III, S. 9, Anm. 20. Rörig S. 23, Anm. 29) will diese Quelle und auch die von 1616 über die Reede beim Blockhause anders verstehen. Wir halten an unserer Auffassung
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Nun hat Rörig (IV, S. 43 ff.) seine Meinung über die Reedelage durch die französische Seekarte von Beautemps-Beaupré zu stützen gesucht. Er behauptet, wir hätten unser Urteil über diese Karte geändert. Das ist grundverkehrt. Denn wir haben in Archiv II (S. 124) nicht gesagt, daß sie überhaupt wichtiger sei als die moderne Seekarte, sondern wichtiger nur darin, daß es die Peillinie Gömnitzer Berg-Pohnsdorfer Mühle auf ihr nicht gibt. Weiter haben wir in Archiv II nichts aus der Karte entnommen. Auch haben wir diese in Archiv III (S. 44 ff.) keineswegs als minderwertig bezeichnet, sondern nur gesagt, daß aus ihr die Reedelage nicht hervorgehe. Das ist auch der Fall und wird durch die neuen Quellen von 1784-1801 vollkommen bestätigt. In die Hagensche Karte ist ja einiges aus der französischen hineinkonstruiert. Wir fragen, ob die Worte "Rade de Travemünde" sowie die Bezeichnung des Ankergrundes "Vase couverte de sable fin bonne tenue" sich räumlich mit dem nunmehr festgestellten Reedegebiet decken, das aber auf der Hagenschen Karte nicht richtig liegt. Gewiß nicht! Es ist alles aufrecht zu erhalten, was wir in Archiv III zur Erklärung dieser Bezeichnungen gesagt haben 45 ). Ferner der Punkt a auf der französischen Karte, von dem aus man die an deren Rande abgebildete Ansicht von Travemünde hatte. Der Punkt findet sich auf der Hagenschen Karte am Rande des Sektors. Tatsächlich müßte er aus diesem herausfallen, weil der Sektor nicht ganz richtig liegt und etwas nach Nordwesten zu verschieben ist. Wir haben keinen


(  ...  ) fest. Für die Beurteilung der Quelle von 1670 ist der volle in Archiv II a. a. O. genannte Wortlaut maßgebend, der Auszug bei Rörig wirkt irreführend, zumal da Rörig das "in" unberechtigter Weise unterstrichen hat. Ist denn überhaupt eine Tonne auf der Muschelbank bezeugt? Die Wohlerschen Karten von 1788 und 1801 verzeichnen keine, wohl aber Tonnen in der See vor der Travemündung. Übrigens behauptet Rörig, schon sein erstes gedrucktes Gutachten enthalte alle wichtigen Quellenstellen über die Reede. In Wirklichkeit hatte er aber gar kein Material über die Lage des Ankerplatzes, auf die es doch ankommt, vorgebracht. Das ist auch die Meinung v. Gierkes und Wenzels. Die Quelle von 1547 (Aussage des Zöllners Tydemann), meint Rörig, hätten wir seinem ersten "angeblich quellenlosen" Gutachten entnommen. Gewiß, aber hat er denn etwa diese Nachricht für die Reedelage verwertet? In der Auffassung dieser Quelle ist er uns jetzt einen Schritt entgegengekommen (IV, S. 58, Anm. 85).
45) Übrigens hat ja Rörig (III, S. 87) die Eintragung "Rade de Travemünde" mit der Eintragung "Guter Ankergrund" auf der Karte des Travemünder Hafens im Jahre 1848 verglichen. Auf dieser Karte aber beginnen die Worte fast bei der 24-Fuß-Linie (4 Lübecker Faden = 6,90 m). Die 5-Faden-Linie wird nicht angegeben. Solche Eintragungen haben indessen nicht den Wert, den Rörig ihnen beimißt, vgl. Archiv III, S. 47.
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Zweifel daran, daß unsere in Archiv III, S. 44 ausgesprochene Meinung stimmt, wonach Beautemps-Beaupré den Punkt auf der damaligen Ansegelungslinie der Traveeinfahrt eingetragen hat 46 ). Im übrigen aber liegt der Punkt ja unmittelbar an der Majorlinie. Schließlich ist in die Hagensche Karte der Punkt B aus der verlorenen Skizze des Navigationslehrers Sahn von 1823 übernommen worden, und zwar nach unserer Rekonstruktion auf der Admiralitätskarte in Archiv III, Beilage 5 b. Statt dessen hätte allerdings unsere Beilage 5 a zugrunde gelegt werden müssen, wo der Punkt auf der französischen Karte bestimmt ist, die für Sahn maßgebend war 47 ). Auf ihr liegt der Punkt noch weiter seewärts. Aber in keinem Falle kann der Punkt B der Mittelpunkt der nautischen Reede sein. Er sollte, wie wir Archiv III, S. 56 f. gezeigt haben, auf der Mittellinie der Travemünder Bucht liegen.

Der tatsächliche Wert des Materials von 1784-1801 läßt sich dadurch nicht abschwächen, daß Rörig das Reedegebiet als einen "Reedekopf" bezeichnen will, wo die Lotsen "im allgemeinen" die Schiffe hingelegt hätten. Wohl wurde auch noch das Gebiet weiter seewärts, mitsamt dem flachen Gewässer am Strande, Reede genannt. Aber darauf kommt es nicht an, sondern auf den Ankerplatz, und dieser ist mit dem "Reedekopf" identisch. Ausdrücklich wird in dem Scharpenbergischen Bericht von 1784 das Gewässer, das 5-6 Kabellängen vom Bollwerk abliegt, als "die Rehde" bezeichnet ("wo alldorten die Rehde heißt"). Weiter draußen konnte nach eben diesem Bericht nicht mehr geleichtert und gelöscht werden. Und auch die Wohlerschen Karten bezeichnen das Gebiet bei 4 1/2 bis 5 Faden Wasser als "Die Rhede" oder als "Große Rhede" (im Gegensatze zur Flußreede). Es ist


46) Auch der Punkt b auf der französischen Karte, von dem aus man eine Ansicht von Neustadt hatte, liegt unmittelbar vor der Hafeneinfahrt. Wollte man die Travemünder Reede nach solchen Ansichtspunkten bestimmen, so wäre das für Rörigs Reedetheorie nicht gerade günstig. Denn auf der Admiralitätskarte von 1873 liegt ein Punkt D (Ansicht von Travemünde, auf der Karte abgebildet) noch nicht 1600 m vom Norderbollwerk, unmittelbar an der Ansegelungslinie, die durch die Tonnen führt, fast 800 m vor diesen seewärts. Ebenso liegt auf dieser Karte ein Ansichtspunkt vor den Tonnen, die das Fahrwasser nach Neustadt bezeichnen. Allerdings findet sich in beiden Fällen ein Anker dicht daneben, in der Travemünder Bucht aber fast 300 m weiter buchteinwärts. Ansichtspunkte zeigt übrigens die Karte von 1873 auch vor und in der Wismarer Bucht. Sie sollen unzweifelhaft zur Auffindung der Fahrstraßen dienen (Einfahrt ins Offen Tief, ins Große Tief, Durchfahrt zwischen Sechers-Grund und Mittel-Grund).
47) Vgl. Archiv III, S. 56 f.
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dasselbe Gebiet, das auf der kleinen Kartenskizze von 1803 48 ) durch zwei Anker kenntlich gemacht wird. Ganz unmöglich aber ist es, die Reedelage nach den verzeichneten Küstenlinien der Wohlerschen Karten bestimmen zu wollen. Auf der Karte von 1788, meint Rörig (IV, S. 33), sei das Wort "Rhede" "genau in der Mitte" zwischen Pötenitz und Rosenhagen eingetragen. Vor und neben ihm ständen zwei Tiefenangaben von 4 1/2 und 5 Faden. Auf diese Zahlen und das eingezeichnete Schiff kommt es natürlich allein an, nicht auf das Wort "Rhede", das ja nicht auf die Zahlen gesetzt werden konnte. Und quer über die Bucht sich hinziehende Tiefen von 4 1/2-5 Faden gibt es eben nicht in der Mitte zwischen Pötenitz und Rosenhagen. Übrigens liegt das Schiff auf der Karte näher bei der Zahl 4 1/2. Dann will Rörig gar auf dieser Skizze die Majorlinie ziehen, indem er Pötenitz mit dem Steilufer verbindet. Dann liege die Reede dahinter. Mit demselben Recht kann man sagen, daß auf dieser Karte die Reede sich binnen dem Steinriff Seezeichen mit der roten Fahne befindet. Ebenso ist es auf der kleinen Skizze von 1803. Wo aber das Steinriff-Zeichen (Pavillon Rouge) lag, ergibt sich aus der französischen Seekarte (Kartenbeilage 2 a bei Rörig III). Wenn ferner Rörig meint, daß auf der Wohlerschen Karte von 1801 die Entfernung von Travemünde bis zum Grenzpfahl am Priwall 49 ) "sinngemäß" soweit verkürzt sei, daß die Majorlinie "vor die ankernden Schiffe treten würde", so möchten wir fragen, wo denn eigentlich in den Verzeichnungen der Wohlerschen Karten der Sinn anfängt und wo er aufhört. Auf der Karte von 1801 beträgt die Entfernung vom Norderbollwerk bis zu den drei Schiffen nach dem Kartenmaßstabe im Durchschnitt etwa 3900 Fuß = 650 Faden (1121 m). Das ist gerade die geringste der 1784 angegebenen Entfernungen. Aber man kommt dann nach der Admiralitätskarte noch nicht auf 30 Fuß Wasser. Würde man übrigens die fehlenden Küstenlinien der Wohlerschen Karte von 1801 nach den Größenverhältnissen der früheren von 1788 ergänzen, so würde die Majorlinie hinter die Reede fallen. Aber solche Experimente sind auf den Skizzen Wohlers überhaupt nicht zulässig 50 ).


48) Archiv III, S. 43. In der Führung der Küstenlinien erinnert diese Karte stark an die Wohlersche von 1788.
49) Der übrigens als Landesgrenze damals noch nicht anerkannt war.
50) Die älteste kleine Skizze Wohlers von 1787, die den "Major" vermerkt und ebenfalls "auf genaue Maßstäbe keinen Anspruch" macht, hat Rörig nicht mit vorgelegt. Er bespricht sie IV, S. 32. Aus seinen Ausführungen ist zu schließen, daß die Anker bei 5 Faden liegen sollen.
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Ferner hat Rörig 51 ) die "Nachricht für Seefahrer" von 1855 herangezogen. Es ist dies ein Merkblatt, das vom Lübecker Lotsendepartement herausgegeben ist. Darin wird gesagt, daß Schiffe, die nachts in den Hafen einlaufen wollten, zum Zeichen dessen, daß sie einen Lotsen verlangten, eine Laterne aufhissen sollten. Werde kein Gegensignal (rotes Licht) gezeigt, "so ist das Einbringen des Schiffes nicht thunlich, dasselbe muß dann entweder in 5 bis 6 Faden Wasser ankern oder bis Tagesanbruch unter Segel bleiben". Dies vergleicht Rörig mit dem "Vorbereitenden Bericht für die Anfertigung der Segelanweisung für die Lübecker Bucht der Reichsmarine" von 1875. Hier heißt es: "Wird die roth-weiße Kugel nicht gezeigt, so ist ein Einlaufen in den Hafen wegen der damit verbundenen Gefahr unzulässig, das Schiff muß dann auf der Rhede in 10 bis 12 m Tiefe ankern oder wieder in See gehen". Beide Male, meint Rörig, sei dieselbe Gegend der Bucht gemeint. Das würde, wenn man 5 bis 6 englische Faden (9,14 bis 10,97 m) oder preußisch-dänische Faden (9,41 bis 11,30 m) annimmt, ungefähr zutreffen, besonders für das Gebiet des Leuchtfeuersektors, das außerhalb des mecklenburgischen Gewässers liegt; hier folgen die Tiefen von etwa 9 bis 12 m dicht aufeinander. Die in den beiden Anweisungen genannten Tiefen berühren uns hier aber gar nicht, weil damit ja keine Leichterreede bestimmt, sondern nur ein zum vorläufigen Ankern geeigneter Platz bezeichnet wird, auf dem die Schiffe lagen, bis sie in den Travemünder Hafen gebracht wurden. Nichts weiter besagt die Nachricht von 1855, als daß man auch ohne Lotsen bis auf 5 Faden buchteinwärts steuern könne; ja sogar noch weiter, denn wenn ein rotes Licht die Ausfahrt des Lotsen anzeigte, so "kann das Schiff sich dem Hafen bis auf 4 1/2 Faden Wasser, das Travemünder Leuchtfeuer in WSW haltend, ohne Gefahr nähern und hat den Lotsen zu erwarten". Dabei blieb den Kapitänen überlassen, nach welchem Faden sie sich richten wollten. 1875 rundete man dann die 5 bis 6 Faden nach dem inzwischen eingeführten Metermaße ab. Warum auch nicht? Auf genaue Tiefen kam es für dieses vorläufige Ankern gar nicht an. In der Anlage 3 zu Rörig 1 bemerkt der Lübecker Hafenkapitän Murken 52 ), daß sich genaue Vorschriften über den Ankerplatz "überhaupt nicht machen" ließen.


(  ...  ) Wenn man die Majorlinie ziehe, so werde ein Anker von ihr geschnitten, die beiden anderen und das Wort "Rhede" blieben jenseit der Linie. Aber wohl recht dicht dahinter? Die Konstruktion solcher Linien auf verzeichneten Skizzen muß jedoch zu falschen Vorstellungen führen.
51) IV, S. 40, Anm. 56.
52) Zu Frage 7.
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Bei den Segelanweisungen und dergleichen handele es sich um "Ratschläge". Das haben wir schon im Archiv III (S. 58) gesagt. Und es brauchen diese Dinge eigentlich gar nicht erörtert zu werden, weil sich daraus keine Gebietshoheit herleiten läßt. Wenn Rörig (IV, S. 56) sagt, daß den Schiffen "geraten bzw. befohlen" werde, auf 10 bis 12 m Wasser zu ankern, so setzt er sich mit dem Worte "befohlen" in Gegensatz zu seinem eigenen Sachverständigen.

Der Ankerplatz, der in den Quellen von 1784 bis 1801 erscheint, ist keineswegs identisch mit dem vorläufigen Ankerplatze auf den Tiefen von 10 bis 12 m. Zu den Erwiderungen, die von dem heutigen Travemünder Lotsenkommandeur und dem heutigen Lübecker Hafenkapitän auf verschiedene von Rörig gestellte Fragen erteilt sind 53 ), müssen wir bemerken, daß die beiden Herren für die vormalige Zeit gar nichts berichten können. Wenn für ein Schiff von 5,17 m Tiefgang eine Ankertiefe von noch nicht 6 m für zu gering erklärt wird 54 ), so ist zu


53) Anlagen 1-3 zu Rörig IV.
54) Vgl. Archiv III, S. 13, Anm. 31. Auf der Wismarer Reede vor dem Dorfe Hoben, die allerdings günstiger liegt, können Schiffe von 150-200 Last im Verhältnis wohl nicht viel mehr Wasser unter dem Kiel gehabt haben, siehe unten S. 27. Der Lotsenkommandeur begründet seine Aussage über diesen Punkt (zu Frage 1) damit, daß das Wasser der Trave bei heftigen Südweststürmen bis zu 2 m falle. Wie oft tritt dies ein, und wann ist es zuletzt eingetreten? Ist ferner der Schluß zu ziehen, daß das Wasser der Travemünder Bucht in demselben Maße sinke? Es kommt überhaupt nicht darauf an, wie weit es unter besonders ungünstigen Umständen sinken kann, sondern nur darauf, wie oft dies vorkommt. Die Erfahrung lehrt, daß selten eintretende Naturgewalten die Benutzung der davon betroffenen Örtlichkeit nicht dauernd verhindern. Bei Behrens, Topographie und Statistik von Lübeck (1. Teil, 1829, S. 101) heißt es bei der Beschreibung der Trave, daß deren Wasser bei heftigem Nord- und Nordostwind bedeutend anschwelle, während sie bei starkem Südwest oft sehr seicht werde. "Am 3. Dezember 1828 war seit Menschengedenken der niedrigste Stand -7 bis 8 Fuß unter dem gewöhnlichen Wasserspiegel" (2,01-2,30 m)."Der gewöhnliche Unterschied zwischen ordinairem hohem und ord. niedrigem Wasser ist 2 1/2 Fuß" (0,719 m). Mithin betrug der gewöhnliche Unterschied zwischen Mittelwasser, von dem natürlich auszugehen ist, und niedrigem Wasser nur 11/4 Fuß. - Der Hafenkapitän erklärt zu Frage 1, die Schiffe müßten soviel Wasser unter dem Kiel haben, daß sie bei fallendem Wasser flott blieben und bei aufkommendem Sturm "gegebenenfalls" 3-4 m stampfen könnten. 3-4 scheinen uns sehr hoch gegriffen. Kommen in der Travemünder Bucht bei 8-9 m Tiefe (abgesehen von 6 m) solche Wellen auf? Überdies konnten selbst die größeren Schiffe der früheren Zeit, wenn sie auf 8 m Wasser und darüber lagen, auch gewiß mehrere Meter stampfen. Und angenommen, daß sie auf etwa 6 m ankerten, so konnte das Wasser außergewöhnlich stark sinken, ohne daß sie auf Grund gerieten. Bei Nordostwind aber, der die höchsten Wellen in der Travemünder Bucht verursacht, tritt ja sogleich Hochwasser ein.
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beachten, daß die alte Reede tatsächlich Tiefen von 8,6 m und mehr hatte. Außerdem ist es unwahrscheinlich, daß jenes Maß von 5,17 m für den Lübecker "Adler", das hier gemeinte Kriegsschiff des 16. Jahrhunderts, überhaupt zutrifft 55 ). Der Lotsenkommandeur erklärt (zu Frage 1), daß für kleine Schiffe das Ankern auf weniger als 12 m Wasser gefährlich sei. Indessen wissen wir, daß die Schiffe vormals - und nach heutigen Begriffen waren sie alle klein - auf weniger als 9 m lagen. Wenn er ferner meint (zu 2), als auf der Reede liegend seien "von jeher" alle Schiffe angesehen worden, die sich zwischen der Ansegelungstonne Lübeck 1 und der Steinrifftonne befanden, so ergibt doch unsere Kartenskizze, daß sie durchaus diesseit der Ansegelungstonne ankerten. Die beiden von dem Kommandeur angeführten Grenzpunkte gab es ja auch früher nicht. Die Steinrifftonne liegt an ihrem jetzigen Orte erst seit 1915 56 ), und 1873 befanden sich die äußersten Ansegelungstonnen (rote und schwarze Tonne) dort, wo sie auf unserer Kartenskizze eingezeichnet sind. Nach und nach sind sie dann weiter hinausverlegt worden 57 ). Außerdem rechnen beide Sachverständigen natürlich mit den heutigen tiefgehenden Seeschiffen. Und was versteht der Lotsenkommandeur hier unter kleinen Schiffen? Wir vermuten, größere, als für die frühere Zeit überhaupt in Frage kommen. Um 1600 gehörten Kauffahrer von 200 Last (= etwa 270 t) 58 ) unzweifelhaft zu den großen. Selbst für das einzig dastehende Kriegsschiff, den "Adler" aus der Zeit des nordischen siebenjährigen Krieges (1563-70) ist auch die geringere der angegebenen Tragfähigkeiten (800 Last) gewiß übertrieben 59 ). In den Jahren vor 1829 fuhren auf Lübeck jährlich über 900 Schiffe (darunter 1/11 mit Ballast) und ebenso viel gingen ab (1/10 mit Ballast). Die Trächtigkeit aller jährlich ankommenden und abfahrenden Fahrzeuge betrug damals nach dem Durchschnitt der


55) Vgl. Archiv III, S. 13, Anm. 32. Kloth (Zeitschr. f. Lüb. Gesch. XXI, XXII), auf dessen Angaben über den Tiefgang des "Adlers" Rörig (III, S. 114) sich gestützt hat, hält zwar anscheinend das Maß von 5,17 m für möglich (XXI, S. 210, Anm. 230), er spricht sich aber (XXII, S. 149) deutlich über die "trügerische Überlieferung" aus, wie sie die Berichte über den "Adler" und andere Schiffe enthielten. Was soll man von dieser sagenhaften Überlieferung glauben?
56) Archiv III, S. 61.
57) Auf der Karte von 1873 mit den Berichtigungen bis 1887 liegen sie ungefähr an der Majorlinie.
58) Die Last nach Vogel, Gesch. d. deutschen Seeschiffahrt, im Durchschnitt zu 1 1/3 Registertonnen berechnet, vgl. Archiv III, S. 41, Anm. 127.
59) Vgl. Archiv III, S. 13.
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letzten Jahre etwa 50 000 Kommerzlasten 60 ). Danach kamen auf das Schiff durchschnittlich nicht viel über 50 Last. Fahrzeuge, die mit 70 Last und darüber beladen waren und 10 Fuß tief gingen, konnten die Plate nicht überwinden, ohne teilweise auf der Reede gelöscht zu haben 61 ). Es ist also klar, daß die große Mehrzahl der Schiffe überhaupt nicht zu leichtern brauchte. Und auch der Rest der Schiffe kann nach heutigen Begriffen nur sehr klein gewesen sein. Es handelte sich ja auch ganz wesentlich um Ostseeverkehr 62 ).

Unter den Erwiderungen des Lotsenkommandeurs interessiert uns noch Folgendes (zu 2): Er meint, niemals hätten Schiffe, die leichtern wollten, "auf der Plate 63 ) innerhalb der Ansegelungstonne gelegen, woselbst bei auflandigen Winden besonders grobe See steht und vielfach Schiffe beim Brechen von Ankerketten in Trift geraten sind". Schiffe müssen hier also doch gelegen haben. Und daß es früher vorgekommen ist, daß Fahrzeuge auf der Reede vom Anker gerissen wurden, wissen wir ja 64 ). Auch das Schiff von 1792 ist auf solche Weise verunglückt 65 ). Dieselbe Gefahr ist aber nach dem Lotsenkommandeur (zu 7) bei 10 bis 12 m Tiefe ebenfalls vorhanden, wo Rörig die Reede gesucht hat. Auch hier kommt bei schweren Nordoststürmen - und das sind doch gerade die bedrohlichen Winde - "sehr grobe See" auf, so daß Schiffe, die unter solchen Umständen dort ankern, ".gefährlich liegen", "weil die Gefahr besteht, daß die Anker nicht halten und die Ketten brechen".

Der Hafenkapitän seinerseits führt aus (zu 3): Natürlich haben die Schiffe früher versucht und tuen es auch jetzt noch, bei nördlichen Winden so nahe als möglich an das Innere der Reede heranzugehen und dort zu ankern, um, wenn auch nicht durch das Land, sondern durch das flache Steinriff Schutz gegen hohe See


60) Behrens, Topographie und Statistik von Lübeck, Erster Teil (1829), S. 211.
61) Ebd.
62) Die durchschnittliche Größe der ankommenden Schiffe ist auch später noch lange klein geblieben. z. B. wurde 1866 für mehrere Jahre ein Höchstbestand von 1829 eingehenden Schiffen (gegen 1000-1200 in der Zeit von 1850 bis 1861) erreicht mit 217 000 Registertonnen. 1878 waren es 2246 Schiffe mit 304 400 Registertonnen. Damals war die Plate schon auf 5 m ausgetieft (nach der Admiralitätskarte von 1873). Auch die ersten Dampfschiffe sind natürlich klein gewesen. Lübeck selbst besaß 1860 zehn Dampfer von zusammen 2400 Netto-Registertonnen. Vgl. Keibel, Lübecker Heimatbuch, 1926, S. 77, 83, 89.
63) Auf diesen Begriff "Plate" kommen wir zurück.
64) Archiv III, S. 10, Anm. 23.
65) Oben S. 85.
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zu haben". Sie sind vormals in der Tat soweit buchteinwärts gefahren, daß sie den Schutz des Brodtener Ufers genossen. Und wenn der Hafenkapitän bemerkt (zu 7), daß Schiffe von 5 bis 6 m Tiefgang auf 10 bis 12 m Wasser unbedenklich ankern könnten, sollten dann 6 bis 8 1/2 m und darüber für die kleinen Fahrzeuge früherer Jahrhunderte nicht genug gewesen sein? Noch auf der Admiralitätskarte von 1873 liegt in der inneren Bucht ein Anker, in der Nähe des Fahrwassers und 300 m westlich einer von der Priwallgrenze nach Norden gezogenen Linie. Seine Spitze ist noch nicht 1250 m vom Norderbollwerk entfernt, und er würde gerade noch binnen der Linie Gömnitzer Turm Brodtener Ufer (Majorlinie) liegen. Dicht hinter ihm, seewärts, steht eine Tiefenzahl von 8 m 66 ). Ebenso auf der gleichen Karte mit den Berichtigungen bis 1887, doch würde hier der Anker mit der Spitze auf der Majorlinie stehen. Vom Norderbollwerk ist er trotzdem keine 1200 m entfernt.

Man darf aus den Angaben der heutigen Lübecker Sachverständigen, die offenbar mit ganz anderen Verhältnissen rechnen, keine Schlüsse auf die Lage der alten Reede ziehen. Die "Kontinuität nach rückwärts" 67 ) ist nicht vorhanden, sie ist nach den Quellen ausgeschlossen. Auch wird die Gefahr des Steinriffes für die ankernden Schiffe von Rörig offenbar nicht richtig eingeschätzt. Wie der Hafenkapitän Murken hervorhebt 68 ), bietet die Travemünder Reede bei südlichen und südöstlichen Winden guten Schutz. Welche anderen Winde sollten denn aber in der inneren Bucht liegende Schiffe aufs Steinriff werfen? Und wenn es bei orkanartigen Stürmen dennoch geschehen könnte, so wäre doch diese Gefahr weiter seewärts auch vorhanden. Keinen Schutz hat man nach dem Hafenkapitän bei nordöstlich-östlichen Winden. Waghenaer hat seiner Zeit nur den Nordost und Nordnordost als bedrohlich bezeichnet 69 ). Und es wird wohl so sein, daß ostnord-östliche Stürme den Schiffen um so weniger schädlich sind, je weiter diese buchteinwärts ankern; denn desto mehr muß der Schutz der mecklenburgischen Küste wirken.

Warum ferner soll der Ankergrund der inneren Bucht nicht gut sein 70 )? Wie der Lotsenkommandeur Wohler 1801 angab, besteht der Grund bei beinahe 5 Faden Tiefe "aus ziemlich


66) Die Karte, die hier nur verhältnismäßig wenig Tiefenzahlen hat, gibt in der See nur volle und volle halbe Meter an.
67) Rörig IV, S. 52.
68) Rörig IV, S. 72, zu Frage 2.
69) Vgl. Archiv III, S. 20.
70) Vgl. Rörig IV, S. 47, Anm. 64. Dazu Archiv III, S. 12 und 46.
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festem Ton mit Sand vermischt", so daß die Anker selten losgerissen würden, wenn auch bei Stürmen öfter die Taue oder die Anker selbst brächen 71 ). Von dem Lübecker Wasserbaudirektor Rehder wissen wir, daß "der auf 5-7 Meter anschwemmende Sand eine feine thonige Beschaffenheit hat, welche das Ausbaggern außerordentlich erschwert" 72 ). Daraus ist natürlich der Schluß zu ziehen, daß der Grund bei 5-7 Meter Tiefe überhaupt Ton enthält. Die Admiralitätskarte von 1873 verzeichnet an der Spitze des oben erwähnten Reedeankers Sk. (Schlick). Auf der neuesten Admiralitätskarte endlich (Sonderkarte der Traveeinfahrt) findet sich in dem Gebiete, das auf unserer beigefügten Skizze mit fetten Linien umrandet ist, die Angabe gr. Sd. (grauer Sand) 73 ); in der Nähe des Gebietes steht f. gr. S. (feiner grauer Sand) 74 ), weiter südlich noch einmal gr. Sd. Das sind dieselben Bezeichnungen des Grundes, die auf der Karte (Hauptkarte) auch weiter draußen, jenseit der Ansegelungstonne, vermerkt sind.

Sehr wohl auch war es zulässig, daß wir in Archiv III (S. 14 f.) andere Ostseereden zur Vergleichung herangezogen haben. Die dort angeführten Reeden sind ja zum Teil ebenso offen oder noch offener als die Travemünder. Geschützter ist die Wismarer. Aber hier lagen auch um 1804 "Schiffe von 150-200 Last, nach Verschiedenheit der Bauart, bey einer Wassertiefe von 14-15 Fuß" 75 ) (4,02-4,31 Meter). Das waren für die damalige Zeit durchaus keine kleinen Schiffe. Ablandige Winde, die das Wasser ein wenig sinken machen, kommen hier natürlich auch vor.

Wir verstehen es nicht, daß Rörig aus den Quellen von 1784-1801 das Ergebnis zieht, alles, was wir über die Reedelage gesagt hätten, sei falsch, alles, was er gesagt habe, sei richtig. Obwohl er die weiteste 1784 genannte Entfernung (840 Faden) ganz unberechtigt zu 900 Faden ausgereckt hat, obwohl auf der Hagenschen Karte die Entfernungen vom Bollwerk bis zu den


71) Rörig IV, S. 34.
72) Archiv III, S. 46, Anm. 145.
73) Unter der Tiefenzahl 8.4.
74) Dicht unter der Tiefenzahl 8,8, die am südlichen Sektorstrahl steht.
75) Norrmann, über Wismars Handlage und deren Benutzung in älteren Zeiten, Rostock 1804, S. 8. Da dieser Ankerplatz nach Norrmann kaum 1/2 Meile von der Stadt entfernt war, so handelt es sich um die alte Wismarer Reede beim Dorfe Hoben. Vgl. Archiv III, S. 14. Größere Schiffe hatten nach Norrmann eine ebenso gute Lage bei Poel. Hier wird die Reede bei 5-6 m Tiefe gemeint sein, die das Segelhandbuch von 1878 nennt, Archiv III, S. 14, Anm. 44. Übrigens konnten auch auf der Wismarer Reede Schiffe vom Anker gerissen werden, wenn es auch nach Norrmann selten geschah.
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Reedegrenzstrichen gar nicht mehr für das Gebiet innerhalb des Leuchtfeuersektors gelten, so geht doch die Reede auch auf dieser Karte nur gut 300 m über die Majorlinie hinaus. Dabei ist es nicht einmal von Wichtigkeit, ob die Reede just an der Majorlinie zu Ende war oder ob die Schiffe auch noch ein bißchen weiter seewärts lagen. Denn daß die Majorlinie eine Hoheitsgrenze gewesen sei, hat ja niemand behauptet. Das Entscheidende ist, daß der Ankerplatz sich in der inneren Bucht befand, nicht da, wo Rörig ihn gesucht hat.

Es sind merkwürdige Vorstellungen, die Rörig sich von den Aufgaben eines wissenschaftlichen Erachtens bildet. Nach ihm wäre Sinn und Zweck unserer Ausführungen in Archiv III in dem Wunsche zu suchen, das "wirkliche" Reedegewässer aus dem Gebiete hinauszuschieben, das in der mecklenburgischen Verordnung vom 23. Februar 1925 umschrieben ist 76 ). Wir möchten wissen, wie wir das machen sollten, wenn nicht die Quellen dafür sprächen. Es ist außerdem völlig unrichtig, daß wir an den "Ortsbestimmungen" der Verordnung "stark beteiligt" seien. Denn beteiligt ist hier allein das Völkerrecht. Was die Verordnung, die wir übrigens erst durch das Regierungsblatt kennen gelernt haben, geltend macht, ist ja gar nicht der alte Strand, sondern die völkerrechtliche Grenze. Diese wird von Mecklenburg verfochten, nicht mehr und nicht weniger.

Weiter meint Rörig (IV, S. 2), wir hätten uns bereits in einer Weise festgelegt, "die einer objektiven Stellungnahme zum mindesten nicht günstig war". Aber wenn er uns eine Reede bei Rosenhagen nachgewiesen hätte, so hätten wir unseren Standpunkt verlassen und verlassen müssen. Hat er selber sich denn nicht "festgelegt"? Auf der Kartenskizze 2 seines ersten Gutachtens ist als "ungefähre Abgrenzung der Reede im nautischen Sinne" die 10-m-Wassergrenze eingetragen. In seinem dritten Gutachten verlegt er die Reede dementsprechend, aber im Gegensatze zu dem von ihm selbst vorgebrachten Kartenmaterial, auf die Höhe von Rosenhagen; manchmal heißt es auch: "etwa" auf dieser Höhe. Wo ist nun die Reede vor Rosenhagen geblieben?

Neuerdings bemerkt Rörig 77 ), er habe mit der Höhe von Rosenhagen nicht den Häuserkomplex gemeint - den aber seine Leser darunter verstehen mußten -, und er gibt zu, daß er besser gesagt hätte: "in der Höhe der Küstenstrecke von Pötenitz bis Rosenhagen". Das sei ihm zu lang gewesen. Es wäre aber außer-


76) Rörig IV, S. 46.
77) IV, S. 56, Anm. 80.
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dem auch noch unrichtig gewesen. Denn wenn man die Reede nach der mecklenburgischen Küste zu bestimmt, so lag sie gegenüber der westlichen Hälfte des Pötenitzer Feldes; im übrigen lag sie nördlich vom Priwall und dem Möwenstein näher als der mecklenburgischen Küste.

Auf der Plate aber lag sie nicht. Schon in seinem dritten Erachten hat ja Rörig behauptet, daß wir die Reede auf die Plate, "also auf jenes gefährliche Hindernis der Schiffahrt", verlegt hätten 78 ). In seiner neuen Abhandlung hat er für unsere Reede die Bezeichnung "Platenreede" angewendet. Das Platenrätsel löste sich für uns bereits, als wir die Kartenskizze erhielten, die bei der Verhandlung in Leipzig am 21. März 1927 von Lübecker Seite vorgelegt ist. Sie ist im Maßstabe der Admiralitätskarte angefertigt und deckt sich im allgemeinem mit dieser. Beanstandet werden muß, daß auf der Skizze die Harckenbeckmündung an die Peillinie Pohnsdorfer Mühle-Gömnitzer Turm 79 ) herangezogen ist, was nach der Admiralitätskarte nicht stimmt und auch den natürlichen Verhältnissen nicht entspricht. Die Begrenzung des Steinriffs ist zugleich die 10-m-Tiefenlinie, die aber willkürlich ans Ufer bis zur Travemündung herangezogen ist, durch den Leuchtfeuersektor hindurch und den ganzen Travemünder Badestrand mit umfassend. Die Plate ist blau gefärbt und reicht bis zu einer Linie, die sich vom Möwenstein bis nach Rosenhagen hinzieht. Verlegt man sie auf die Admiralitätskarte, so läuft sie über die Ansegelungstonne Lübeck 1 und überschneidet an einer Stelle noch etwas die 10-m-Tiefenlinie.

Wenn man in Lübeck dieses ganze Gebiet heute "Plate" nennt 80 ), so berührt das unsere Beweisführung nicht im mindesten. Entsprechend müßte ja dann beinahe die ganze Wismarer Bucht eine Sandbank sein. Und wie verhält sich denn dieser Platenbegriff zu den Ausführungen des dritten Rörigschen Gutachtens? Da wurde die Angabe Waghenaers, daß es "auf der Bancken" sechs Ellen (12 Fuß) tief sei, für bei normalem Wasserstande "viel zu hoch gegriffen" angesehen 81 ), 1831 schwankten die Tiefen auf der Plate nach Rörig zwischen 8 und 133/4 Fuß 82 ). Heute aber rechnet man in Lübeck Tiefen von 30 Fuß und darüber zur Plate.


78) Rörig III, S. 136. Vgl. Archiv III, S. 11.
79) Diese über die Steinrifftonne Brodten-Ost führende Linie ist gemeint, nicht etwa eine Linie Harkenbeckmündung-Gömnitzer Berg.
80) Vgl. auch die Bemerkung des Lotsenkommandeurs Westphal, Rörig IV, Anl. 2, zu 2 (S. 70).
81) Rörig III, S. 111, Anm. Dazu Archiv III, S. 41, Anm. 124.
82) Rörig III, S. 88.
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Wo diese in Wirklichkeit war, das lehrt ja die Wohlersche Karte von 1801.

In seinem dritten Gutachten (S. 116) hatte Rörig den Liegeplatz eines 1746 in Brand geratenen Schiffes infolge eines Lesefehlers bei 8 Faden statt bei 5 angenommen 83 ). Er erklärte daher, daß das Schiff in einer Wassertiefe geankert habe, "wie sie nach Ausweis der modernen Seekarte von Rosenhagen aus gerechnet nur in der Richtung auf die Harkenbeck anzutreffen" sei. "Hier war es," so heißt es weiter, "wo das bei dem flachen Wasserstand der Plate notwendige Löschen - zum mindesten teilweise Löschen - der einlaufenden Schiffe und das Laden der ausfahrenden stattfand" usw. Also gar nicht einmal mehr "in der Höhe der Küstenstrecke von Pötenitz bis Rosenhagen", die er doch sonst als Reedegebiet bezeichnet haben will, sondern von Rosenhagen bis zur Harkenbeck. Noch jetzt meint er 84 ): "Wenn auch die Lotsen die Schiffe nach Möglichkeit bis etwa dorthin vorzogen, wo Lotsenkommandeur Wohler seine drei Anker einzeichnete, geleichtert und gelöscht wurde auch noch weiter hinaus auf der Reede, und Schiffe gingen hier immer wieder bis zum heutigen Tage vor Anker". Woher hat er eigentlich diese Kunde? Er beruft sich auf den heutigen Travemünder Lotsenkommandeur, der von der alten Reede gar nichts wissen kann. Und weil der Fall von 1746 weggefallen ist, so beruft er sich statt dessen ferner auf das "mit Steinen beladene, ziemlich weit hinaus auf der Rhede bey Rosenhagen befindliche Wadeschiff", das 1799 vor Rosenhagen im Wirbelsturm sank 85 ). Wie will er denn daraus, daß ein Wadeschiff, das von irgendwoher Steine geholt hatte, bei Rosenhagen vorbeifuhr, auf einen Ankerplatz schließen? Der Scharpenbergische Bericht von 1784 besagt: alle Schiffe lägen 5 bis 6 Kabellängen vom Bollwerk. Würden sie näher ans Land gelegt, "so könten sie beim Norr-Osten-Sturm leicht dem Strande näher kommen". Anderer-


83) Daß dieses Versehen "für die Sache gänzlich belanglos" sei, wie Rörig IV, S. 57, Anm. 84 meint, können wir nicht finden. Übrigens haben wir nicht von einer "Enthüllung" gesprochen. Das Schiff war aus Bordeaux angekommen. Die Ankertiefe von 5 Faden, die von einem Mitgliede der Besatzung angegeben wurde, hätte nach Rörig "reichlich 9 m" betragen. Wo war das Fahrzeug beheimatet? Wenn es sich um ein französisches Schiff handelt, so wird der alte französische Faden gemeint sein, der aber nur 5 Fuß lang war. Weil der alte französische Fuß verhältnismäßig groß ist (= 144 Pariser Linien), so betragen 5 Faden (25 Fuß) 8,12 m, also weniger als 5 Lübecker Faden (8,63 m).
84) IV, S. 56.
85) Vgl. Archiv II, S. 118.
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seits aber: "Lähgten wir sie weiter hinaus, so liefen wir mit Prahmen und Böhte die Schiffe zu löschen bey stürmichem Wetter Gefahr, wen wir sie weit von die See hereinholen müßten." Und Sturm kann schnell aufkommen.

Bei Licht betrachtet, ringt Rörig in seinem neuen Gutachten weniger mit uns als mit seinem eigenen "hochwertigen und unbedingt authentischen Beweismaterial" von 1784 bis 1801 86 ). Wieder auch entnehmen wir seinen Darlegungen den Vorwurf, daß wir die Beweisführung erschwerten. Freilich ist es mühevoll, so minutiöse Auseinandersetzungen über die Reedelage zu geben und zu lesen. Aber die Beweisführung wird dadurch nicht erschwert, sondern es wird überhaupt erst Klarheit geschaffen. Und nicht unsere Schuld ist es, daß die Untersuchungen einen so großen Umfang angenommen haben. Warum hat denn Rörig die "authentischen" Quellen, die doch in dem wahrhaftig nicht unübersehbaren Lübecker Archiv leicht zu haben waren, nicht beizeiten vorgelegt? Dann hätten die Forschungen über die älteren Seekartenwerke gar nicht angestellt zu werden brauchen.

Der Ausdruck "Große Reede" wird nach Rörig 87 ) auch in der Quarantäneordnung von 1805 angewendet. Gemeint ist die Reede, wie sie sich aus den Quellen von 1784 bis 1801 ergibt. Und wenn die Lotsen nach der Ordnung von 1805 quarantänepflichtige Schiffe eine viertel Meile nordwärts von der Großen Reede verankern sollten, so hat diese Quarantänereede, wie es 1832 heißt, ja sicher nicht im mecklenburgischen Küstengewässer gelegen. Aber auch sonst ist der gebietsrechtliche Schluß abzulehnen, den Rörig aus der Existenz einer Quarantänereede gezogen hat. Vor anderen Häfen gab es zweifellos ebenfalls Quarantänereeden. Und aus Einrichtungen dieser Art ist kein Eigentumsrecht über das betreffende Meeresgebiet zu folgern, sondern sie gründen sich, ebenso wie das Lotsenwesen und das Leichterwesen, auf die Herrschaft über den Hafen selbst. Schon in Archiv II 88 ) haben wir ausgesprochen, daß kein Schiff sich der Quarantäne unterwirft, weil es sich auf dem


86) Die "Virtuosität, alle Werte auf den Kopf zu stellen" (Rörig IV, S. 53, Anm. 78) dürfte nicht auf unserer Seite zu finden sein. Ebenso wenig haben wir die primären Quellen "diskreditiert" (vgl. ebd. S. 45). Unseres Erachtens ist es Rörig, der den Ankerplatz immer noch da suchen will, wo er nach den Quellen, die vom Ankern und Leichtern reden, nicht mehr war. Aber es ist überflüssig, den polemischen Aufschmuck der Rörigschen Schrift einer Betrachtung zu unterziehen.
87) IV, S. 58.
88) S. 122, Anm. 219.
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Hoheitsgebiete des Hafenstaates befindet, sondern weil Fahrzeug, Mannschaft und Ladung sonst nicht in den Hafen hineingelassen werden.

Weiter hat Rörig sich auf ein Verbot von 1787 berufen, wonach Ballast bis auf 1/2 Meile von der Großen Reede fort nicht ausgeschüttet werden sollte 89 ). Der Lotsenkommandeur Wohler schlug damals vor, die Ausschüttung erst bei Schwansee oder besser noch an der Rückseite des Steinriffes vornehmen zu lassen, damit der Ballast nicht ins Fahrwasser getrieben werde 90 ). War man eine halbe deutsche Meile - die hier nur gemeint sein kann - von der Großen Reede entfernt, so befand man sich beinahe einen Kilometer jenseit der Harkenbeck, gegenüber der Feldmark von Barendorf. Schwansee grenzt östlich an Barendorf, und sein Strand beginnt 2 km hinter der Harkenbeck. Soll nun also auch das Gewässer vor Barendorf oder gar vor Schwansee den Lübeckern gehört haben? Unmöglich ist es, aus solchen Anweisungen eine Gebietshoheit zu folgern. Nach der Lotsenordnung des Rostocker Rates für den Hafen zu Warnemünde von 1802 hatte der Lotsenkommandeur "darauf zu sehen, daß beym Ballast-Löschen oder Einnehmen, im Hafen oder auf der Rehde, nichts ins Wasser geschüttet, und das Auswerfen des Ballastes in die See durch Versegeln nicht näher, als eine Meile vom Hafen ab geschehe . ." 91 ). Deswegen aber hat doch Rostock nicht das Meer bis auf eine Meile vom Hafen gehört. Wohin sollte es denn führen, wenn überall da, wo Reeden liegen oder lagen, auf Grund von derlei Anweisungen das Meer als Eigengewässer in Anspruch genommen würde 92 )!

Über die Örtlichkeit der alten Travemünder Reede kann es keinen Zweifel mehr geben. Sie war dort, wo in der inneren


89) Rörig IV S. 58, Anm. 85 und S. 62. Anm. 88.
90) Rörig IV, S. 32.
91) Blanck, Sammlung der Rostockschen Gesetzgebung 1783-1844 (Rostock 1846), S. 161 § 31.
92) Rörig (IV, S. 62, Anm. 88) erwähnt noch ein Schreiben des Lübecker Senats von 1875, das Änderungsvorschläge für die Segelanweisung der Reichsmarine enthält. Darin heiße es, daß die Änderungen des Lotsenkommandeurs sich nur auf die Teile der Segelanweisung bezögen, die "das Lübecker Gebiet" beträfen. Es handele sich um die Wassertiefen von 10-12 m. Nach Rörig steht der Ausdruck "Gebiet" im Sinne von Hoheitsgebiet. Dann würde er sich aber nur auf den Lübecker Teil der Travemünder Bucht beziehen können; denn wir wissen ja, daß der Senat sich in jener Zeit nach den völkerrechtlichen Regeln über Meereshoheit richtete. Im übrigen glauben wir nicht, daß der Ausdruck genau abgewogen ist. Schließlich wäre ja auch eine Lübecker Behauptung noch kein Beweis.
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Bucht tiefes Wasser am weitesten ans Ufer heranreicht. Man erkennt dies auf der Admiralitätskarte schon an dem Zurückspringen der Tiefenlinien von 4 und 6 m. Und auf dieser "Großen Reede" konnten eine ganze Menge Schiffe liegen 93 ). "Es war," um einen Satz Rörigs 94 ) auf den wirklichen Ankerplatz anzuwenden, "ein Zwang, der in den Dingen selbst lag, daß eben an dieser Stelle der Bucht und an keiner anderen eine Reede im nautischen Sinne entstehen mußte". Denn hier hatte man den besten Schutz, den die Bucht bietet, und zugleich ausreichende Wassertiefen. Nun aber geht doch die bekannte rechtsgeschichtliche Vorstellung Rörigs dahin, daß der wirtschaftliche Reedebetrieb zu einer Reedehoheit und dann zur Ausdehnung dieser Hoheit auf die an die Reede grenzenden Wasserflächen bis zum Ufer geführt habe. Abgesehen davon, daß diese "Durchdringungsthese" schon aus anderen Ursachen nicht zu halten ist 95 ), wo war denn außer in dem Gebiete diesseit der Majorlinie oder höchstens ganz unwesentlich darüber hinaus der wirtschaftliche Reedebetrieb, auf den doch alles aufgebaut ist? Von der nun örtlich festbestimmten Großen Reede können allerdings "keine Auswirkungen auf das Küstengewässer Priwall-Harkenbeck in dem von Lübeck angenommenen Maße ausgegangen sein" 96 ). Für den wirklichen Ankerplatz aber besaß Lübeck Schutzstreifen, und zwar am Lande selbst, wo sie wegen des Bergerechtes überhaupt allein Wert hatten. Es waren das Leuchtenfeld mit dem Travemünder Strand und der Priwall, dessen Besitz freilich bis 1803 umstritten wurde, den aber Lübeck Jahrhunderte hindurch heiß verteidigt hat. Eben am Priwall sind ja die Strandungsfälle außergewöhnlich zahlreich gewesen 97 ). Östlich von der Halbinsel dagegen hörte der Schutzstreifen auf, und wenn hier Schiffe oder Gegenstände ans Land


93) Rörig (IV, S. 58) spricht von dem "Travemünde am nächsten zugewandte und am dichtesten mit Schiffen belegten Teile der Reede". Wieviel Schiffe haben denn seiner Meinung nach im Durchschnitt auf der Reede geankert? In den Statistiken, die wie über den Lübecker Schiffsverkehr haben, sind doch auch die kleinsten Fahrzeuge mitgerechnet, die natürlich die große Mehrzahl bildeten, aber gar nicht zu leichtern brauchten. Bei Rörig III, S. 117 ist eine Zahl genannt; es heißt dort: "Auf der Reede lagen täglich mehrere Schiffe, z. B. am 29. November 1732 acht." Das können schon verhältnismäßig viele gewesen sein.
94) III, S. 135.
95) Vgl. Wenzel S. 106 ff.
96) Vgl. Rörig IV, S. 2. Der dort stehende Satz ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich ist das "keine" vor "Auswirkungen" zu streichen.
97) Archiv III, S. 10, Anm. 23 und besonders S. 36.
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geworfen wurden, so trat natürlich nicht die rechtliche Absurdität einer Lübecker Bergehoheit ohne Küstenbesitz in Kraft, sondern das mecklenburgische Strandrecht 98 ).

Ankergrund natürlich war auch noch jenseit der Großen Reede, nach der See zu 99 ). Daß man den Namen "Reede" auch


98) Rörig (IV, S. 21) kommt zurück auf den Fall von 1516. Wir verweisen demgegenüber auf die eingehende Besprechung des Falles in unserem letzten Erachten vom 12. Mai 1927 (s. oben S. 55 ff.). In Archiv III, S. 10 haben wir gesagt, Lübeck habe in seiner Erwiderung auf die mecklenburgische Beschwerde von 1516 als Strandungsort des einen Schiffes die Reede angegeben, "wobei der Ort Rosenhagen durchaus nicht genannt wurde" Rörig (IV, S. 21, Anm. 27) meint, dies stimme nicht. Es stimmt aber. In dem von Rörig zitierten Eingange des Lübecker Schreibens wird ja doch nur der Inhalt der Beschwerde Mecklenburgs wiedergegeben, auf die entgegnet werden sollte, d. h. es wird festgestellt, was Mecklenburg über den Strandungsort beider Schiffe behauptet hatte. Dabei mußten natürlich die beiden Örtlichkeiten, Priwall und Rosenhagen, genannt werden. Die Strandung am Priwall gab Lübeck dann zu. Bei der Angabe darüber, wo das zweite Schiff nach den angestellten Ermittelungen gestrandet sei, wird aber Rosenhagen nicht genannt, und darauf kommt es an. Die Strandung bei Rosenhagen sollte eben nicht zugegeben werden. Wenn Rörigs Auffassung des Schreibens richtig wäre, warum wurde dann nicht einfach gesagt, das Schiff sei zwar vor Rosenhagen gestrandet, aber das Bergerecht dort stehe Lübeck zu? Sehr gewundert haben wir uns über Rörigs Behauptung, daß das zweite mecklenburgische Schreiben (vom 14. Dezember 1516) "überhaupt nicht abgeschickt" sei, sondern daß die "Reinschrift" noch heute ohne Unterschrift im Schweriner Archiv liege. Wir hatten das Aktenstück im Original zur Einsicht nach Lübeck gesandt. Es ist ursprünglich als Reinschrift ausgefertigt gewesen, ist dann aber an vier Stellen durch Zusätze von einzelnen oder mehreren Worten verbessert worden, und zwar von der Hand des Kanzlers von Schönaich. Diese Stellen gehören zu den Erörterungen über das Eigentum am Priwall, und es sind zum Teil offenbar Auslassungen des Abschreibers berichtigt. Natürlich wurde die "Reinschrift" durch die Korrekturen wieder zum Konzept. Das ursprüngliche Konzept fehlt; man wird es als überflüssig vernichtet haben. Warum soll denn nun das Schreiben in der abgeänderten Form nicht abgeschickt sein? Selbstverständlich ist es abgeschickt. Fälle, in denen Reinschriften durch nachträgliche Verbesserungen wieder zu Konzepten werden, können sich noch heute in jeder Kanzlei ereignen. Wir haben verschiedentlich Beispiele dafür in unserem Archiv gefunden.
99) Mehr wird nicht damit gesagt, daß z. B. auf der Karte des Travemünder Hafens im Jahre 1848, etwa von den 4-Faden-Tiefen an bis über die Harkenbeck hinweg, mit großen Buchstaben geschrieben steht: Guter Ankergrund, Worte, die sich auf der Karte auch noch weit draußen in der Lübecker Bucht, nördlich vom Steinriff, finden (vgl. Archiv III. S. 47). Mehr bedeutet es gleichfalls nicht, daß es bei Behrens, Topographie und Statistik von Lübeck, 1. Teil, 1829, S. 76 heißt: "Der Ankergrund auf der Rhede besteht in fester Modde und Sand, ist 5 bis 10 Klafter tief und sicher" während das Steinriff, das
(  ...  )
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für dieses Gewässer verwendete, wäre schon an sich um so verständlicher, als die Travemünder Bucht nicht groß ist. Es ist aber auch vom nautischen Standpunkte aus zu erklären. Wie begründeten es denn Wismarer Zeugen 1597, daß sie den Hafen bis zum Ende der Wismarer Bucht rechneten? Damit, daß man hier "zwischen Landts" kam , wo "Beschutz" war und die Möglichkeit sich bot, ein Schiff vor Anker und Tau zu bergen 100 ). Praktisch-seemännische, nicht gebietsrechtliche Erwägungen führten zu dieser rein nautisch-geographischen Anschauung. Nicht für alle Wismarer Zeugen aber waren Hafen und "Tief" dasselbe, und tatsächlich befanden sich Reede und Hafen im Innenwinkel der Bucht.

Ähnlich lagen die Dinge vor Travemünde. Auch hier kam


(  ...  ) sich 1 1/2 Meile ins Meer hinein erstrecke, als "zum Ankern gefährlich" bezeichnet wird. Von den genannten Tiefen gehörten eben nur die von 5 Klaftern oder Faden zur Lotsen- und Leichter-Reede. Es waren zugleich deren wichtigste Tiefen, wo die Schiffe nach der Angabe des Lotsenkommandeurs Wohler "gewöhnlich" lagen. An einer anderen Stelle aber bei Behrens (S. 211) wird gesagt: "Die Rhede von Travemünde ist tief und sicher genug, daß Schiffe, welche 20 Fuß tief gehen, sich auf 320 Klafter dem Ufer nähern können." Dabei wird in einer Fußnote auf die französische Seekarte von Beautemps-Beaupré verwiesen. Nun werden Schiffe, die 20 lübische Fuß (5,75 m) tief gingen, wohl nicht in Betracht gekommen sein (5,80 m waren 1848 der mittlere Tiefgang der 20 größten Dampfer der Welt bei einem durchschnittlichen Gehalt von 1430 Tonnen, Archiv III, S. 15, Anm. 45), doch hat man offenbar ermittelt, wie weit solche Schiffe buchteinwärts zu bringen waren. Mißt man auf der französischen Seekarte eine Entfernung von 320 Lübecker Klaftern (552 m) vom Travemünder Ufer ab, so kommt man etwa 800 m nördlich vom Norderbollwerk über eine Tiefe von 16 französischen Fuß hinaus und in die Nähe einer Tiefenzahl von 20 Fuß. Legt man die Admiralitätskarte zugrunde, so überschneidet man etwa 700-1000 m nördlich vom Norderbollwerk, bei einer Entfernung von 552 m vom Ufer überall die 6-m-Tiefenlinie und kommt an einer Stelle fast genau auf eine Tiefe von 6,8 m. Es ist die Zahl, die auf unserer Kartenskizze kurz vor dem mit fetten Linien umrahmten Gebiet und dicht an der Peillinie Badehaus-Kirchturm steht. Weil hier nicht die Schiffahrtstraße ist, so kann sich die Angabe bei Behrens nur auf die Reede beziehen. Daß Schiffe von 20 Fuß Tiefgang bis auf 320 Klafter ans Ufer herangehen, wäre an anderen Stellen der Bucht bis zur Harkenbeck nur gegenüber und kurz vor der Bachmündung auf einer Strecke von etwa 300 m möglich. Schon weit jenseit Rosenhagens wird das Wasser viel zu flach dazu. Bei der Harkenbeck aber hätte es überhaupt keinen Zweck gehabt, sich der Küste so weit zu nähern, weil damit nicht das geringste gewonnen wäre. Die Entfernung bis zum Hafen wäre dieselbe geblieben.
100) Vgl. Archiv II, Anlage I, S. 197 f. Bezeichnend ist auch die Aussage: "In anderen Stetten hette es eine andere Gelegenheit, daß sie Tief und Have so weit nicht rechnen köndten." Das bezieht sich offenbar auf Häfen, die nicht an einer Bucht liegen.
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man, wenn man in die Bucht einfuhr, binnen Landes, in den Schutz einerseits der mecklenburgischen Küste, andererseits des Brodtener Ufers unter Hinzurechnung des flachen Steinriffteiles, der ebenfalls gegen hohe See schützt 101 ). Die wirkliche Reede aber lag - wie vor Wismar - in der inneren Bucht an der günstigsten Stelle. Und wenn weiter draußen, in dem äußeren Buchtgewässer, Schiffe Anker warfen, etwa des Nachts und bevor sie auf die Große Reede gebracht wurden, so könnte daraus eine Lübecker Gebietshoheit noch weniger gefolgert werden als aus dem Steineholen am Brodtener Strande 102 ) und ebenso wenig wie daraus, daß heute Kriegsschiffe oder andere große Dampfer noch jenseit der angeblichen Peilliniengrenze vor Anker gehen, auf einem Gebiet, das Lübeck selber nicht beansprucht 103 ). Die bloße Ankerung ist nicht einmal auf der Großen Reede ein Beweis für Gebietshoheit. Soll Mecklenburg sein Recht verloren haben, weil vielleicht mitunter auf seinem Buchtanteil ein Schiff Anker warf, was in keinem einzigen Falle aktenmäßig bezeugt ist?

Nicht darauf kommt es an, was man im geographischen Sinne oder auf Grund von geographisch-nautischen Vorstellungen Reede nannte, sondern allein auf die Lotsen- und Leichter-Reede. Diese Feststellung ist zu treffen, bevor die Quellen besprochen werden können, die Rörig aus den Akten über Fischereistreitigkeiten herangezogen hat.

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101) Vgl. die Angabe des Hafenkapitäns Murken, Rörig IV, Anl. 3, zu 3, S. 73.
102) Über dieses Steineholen vgl. auch Kühn, S. 5.
103) Vgl. Archiv III, S. 59.
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II. Die Quellen
der Akten über Fischereistreitigkeiten.

Es ist hier einzugehen auf den ersten Teil des neuen Rörigschen Gutachtens 104 ), der die "Reedebegriffe in den Verordnungen etc. der Lübecker Behörden" behandelt.

In Archiv III (S. 51) haben wir den kurzen Auszug Rörigs (II, S. 245) aus einem Wetteentscheid von 1823, worin eine etwa "beim Möwenstein anfangende und sich von dort noch weit in die See erstreckende Außenreede" erwähnt wird, mit dem bekannten Lübecker Fischereiprozeß von 1823-25 in Verbindung gebracht. Tatsächlich bezieht sich der Auszug, wie Rörig jetzt mitteilt, auf eine Beschwerde der Schlutuper Fischer über einen Travemünder Schiffszimmermann, der Krabbenkörbe an der westlichen Buchtküste jenseit des Möwensteins ausgesetzt hatte, was angeblich gegen den Fischereivergleich von 1610 verstoßen sollte. Ferner hatten wir aus dem Auszuge geschlossen, daß die eigentliche nautische Reede ungefähr beim Möwenstein zu Ende gewesen sei und daß man das Gewässer weiter seewärts, "richtiger gesagt jenseit der Majorlinie", als Außenreede bezeichnet habe. Nun hat aber Rörig (IV, S. 5) einen anderen Auszug aus den Akten beigebracht. Er teilt zunächst mit, daß die Wette einen Vergleich befürwortete, der den Travemündern das Setzen von Garnkörben jenseit des Möwensteins gestattet hätte. Dies wurde folgendermaßen begründet:

"Herrn der Wette glauben deshalb vielmehr, daß man im Sinne des Vergleichs von 1610 die Linie von dem Möwenstein auf der holsteinischen Seite nach der Harkenbeck auf der Mecklenburger Seite als Gränzlinie zwischen der See und der Rehde ansehen, das Wasser jenseits derselben, wenn ein Teil davon auch die nirgends erwähnte und beachtete sogenannnte Außenrehde ausmachen möchte, als die offene See und das Wasser diesseits jener Linie . . . . . als die Rehde annehmen müsse, und zwar um so mehr, da . . . . . bis zum Mevenstein noch ein


104) IV, S. 4-25.
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bedeutender Wasserbezirk für die in dem Vergleich benannte Außentrave und ganze Rehde und für die ausschließlichen Berechtigungen der Lübecker Fischer 105 ) vorhanden ist."

Nach Rörig kommt das Wort "Außenreede" nur an dieser Stelle in den Lübecker Akten vor. Zum wenigsten also hat er es nur einmal gefunden. Weiter meint er, die Außenreede sei "niemals eine Realität gewesen", "sondern das am grünen Tisch ersonnene Auskunftsmittel einer Behörde, die einen Ausgleich schaffen" wolle 106 ). Nun ist allerdings richtig, daß die von der Wette hier gezogene Reedegrenze "am grünen Tisch ersonnen" ist, indem, wie Rörig mit Recht sagt, die beiden in dem Vergleich von 1610 genannten Punkte - Möwenstein und Harkenbeck - "ganz mechanisch" miteinander verbunden wurden. Wenn aber Rörig der Ansicht ist, daß die Wette einen Teil der Reede ausgeschieden und zu diesem Zwecke eine Außenreede "konstruiert", also erfunden habe, so kann man mit demselben Rechte behaupten, daß sie die Außenreede den beiden im Vergleich von 1610 vorgefundenen Punkten zuliebe noch weiter hinausgeschoben habe, als sie tatsächlich lag. Daß der Ausdruck "Außenreede" von der Wette neu aufgebracht wurde, halten wir für ausgeschlossen, und zwar schon deswegen, weil die Wette von der "sogenannten" Außenreede sprach, ein Beiwort, daß niemals hätte angewendet werden können, wenn die Bezeichnung "Außenreede" sonst ungebräuchlich gewesen wäre. Auch in dem früher von Rörig gegebenen Auszuge, dessen Ergänzung wünschenswert ist, wird doch ganz eindeutig die etwa "beim Möwenstein anfangende ... Außenreede" genannt. Daß ein solcher Begriff in einem Streitverfahren, in dem es gerade auf geographische Umschreibungen ankam, plötzlich und ohne Begründung neu eingeführt worden sei, kann man nicht annehmen Zwar erklärte die Wette, die Außenreede werde "nirgends erwähnt und beachtet", aber das bezieht sich doch selbstverständlich nur auf die Fischereiordnungen, im besonderen auf den in Frage stehenden Vergleich von 1610. Warum sollte man die Bezeichnung "Außenreede", die doch anderwärts gebraucht wurde, in Lübeck nicht gekannt haben?

Der Senat war mit dem Wettevorschlage nicht einverstanden. Er griff auf ein früheres Dekret vom 29. Juni 1822 zurück. "Den Travemündern blieb also," wie Rörig hinzufügt, "auch weiterhin das Setzen von Garnkörben an der holsteinischen Seite über den


105) "ausschließlich" natürlich im Verhältnisse zu den Travemündern gemäß dem Vergleich von 1610, wie die Wette ihn verstand.
106) Rörig IV, S. 7, Anm. 7.
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Möwenstein hinaus verboten." Auch bemerkt Rörig, daß "der Senat sich auf den Standpunkt stellte, daß durch den Vergleich von 1610 die ganze Reede den Travemündern verschlossen sei; folglich auch die über den Möwenstein hinausgehende Uferstrecke." So wurde der Vergleich auch von den Schlutuper Fischern, den Gegnern der Travemünder, aufgefaßt 107 ). Und so hatte vormals auch die Wette gedacht 108 ).

Nun aber hat Kühn nachgewiesen, daß an der westlichen Buchtküste der Brodtener und der Gneversdorfer Strand außerhalb der Reede lagen, und er erblickt die Südgrenze der Gneversdorfer Strandstrecke wohl mit Recht im Möwenstein. Sicher ist soviel, daß sie in der Nähe des Möwensteins und der alten Schanze zu suchen ist 109 ). In dem Niendorfer Fischereivergleich zwischen Lübeck und Oldenburg von 1817 bedeutet die Grenzbestimmung "von der Travemünder Rehde an" nach den Darlegungen Kühns unzweifelhaft: vom Gneversdorfer Strande an, dessen Südgrenze also mit dem Ende der Reede zusammenfällt 110 ). Es ist Kühn darin zuzustimmen, daß in dem Vergleich nur die nautische Reede vor Travemünde gemeint sein kann, die, wie es 1731 heißt, "der Gegend des Leuchten-Feldes" lag 111 ).

Mithin ergibt sich, daß in dem Vertrage von 1817 mit einer Reedegrenze (wahrscheinlich dem Möwenstein) operiert wird, die zu dem gegen die Travemünder gerichteten Senatsdekret von 1822 nicht passen würde. Wenn dieses Dekret den Travemündern die ganze Reede verschließen wollte, zur Reede also auch das Steinriffgebiet jenseit des Möwensteins rechnete, so muß "Reede" hier in einem anderen Sinne aufgefaßt sein als in dem Niendorfer Vergleich von 1817, und man kann dann nur die ganze Travemünder Bucht, also die Reede im geographischen (nicht nautischen) Sinne, darunter verstehen. Eben daraus, daß die Bezeichnungen "Reede" und "Travemünder Bucht" in neuerer Zeit durcheinander gehen 112 ), ergibt sich ja von selbst, daß Reede und Bucht identische Begriffe im geographischen Sinne sind 113 ).


107) Vgl. Rörig IV, S. 5.
108) Ebd. S. 6.
109) Kühn S. 9 und 22 f. Vgl. unser Erachten vom 12. Mai 1927 (Archiv IV, S. 36). Speziell über den Möwenstein als Grenzpunkt hat Kühn in dem uns damals nach nicht bekannten Teile seiner Schrift nichts Neues mehr vorgebracht.
110) Kühn S. 25 ff.
111) Vgl. oben S. 86.
112) Rörig IV, S. 27 f. Den Ausdruck "Travemünder Bucht" hat er zuerst in einem Aktenstück von 1825 gefunden.
113) IV, S. 28 meint Rörig, die Annahme, daß der Name "Reede" als geographische Bezeichnung auf die ganze Bucht ausgedehnt sei, er-
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Das Wichtigste, was Rörig aus den Akten über den Streitfall von 1823 mitteilt, ist, daß die Wette das Gewässer jenseit der Linie Möwenstein-Harkenbeck als "offene See" ansah. Damit ist natürlich die ganze Rörigsche Reedebegrenzung gar nicht zu vereinbaren. Die Wette wollte sagen: Die "sogenannte" Außenreede ist eigentlich schon offene See. Nach dem Bericht des Lotsenkommandeurs Harmsen von 1828 fing die See - d. h., wie eine andere Stelle des Schriftstückes ergibt, die offene See 114 ) - sogar schon an der Majorlinie an. Nun fragt Rörig, warum denn die Wetteherren "in ihrem offensichtlichen Bemühen, die allzu schroffen Forderungen der Schlutuper den Travemündern gegenüber einzudämmen", nicht mit Vergnügen auf die Majorlinie als Grenze zurückgegriffen hätten. Aber vorausgesetzt, daß die Wette, die ja kein Lotsendepartement war, von dieser Linie überhaupt etwas wußte, so würde sie sie dennoch nicht haben benutzen können, weil sie ja dann den Travemündern die ganze Wendseite vor dem mecklenburgischen Ufer preisgegeben hätte, was damals keineswegs in ihrer Absicht gelegen haben kann. Denn in Wirklichkeit haben Wette und Senat damals den Fischereivergleich von 1610 nicht interpretiert, sondern vergewaltigt. Der Vergleich gab ja den Travemündern für ihre Stellnetzfischerei klar und deutlich Rechte auf den Strecken Blockhaus-Möwenstein und Blockhaus-Harkenbeck, also gerade innerhalb der Reedegrenze, die von der Wette angeblich im Sinne des Vergleichs, in Wahrheit aber, wie auch Rörig bemerkt, im Widerspruche zu ihm gezogen wurde.

Wie die Wette erklärte, blieb bis zum Möwenstein noch ein bedeutender Wasserbezirk für die in dem Vergleich von 1610 den Travemündern versagte "Außentrave und ganze Rehde". In der Tat lag ja die Reede binnen der von der Wette angenommenen Linie Möwenstein-Harkenbeck. Diese führt mitten durch die Tiefen von 10 bis 12 m, die Rörig für die Reede in Anspruch nimmt, hindurch. Hinter der Linie war nach der Wette nur noch Außenreede oder vielmehr offene See. Daß aber durch die mechanische Verbindung der beiden Fischereigrenzpunkte, die der Vergleich von 1610 nennt, eine im nautischen Sinne haltbare Scheidung zwischen Reede und Außenreede hergestellt sei, daß also die Lotsen und Leichterreede just bis zu der für Reedezwecke ganz unmög-


(  ...  ) fordere, daß sich zunächst die Bezeichnung "Bucht", dann "Reede" noch weisen lasse; das Gegenteil sei aber der Fall. Dieses Gegenteil indessen reicht nur bis zum Fischreusenstreit zurück. Als es überhaupt noch keine Lübecker Seereede gab, muß die Bucht doch anders genannt sein.
114) Vgl. Archiv II, S. 126 f.
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lichen Linie Möwenstein-Harkenbeck reiche, hat die Wette natürlich selber nicht behaupten wollen. Sie konstruierte nur gewissermaßen eine Fischereireede.

Nach Rörig ergebe sich aus dem Vorgang, daß die Wetteherren "selbst bei ihrem Versuch, zugunsten der Travemünder die Wirkung des Vergleichs von 1610 zu begrenzen, die Reede bis zur Harkenbeck als der Verordnungsgewalt Lübecks unterworfen betrachten; und das bis zum Ufer". Er setzt dabei aber wiederum voraus, daß die lübische Buchtfischerei vor dem Mecklenburger Ufer auf Gebietshoheit beruhte. Und wie steht es denn mit der "offenen See" jenseit der Linie Möwenstein-Harkenbeck, wo doch auch noch Lübecker Eigengewässer gewesen sein soll?

Was Rörig dann weiter über die "räumlichen Grundlagen" (Reede im nautischen Sinne und Reede im weiteren Sinne) ausführt, ist ja nichts Neues mehr, sondern schon in seinem ersten Erachten vorgebracht worden. Auf alle diese Dinge kommt es überhaupt nicht mehr an, seit feststeht, wo die Reede tatsächlich lag. Gewiß haben wir in Archiv III (S. 51 f.) zugegeben, daß in dem Lübecker Fischereiprozeß von 1823-25, in dem die Travemünder endlich ihre rechtmäßigen Ansprüche durchfochten, das ganze tiefe Gewässer der Bucht Reede genannt wurde. Aber ganz entschieden erheben wir Einspruch gegen Rörigs Behauptung, daß dies "in seinen Folgen eine Preisgabe der bisher eingenommenen Position und vor allem der in den von Mecklenburg eingereichten Rechtsgutachten enthaltenen Voraussetzungen örtlicher Art" sei 115 ). Das ist ja gerade der Fehler Rörigs, daß er sich durch die Bezeichnung Reede für das ganze mittlere Buchtgewässer dazu hat verleiten lassen, die eigentliche Reede viel zu weit seewärts auszudehnen, ja - auf der Kartenskizze 2 seines ersten Erachtens - überhaupt erst von der 10-m-Tiefenlinie an zu rechnen, während sie tatsächlich schon vor dieser endete.

Nun wird in den Akten des Oberappellationsgerichts über den erwähnten Prozeß der Ausdruck "eigentliche Reede" gebraucht, und Rörig 116 ) glaubt uns vorwerfen zu können, daß wir diesen "aktenmäßig eindeutig festgelegten Begriff" für unsere "Platenreede" verwendet hätten. Darauf allerdings sind wir nicht verfallen, das "eigentlich" der Gerichtsakten so zu pressen. Weil ja auch die gesamte Bucht bis zu den Küsten hin Reede genannt wurde, das Gericht aber das mittlere, für den Schiffsverkehr in


115) Rörig IV, S. 9.
116) IV, S. 10 mit Anm. 13.
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Betracht kommende Gewässer von der strittigen Fischereistrecke am Ufer unterscheiden wollte, so mußte ein Ausdruck gefunden werden, der diese Trennung aussprach. Hierzu diente das Wort "eigentlich". Wir haben den Akten dadurch volles Genüge getan, daß wir gesagt haben, es sei "das ganze tiefe Gewässer der Bucht als Reede bezeichnet worden." Von einer Außenreede sprechen die Akten nicht. Aber was sie Reede nennen, ist ja auch nicht nur die Außenreede, sondern auch die Leichterreede, weil die ganze neben der Reede verlaufende Fischereistrecke beim Blockhause an der Travemündung beginnt.

Sehr unberechtigt ist auch die Polemik, die Rörig (IV, S. 48 f.) gegen unsere Verwertung des Urteils richtet, das in zweiter Instanz vom Lübecker Obergericht gefällt wurde. Wir haben ja in Archiv III (S. 52) ausdrücklich gesagt, daß die Auslegung des Vergleichs von 1610 durch das Obergericht unzutreffend und auch hernach vom Oberappellationsgericht abgelehnt sei. Das Fehlsame des Urteils lag aber nur darin, daß das Gebiet zwischen Reede und Küste in zwei Längsteile zerlegt und den Travemündern nur der jenseit der Wadenzüge gelegene Teil zugewiesen wurde. Nur dies hat auch das Oberappellationsgericht getadelt. Unser Schluß aber, daß hinter den Wadenzügen noch ein nicht zur Reede zu rechnendes Fischereigebiet gelegen habe, bleibt unberührt. In den Entscheidungsgründen des Oberappellationsgerichts 117 ), die Rörig gegen uns gelten macht, heißt es:

"Die jetzt von den Beklagten vertheidigte, dem vorigen Urtheile zum Grunde liegende Auslegung jener Vorschrift, nämlich daß die Travemünder ihre Netze nur in dem Raume ausstellen dürfen, welcher zwischen der Rhede und derjenigen Entfernung vom Ufer, worin die Schlutupper nach dem Herkommen ihre Waden auswerfen, übrig bleibt, ist eben so wenig anzunehmen."

Hier wird doch die Existenz dieses Raumes nicht geleugnet!

Daß wir auch die Stelle über die Majorlinie, die sich in der Eingabe der Schlutuper Fischer von 1825 findet, im Archiv III, S. 54 f., richtig ausgelegt haben, ergibt unsere Kartenskizze.

Die Vorstellungen örtlicher Art, wie sie in dem Prozeß von 1823-25 erscheinen, hat Rörig in die frühere Zeit zurückprojiziert. Sie seien mindestens seit dem 16. Jahrhundert dieselben gewesen. Wir sind anderer Meinung. Wo wir in den Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts auf den Begriff "nautische Reede" stoßen, kann nur die "Reide bey dem Lüchtenfeldt" gemeint sein. So in der


117) Siehe den Auszug bei Rörig III, Anl. 2, S. 145.
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Aussage des Zöllners vor dem Holstentore von 1547. Aus dessen Worten "Strom und Stranth van der Reide an beth in de Herckenbecke" läßt sich niemals folgern, daß er das ganze tiefe Gewässer bis zur Harkenbeck zur Reede habe rechnen wollen. Dann der Fischereivergleich von 1610. Er verschließt den Stellnetzen der Travemünder sowohl den Travestrom innerhalb und außerhalb des Blockhauses (Fahrwasser) wie die "ganze Reide". Vor den Uferstrecken Blockhaus-Möwenstein und Blockhaus-Harkenbeck aber durften die Netze unter gewissen Bedingungen ausgesetzt werden. Folglich: Das Gewässer vor diesen Uferstrecken gehörte nicht zur Reede. Es versteht sich, daß man nur die nautische Reede im Auge hatte, und zwar wiederum die beim Leuchtenfeld. Diese den Travemündern zu verwehren, hatte Sinn. Sie kam an sich in ihrem ganzen Umfange als Fischereigebiet in Betracht. Wenn aber hier, wo die Schiffe sich in mehr oder weniger großer Zahl versammelten, stehende Netze verwendet wurden, so mußte das den Schiffsverkehr und den Leichterbetrieb stören. Warum aber hätte man das Verbot auf die ganze mittlere Buchtfläche ausdehnen sollen? In der eigentlichen Mitte der äußeren Bucht, wo das Wasser am tiefsten ist und die Fahrstraße entlangführt, hätte es überhaupt keinen Zweck gehabt, Netze auszusetzen; denn hier halten sich, wie wir aus dem Prozeß von 1823 wissen, keine Fische mehr auf 118 ). Eben hier aber müßte man doch die Reede suchen, wenn sie wirklich in dieser Gegend gelegen hätte. Nur bei ablandigem Wind käme, wie der Hafenkapitän Murken angibt 119 ), als Ankerplatz für kleinere Schiffe außerhalb des Leuchtfeuersektors "wohl auch noch" die Mecklenburger Seite bis zur 10-m-Tiefengrenze in Betracht. Näher jedenfalls könnten die Schiffe wegen der Gefahr nördlicher Winde auch vormals nicht ans Ufer herangegangen sein; die Wassertiefen sinken hier schnell, der Strand ist viel flacher als vor dem Leuchtenfelde. Zwar wurde noch eine Strecke jenseit der Wadenzüge, die bei 4 bis 5 Faden Tiefe nach der Küste zu begannen, gefischt 120 ); aber dieses für den Fang noch brauchbare, wenn auch gewiß weniger fischreiche Gebiet wurde in dem Vergleich von 1826 den Travemündern für ihre Stellnetze freigegeben, und zwar von der Majorlinie an und für gewisse Zeiten und Tage landwärts bis zur Linie Travemünder Kirchturm-Leuchtturm 121 ), die vor dem Mecklenburger


118) Vgl. Archiv III, S. 53, Rörig III, S. 84.
119) Rörig IV. Anl. 3, zu 4 (S. 73).
120) Archiv III, S. 53.
121) Rörig II, Anl. IV, S. 321 f.
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Ufer ungefähr auf der 10-m-Tiefengrenze verläuft. Es ist eben das Gebiet, das nach dem Hafenkapitän Murken vielleicht noch für Reedezwecke in Betracht käme. Warum also hätte man den Travemündern 1610 verbieten sollen, was ihnen 1826 zugestanden wurde?

Gegen unsere Auffassung des Begriffs "Reede" in dem Vergleich von 1610 spricht keineswegs der Streitfall von 1634, den Rörig (IV, S. 18) anführt. Damals beschwerten sich die Lübecker und Schlutuper Fischer unter Hinweisung auf den offenbar falsch ausgelegten - Vergleich von 1610 darüber, daß die Travemünder ihre Netze an den Buchtküsten bis zum Möwenstein und bis zur Harkenbeck ausgestellt hätten. Daraufhin verbot die Wette den Travemündern das Setzen von Netzen "in der Wentside biß an die Harkenbeeke". Das Wort Reede kommt hier nicht vor. Schauplatz des Konfliktes war, wie so oft, das Gebiet der Wadenzüge in der Nähe des Strandes. Und wenn die Beschwerdeführer darauf hinwiesen, daß den Travemündern doch "die ganze offenbare Sehe auswendig der Harkenbeeke" zur Verfügung steht, und verlangte, daß sie "an ihrem Ordte jenßeit der Harkenbeeke" blieben, so wird dadurch bestätigt, was schon längst feststeht, daß nämlich der Lübecker Rat auch über die Fischerei außerhalb der Harkenbeckmündung Bestimmungen erlassen hat, selbstverständlich nicht auf Grund von Gebietshoheit.

Nun meint Rörig, es begegneten 1634 dieselben Vorstellungen wie bei den Streitigkeiten der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts: Eigentliche (nautische) Reede bis zur Harkenbeck und zwischen Ufer und Reede sich erstreckende, also die Reede in ihrem Verlauf bis zur Harkenbeck begleitende Wendseite. Indessen begegnet nur die Bezeichnung "Wendseite" für die mecklenburgische Seite der Bucht. Aus den Worten "offenbare Sehe auswendig der Harkenbeeke" ist für die nautische Reede, deren Lage und Abgrenzung nach der See zu nicht das geringste zu entnehmen. "Offen", "frei" und "offenbar" waren um jene Zeit beinahe stehende Epitheta des Meeres überhaupt, und im Fischreusenstreit wurde 1616 von den Mecklenburgern auch das Gewässer vor Rosenhagen, wo die Reuse stand, also noch diesseit der Harkenbeck, fortwährend "offenbare" (oder offene, freie) Ostsee genannt 122 ). Wäre der Ausdruck "offenbare Sehe" in der Quelle von 1634 auf eine bestimmte Vorstellung von den lokalen Verhältnissen zurückzuführen, so doch höchstens darauf, daß an der


122) Vgl. Archiv II, S. 76 mit Anm. 127 und S. 204 f.
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Harkenbeck die Buchtfischerei zu Ende war 123 ). Mit der Reedelage aber hat das nichts zu schaffen.

Für die ältere Zeit steht nur fest, daß es eine nautische Reede beim Leuchtenfelde gab und daß man auch das Gewässer weiter seewärts, und zwar bis an den Strand, Reede nannte. In diesem umfassenderen Sinne kommt die Bezeichnung, soweit wir sehen, am frühesten im Fischreusenstreit von 1616 vor. Und vor ausgesetzt, daß sie damals nicht erst aufgebracht wurde, so muß sie doch so farblos gewesen sein, daß noch sechs Jahre vorher, eben bei dem Vergleich von 1610, niemand daran dachte, den Ausdruck "ganze Reide" auf die gesamte Bucht zu beziehen.

In dem Fischereiprozesse von 1823-25 ist man nicht zu der offenbar einzig richtigen Auffassung der "ganzen Reide" von 1610 zurückgekehrt, hatte allerdings auch wenig Ursache, sich gerade hierüber den Kopf zu zerbrechen, weil es ja nicht auf das tiefe Gewässer der Bucht, sondern auf die strittige Fischereistrecke am Ufer ankam. Ein Fortschritt gegenüber den früheren Interpretationen durch Lübecker Behörden war es schon, daß man das Wort "Reide" im nautischen Sinne verstand. Auch die Wette meinte jetzt, im Widerspruche zu ihren sonstigen Auslegungen, es habe den Anschein, daß der Tatort vor Rosenhagen, wo die Netze der Travemünder von den Waden der Schlutuper weggerissen waren, weder zum Strom (Travenstrom außerhalb des Blockhauses) noch zur Reede gehöre 124 ). Indem man aber die Reede des Vergleichs von 1610, entsprechend der Fischereistrecke am Ufer, bis zur Harkenbeck rechnete, ergab sich die Scheidung zwischen Reede und Fischereistreifen von selbst.

Wenn auch klar war, daß für den Schiffsverkehr nur das tiefe Wasser in Betracht kam, so scheint uns doch diese Längsteilung des Buchtgebietes erst eine zur Zeit des Prozesses vorgenommene Konstruktion zu sein. Hätte man von jeher solche festen Vorstellungen gehabt, so wären die früheren Auslegungen des Vergleiches von 1610 durch Senat und Wette (Reede gleich der ganzen Bucht, Reede bis zur Linie Möwenstein-Harkenbeck) noch unverständlicher, als sie an sich schon sind. Und es hätte dann schwerlich zu einer solchen Begriffsverwirrung kommen können, daß die Schlutuper Fischer 1823, in dem Falle des Travemünder Schiffs-


123) Wir erinnern an die Nachricht von 1825, wonach in der See "über die Harkenbeck hinaus es Wind und Wetter selten zuließen, ohne Lebensgefahr Netze zu setzen" Rörig III, S. 84.
124) Nach der Korrelation des Oberappellationsgerichtsrates Overbeck zum Urteil von 1825.
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zimmermannes, die Reede über den Möwenstein hinausrechneten, also die ganze Bucht darunter verstanden, in dem Prozesse aber, der im selben Jahre ausbrach, behaupteten, das Revier der Travemünder sei die Mitte der Bucht, während die Travemünder entgegneten, dort sei gerade entweder der Travenstrom außerhalb des Blockhauses oder die Reede.

Indessen hat die Scheidung zwischen Reede und Fischereistreifen in der äußeren Bucht gar keine Bedeutung. Denn was man hier Reede nannte, ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Außenreede, mochte man sie so bezeichnen oder nicht. Sie ist, wie wir in Archiv III (S. 54) gesagt haben, die Verlängerung der eigentlichen nautischen Reede nach der See zu. Die "eigentliche" Reede aber lag vor dem Leuchtenfelde, in der inneren Bucht.

In Archiv III (S. 59) haben wir angeführt, daß die Travemünder Fischer noch heute die Wasserfläche zwischen dem Traveauslauf und den letzten Fahrwassertonnen als ein Gebiet "binnende Reide" bezeichnen. Rörig 125 ) hat dies nicht bestritten, will es aber so auslegen, als ob das Gebiet diesseit der Reede gemeint sei, weil die Reede "notorisch" außerhalb der Tonnen liege. Seine Deutung ist unhaltbar. "Binnen de Reide" kann schon an und für sich nur heißen: auf der Reede. Und außerdem ist man nach dem Sprachgebrauch der Fischer, wenn man sich jenseit der Ansegelungstonnen befindet, "butende Reide". Entsprechende Begriffe finden wir in Hinsicht auf die Trave in der Fischereiordnung von 1585: "binnen der Traven" (d. h. auf dem Traveflusse selbst) und "in der See, buten der Traven".

"Binnen de Reide" und "buten de Reide" werden hergebrachte Bezeichnungen sein. Willkürlich ist dabei nur die Abgrenzung durch die Ansegelungstonnen; denn diese Richtungspunkte gab es früher nicht, noch auf der Admiralitätskarte von 1890 liegen die äußersten Tonnen viel weiter buchteinwärts, und zwar dicht an der Linie Gömnitzer Turm-Brodtener Ufer (Majorlinie). Ein Gebiet "buten de Reide" aber läßt sich doch höchstens als Außenreede ansehen.

Aus der Bezeichnung "Reede" für eine Wasserfläche, auf der man vor Anker ging oder gehen konnte, läßt sich keine Gebietshoheit ableiten. Heute sind nach Ansicht des Travemünder Lotsenkommandeurs "alle Schiffe, die innerhalb des 54. Breitengrades in Sicht des Leuchtturms ankern, als auf der Reede liegend anzu-


125) IV, S. 50, Anm. 72.
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sehen." 126 ) So auch "nach dem Sprachgebrauch der Lotsen" 127 ) Danach können Schiffe kilometerweit jenseit der Harkenbeck und doch auf der Reede sein. Was hat das mit Lübecker Gebietshoheit zu tun! "Da Lübeck," so sagt Rörig 128 ), "aus der Tatsache, daß heute die Reede noch über die Harkenbeck hinausreicht, keine Hoheitsansprüche in Fischereisachen abgeleitet hatte, gehören diese Dinge nicht mehr hierher." Man fragt sich mit Erstaunen, ob denn solche Ansprüche überhaupt für möglich gehalten werden. Und mit ebenso großem Erstaunen liest man bei Rörig 129 ) den Satz: "Um keine Irrtümer aufkommen zu lassen, ist aber festzustellen, daß für alle Fragen, welche mit der Schiffahrt zusammenhängen, die Reede auch außerhalb der Linie Harkenbeck-Gömnitzer Turm ebensogut Lübecker Hoheitsgebiet ist, als die Reede innerhalb dieser Grenze; nur Lübecker Aufsichtsbehörden haben mit den hier ankernden Schiffen zu tun." Wenn diese Aufsichtsbehörden überhaupt mit den Schiffen zu tun haben, so handeln sie selbstverständlich nicht auf Grund von Gebietshoheit, sondern kraft der Hoheit über den eigentlichen Hafen. Sonst sind die Schiffe gar nicht genötigt, Lübecker Aufsichtspersonen an Bord zu lassen.

Was Rörig von seinem Standpunkte aus nachweisen muß, das sind nicht nautische Benennungen für Wasserflächen, sondern unzweifelhafte Lübecker Hoheitshandlungen im mecklenburgischen Küstengewässer. Diese fehlen. Denn daß die Fischerei der lübischen Fischer nicht auf Grund von Gebietshoheit geregelt sein kann, ist in den von mecklenburgischer Seite vorgelegten Erachten gezeigt worden. In dieser Hinsicht behält auch unsere Rekonstruktion des Punktes A auf der Sahnschen Karte von 1823 ihre Bedeutung 130 ). Rörig behauptet, auf der Originalkarte müsse der Punkt anders gelegen haben 131 ). Wenn jedoch


126) Rörig IV, Anl. 2, zu 6 (S. 71).
127) Rörig III, S. 99.
128) IV, S. 65, vgl. III, S. 100.
129) III, S. 100, Anm. 68.
130) Vgl. Archiv III, S. 66 f. und Beilagen 5 a und b.
131) Rörig IV, S. 13, Anm. 18. Er meint, der Punkt A stehe nicht im Einklange mit dem Kommissionsbericht von 1825 (Rörig III, S. 83). Dieser Bericht ist allerdings etwas unklar, aber zu deuten. Denn wenn die Kommission vom Möwenstein "bis zur äußersten Spitze des Harkenbecker Ufers" und dann an Rosenhagen vorüber auf den Punkt A fuhr, so bedeutet "Harkenbecker Ufer" natürlich nicht das Bachufer am Lande, sondern die Küste, an der die Harkenbeck mündet, d. h. die Mecklenburger Küste bis zur Harkenbeck. Die "äußerste Spitze" aber kann nur die Westgrenze der betreffenden Strecke sein.
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etwas sicher ist, so ist es die Lage dieses Punktes, für den es drei Winkelbestimmungen gibt (zwei genügen schon) und der sich auf zwei Seekarten, von denen eine über hundert Jahre alt ist, bestimmen läßt. Der Punkt liegt sowohl außerhalb der Bucht wie außerhalb der Peillinie Gömnitzer Berg-Pohnsdorfer Mühle. Selbstverständlich handelt es sich, wie Rörig bemerkt, "einfach um einen Punkt, von dem aus die Fischer die äußerste Befischung der Strecke Priwall-Harkenbeck mit Waden vornehmen". Dafür, so fährt Rörig fort, sei es "natürlich vollkommen gleichgiltig, ob sie damit auf irgendeiner Peillinie oder Reedegrenze sich befinden; Wadenzüge der Schlutuper Fischer gehen ja bekanntlich über die Harkenbeck weit hinaus". Alles richtig, aber wie steht es dann mit der Gebietshoheit 132 )?

Seit seinem dritten Erachten vertritt Rörig ja die Meinung, daß man eine "lineare Grenze" seewärts überhaupt nicht gehabt habe. Das hat aus seinen beiden ersten Arbeiten wohl niemand entnommen. Und er kann sich doch eigentlich keiner Täuschung darüber hingeben, daß Grenzen, die Lübeck heute für passend hält, in dem schwebenden Prozesse ohne jede Bedeutung sind. Daß übrigens Rörig (IV, S. 62) die Peilliniengrenze den Ortsbestimmungen im Urteil des Oberappellationsgerichts von 1825 gewissermaßen hinzuinterpretiert, halten wir für ebenso irreführend wie die Vermengung der Peillinie mit den "Angaben der Quelle" des 16. Jahrhunderts bei Rörig III, S. 133.

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Nach Rörig 133 ) zerfallen unsere "Bemühungen", seine Beweisführung oder, wie er meint, die "urkundlich unbedingt gesicherten Tatsachen" zu erschüttern, in zwei "Gruppen". Erstens nämlich sollen wir "die gesamten in den Lübecker Quellen vorkommenden


132) IV, S. 29 behauptet Rörig wiederum, daß "die Mecklenburger selbst" die Wendseite als "der Lubschen Fischer Fischzuge-Seite" bezeichnet hätten (vgl. Rörig I, S. 60). Es handelt sich um die bei Rörig I, S. 56 wiedergegebene Aussage des Schneiders Dechow in dem Fahrrechtsfalle von 1615. Ihr Zweck (Feststellung des Fundortes der Leiche) ergibt sich aus unserer Darstellung in Archiv II, S. 112 ff. Gemeint ist aber gar nicht die ganze Wendseite, die ja bis zum Ufer reichte und auf der die Leiche natürlich gelegen hatte, sondern bloß die Gegend, wo die Waden ausgeworfen wurden. Das geht ja aus dem Protokoll über die Zeugenaussagen wie aus dem ganzen Zusammenhange klar hervor. Was Rörig mit der Aussage beweisen will, begreifen wir nicht. Der Fall lehrt gerade, daß Mecklenburg den Lübeckern die Wendseite bis an den Strom nicht zugestand. Und daß die lübischen Fischer in der fraglichen Gegend mit Waden fischten, wissen wir ja ohnehin.
133) IV, S. 26 f.
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Angaben" als Verhüllung von "Anmaßung", "Gewalthandlung" oder "Irrtum" dargestellt haben. Und Rörig nennt das "den Versuch der einseitig parteiischen Verdächtigung der gesamten amtlichen Tätigkeit Lübecks auf diesem Gebiete durch die Jahrhunderte". Das ist eine starke Übertreibung. Für unbedingte Gewalthandlungen Lübecks Mecklenburg gegenüber halten wir nur die Reusenzerstörungen. Bei den paar Übergriffen ins Bergerecht aber liegen die Dinge anders; um sie richtig zu beurteilen, muß man den Widerstreit berücksichtigen, der zwischen den Rechtsanschauungen der Landesherren und der Seestädte über das Bergerecht obwaltete. Die Städte hielten sich für befugt, überall selbständig zu bergen. Daher glaubte auch Lübeck in derlei Fällen nicht gegen die mecklenburgische Gebietshoheit zu verstoßen, um so weniger, als es besondere mecklenburgische Strandrechtsprivilegien besaß 134 ).

Daß aber die Reusenzerstörungen rechtswidrig gewesen sind, ist keineswegs unglaubhaft, wenn Rörig es auch so hinstellen möchte. Man muß allerdings die alten Zeiten kennen mit ihrem schleppenden, oft versiegenden Prozeßverfahren, um zu wissen, was möglich war. Gewohnheitsmäßige private Fischereiberechtigung am mecklenburgischen Strande war kein Rechtstitel für solche Handlungen, ebenso wenig wie die gleichfalls private, auf einem Privileg beruhende Fischereiberechtigung der Lübecker an der holsteinischen Küste ein Rechtsgrund für die Bedrängung der domkapitularischen Fischer in der Niendorfer Wiek gewesen ist. Und wenn Rörig 135 ) meint, daß die "Einwürfe, die von mecklenburgischer Seite zur Zeit des Fischreusenstreites gemacht werden", "zum guten Teil auf faktischer Unkenntnis der Verhältnisse überhaupt beruhen", so ist das gar nicht aufrecht zu erhalten gegenüber der Tatsache, daß diese Einwürfe auf Grund einer eingehenden, unter Aufbietung vieler Zeugen angestellten Untersuchung erhoben wurden. Ferner übersieht Rörig hierbei ganz die tatsächlichen Hoheitshandlungen und Verfügungen Mecklenburgs bis in die neueste Zeit. Oder handelt es sich bei alledem nun etwa um "Anmaßung" und "Irrtum" auf mecklenburgischer Seite? Dann wäre es sehr merkwürdig, daß Lübeck 1874 die Verordnung zum Schutze der Dünen des Ostseestrandes vor Rosenhagen und damit die mecklenburgische Hoheit über das strittige Küstengewässer anerkannte. Keineswegs auch trifft die Behauptung zu, daß es Mecklenburg


134) Das alles kommt schon in Archiv II genügend zum Ausdruck. Vgl. aber besonders unser letztes Erachten vom 12. Mai 1927 (oben S. 56 f. und S. 59 unten).
135) IV, S. 23.
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"bis zur allerjüngsten Vergangenheit" an "jeglichem staatlichen Organ" zur Wahrnehmung seiner Rechte gefehlt habe. Diese Organe sind die Jahrhunderte hindurch die Amtmänner des Amtes Grevesmühlen und ihre Strandreiter gewesen.

Die zweite Gruppe unserer "Bemühungen" soll in Versuchen bestehen, "besondere, nicht aus den gleichzeitigen Akten entnommene Begriffe einzuführen, um durch sie entweder die in den Akten vorkommenden Begriffe zu ersetzen und zu verwässern oder aber eine künstliche Begriffsverengerung vorzunehmen" usw. Dies zielt auf die Reede. Aber wir haben hier nichts verwässert und auch nichts zu Unrecht verengert, sondern Rörig hat den Reedebegriff übersteigert.

Wir schließen mit der Feststellung, daß die neuerdings von Rörig über die Reedelage beigebrachten Quellen unsere früheren Angaben in erfreulicher Weise bestätigen, und hoffen, daß wir nicht noch zu weiteren Auseinandersetzungen genötigt werden.

 

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Exkurs.

Zur Beurteilung der älteren Seekartenwerke.

In der Anmerkung 78 seines neuen Erachtens (IV, S. 53 f.) bekämpft Rörig zunächst unsere Verwertung der Werke Waghenaers. Wir entgegnen, daß wir in Archiv III, S. 20, keineswegs behauptet haben, es sei der Text in Waghenaers "Spiegel der Seefahrt" allgemein wertvoller als die Karten; nur im vorliegenden Falle der Travemünder Reede haben wir den Text für wichtiger erklärt, und zwar mit Recht. Auf der Karte interessiert für die Reede überhaupt nur die Ankerlage, und daß darauf im "Spiegel der Seefahrt" nichts zu geben ist, wird in Archiv III, S. 19, Anm. 60 nachgewiesen, worauf aber Rörig nicht eingeht. Seine geringschätzige Beurteilung des jüngeren Werkes, des "Thresoors von der Seefahrt", greift völlig fehl. Man vergleiche die Abbildung aus dem "Spiegel" bei Rörig III (Kartenbeilage 1) mit dem Kartenausschnitt aus dem "Thresoor" auf unserer Beilage 2 in Archiv III. Wo findet sich denn auf dieser ein "leicht-

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fertiges Zusammendrängen" der Angaben des "Spiegels"? Im "Spiegel" verläuft die holsteinische Küste, die doch nicht bloß "fingiert" sein soll, bei Heiligenhafen gegenüber Fehmarn fast in gerader Linie; der große Vorsprung, den sie hier nach Norden bildet, kommt gar nicht zum Ausdruck, wohl aber im "Thresoor", wo die ganze Küstenlinie dem natürlichen Verlaufe, wenn auch vergröbert, nachgebildet ist. Man vergleiche ferner die Zeichnung der Insel Fehmarn, die der Ausschnitt bei Rörig noch größtenteils wiedergibt; im "Thresoor" ist sie viel genauer, die kleinen Buchten der Insel kommen besser zum Ausdruck, auch ist das zwar nicht namentlich bezeichnete Burg einigermaßen richtig eingetragen, während es im "Spiegel" ganz falsch liegt. Angesichts solcher Verbesserungen, deren wir noch mehr anführen könnten, läßt sich nicht von einem "rein buchhändlerischen Unternehmen" sprechen. Es ist denn auch die Karte des "Thresoors" in den Großen doppelten neuen Seespiegel von 1600 mit aufgenommen worden. Der Irrtum freilich, der darin besteht, daß die Plate vor der Travemündung nur über die Lübecker Bucht bis an die holsteinische Küste herangezogen ist, macht sich auf ihr sehr bemerkbar, geht jedoch auf die Karte im "Spiegel" zurück; denn so ist diese nicht aufzufassen, daß sie überhaupt nur die Travemünder Bucht darstellen will, sondern sie zieht Lübecker und Travemünder Bucht in eine zusammen und bringt im Buchtwinkel Angaben, die für die Travemünder Bucht gelten sollen.

Die jüngere Karte verdient den Vorzug. Daß wir sie der Ankerlage wegen gebracht haben, ist doch selbstverständlich. Warum soll denn die Einzeichnung von Anker und Tiefenzahlen "gedankenlose Flüchtigkeit" erweisen, d. h. flüchtiger sein als im "Spiegel"? Mit den Tiefenangaben auf den Karten Waghenaers ist überhaupt nicht viel anzufangen. Wir haben daher auch nur relativen Wert darauf gelegt, obwohl im "Thresoor" die Ankertiefen verschiedentlich berichtigt sind 1 ). Wohl aber haben wir hervorgehoben, daß auf beiden Karten der Anker nach Westen zu liegt, d. h., wie die Karten aufzufassen sind, nach dem Brodtener Ufer zu. Ist das etwa nicht der Fall? Auch dies würden wir jedoch durchaus nicht für entscheidend halten, wenn es nicht zu allen anderen Quellen stimmte. Ganz unwahrscheinlich ist die Meinung Rörigs, daß im "Spiegel" der Anker dem Worte "de Trave" habe ausweichen müssen; der Flußname hätte sich auch binnen Landes anbringen lassen.


1) Vgl. Archiv III, S. 20, Anm. 60, über die Reede von Pernau auch S. 16.
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Denn um den Flußnamen handelt sichs, nicht um die "Außentrave". Er ist aber nicht aus Platzmangel vor die Mündung gesetzt worden (aus Platzmangel steht er nur jenseit der Plate), sondern Waghenaer hat es auch sonst so gehalten. Ob die sechs in Archiv III, S. 22 (mit Beilage 4) dafür vorgebrachten Beispiele die einzigen sind, die sich anführen lassen, können wir nicht mehr nachprüfen. Sie genügen jedenfalls. Eben auf derselben Karte haben wir das Beispiel des "Yellen". Bei der Warnow, meint Rörig, sei es "nicht so gemacht". Das ist buchstäblich richtig, und jeder Leser nimmt nun natürlich an, daß der Name "Warnow" auf dem Flußlaufe oder an dessen Rande stehe; er ist aber gar nicht angegeben, ebenso wenig wie der der Piasnitz am östlichen Ende der pommerschen Küste (Archiv III, Beilage 4). Im übrigen verweisen wir auf alles, was wir in Archiv III, S. 22 bemerkt haben. -

Wenn ferner behauptet wird, daß das "sättia" in Manssons Seebucht unbedingt "Anker werfen" heiße 2 ), so müßte zunächst einmal die Bedingung erfüllt werden, alle in Betracht kommenden Stellen des Originalwerkes daraufhin zu prüfen. Aber es kommt, wie mir schon in Archiv III, S. 30, gesagt haben, auf die Angabe bei Mansson gar nicht an, weil die deutschen Überarbeitungen des Werkes (es sind nicht eigentliche Übersetzungen) die 5, 7 und 8 Faden in 5 und 6 berichtigt haben. Und wenn man keine Lübecker Faden annimmt, so handelt sichs eben nur um den vorläufigen Ankerplatz bei 5 bis 6 Faden Tiefe, der in der Lübecker "Nachricht für Seefahrer" von 1855 genannt wird (vgl. oben S. 22). Übrigens greift selbst dieser Ankerplatz höchstens ganz unwesentlich in das mecklenburgische Gewässer über. Natürlich aber konnte man, wenn man wollte, auch bei 7 und 8 Faden oder noch weiter draußen ankern, war dann jedoch gleichfalls nicht auf der eigentlichen Reede.

Über die Karte von Peter Gedda haben wir unseren Ausführungen in Archiv III, S. 25 f. nichts hinzuzufügen. Wer die Karte mit unserer neuen Reedeskizze vergleicht, wird eine vollkommene Übereinstimmung feststellen.

Erwähnen wollen wir noch, daß es in dem holländischen Seeatlas von Voogt (De nieuwe groote lichtende Zeefakkel) auf S. 20 über die Lübecker Reede heißt: "Als de Tooren van Travemunde ende de voor Tooren over een komt, ankert men op 5 a 6 vadem." Mit dem "voor Tooren" kann wohl nur der Leuchtturm gemeint sein. Dann wäre aber die Anweisung nicht richtig


2) Vgl. Rörig IV, S. 55, Anm. 79.
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oder wenigstens ungenau. Setzt man nämlich den Leuchtturm mit dem Kirchturm überein, d. h. in Linie, so fällt diese aus dem jetzigen Leuchtfeuersektor und dem Fahrwasser völlig heraus und führt, in der äußeren Bucht ungefähr auf der 10-m-Tiefenlinie verlaufend, schräge auf die mecklenburgische Küste zu. Auf der dänischen Seekarte von 1860 z. B. würde sie die Tiefen von 6 dänischen Faden überhaupt nicht mehr fassen und die 5-Faden-Tiefen nur teilweise, auf einem schmalen Gebiet längs der Küste überschneiden. Gerade die quer über die Bucht führenden gleichartigen Tiefen, auf die es für die Reede ankommt, berührt sie nicht. Auch ist an sich schon selbstverständlich, daß die Schiffe nicht in Linie hintereinander lagen, weil die Bucht viel breiteren Raum bietet. Überdies würde die Anweisung sämtlichen älteren Lübecker Reedekarten widersprechen, nach denen sich die Reede quer über einen Teil der Bucht hinzog. Es könnte sich also bei Voogt höchstens um ein Ungefähr handeln; man sah natürlich auf der Reede den Kirchturm hinter dem Leuchtturm liegen, aber man sah beide nicht genau in Linie. Weil jedoch eben die Linie Kirchturm-Leuchtturm in Manssons Seebuche als Ansegelungslinie für die Einfahrt in die Trave bezeichnet wird 3 ), ist es das Wahrscheinlichste, daß Voogt die Reede mit der Ansegelungslinie durcheinander geworfen hat.

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Nachtrag.

Kurz vor Versendung der Druckexemplare erhalten wir Kenntnis von einem Berichtigungsschreiben des Lübecker Senates vom 15. Nov., wonach sich bei der Vervielfältigung des jüngsten Rörigschen Gutachtens ein Fehler eingeschlichen hat; es sei in dem Bericht der Frau des Lotsenkommandeurs Scharpenberg von 1784 (S. 76 unseres Gutachtens) hinter den Zahlen 130, 140 die Zahl 150 ausgelassen worden. Der Bericht besagt also, daß alle Schiffe 5-6 Kabellängen vom Bollwerk ablägen und daß eine Kabeltau-Länge 130, 140, 150 Faden betrage. Damit wird erklärt und gerechtfertigt, daß Rörig mit einer Kabellänge von 150 Faden operiert und die größte Entfernung vom Bollwerk zu 900 Faden (6 x 150)


3) "Wil man ock löpa ini Tramynd, skal man hålla Kyrkiotornet och Lychtan öfwer ens (Schulze, Segelanweisung für die Lübecker Bucht und die Einsteuerung in die Trave, Festschr. z. Begrüßung d. XVII. deutschen Geographentages, Lübeck 1909, S. 195). In den deutschen Überarbeitungen des Seebuches von 1735 (4. Aufl.) und 1760 (6. Aufl. ) wird die Ansegelungslinie anders beschrieben (Exemplare der Commerzbibliothek in Hamburg).
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angenommen hat, was wir beanstanden mußten. Für die Sache selbst aber ist diese Feststellung belanglos. Denn die weiteste Entfernung vom Bollwerk, die wir auf 1450 m berechnet haben, würde jetzt 1553 m betragen. Auf unserer Kartenskizze müßte also der äußere Kreisbogen vom Norderbollwerk aus mit einem Radius von 1553 statt 1450 m geschlagen werden. Das macht nur gut 100 m Unterschied. Überdies ist Folgendes zu bedenken: Die Entfernung vom Norderbollwerk bis zu dem Punkte der Majorlinie des Jahres 1784, wo diese den südlichen Strahl des heutigen Leuchtfeuers schneidet, beträgt auf unserer Kartenskizze nur etwa 10 m mehr als 6 Kabellängen zu je 130 Faden (= 780 Faden oder 1346 m). Weiter nordwestlich, in der Richtung des Reedegebietes, wird der Abstand zwischen Bollwerk und Majorlinie natürlich größer, beträgt also über 6 Kabellängen zu 130 Faden. Nimmt man das größere Kabelmaß von 140 Faden an, so kommt man mit 5 Kabellängen auf 1208 m, mißt also vom Norderbollwerk bis zur Majorlinie überall mehr als 5 Längen. Ebenso, wenn man das größte Maß von 150 Faden zugrunde legt, von dem 5 Kabellängen = 1294 m sind. Demnach kommt man auch mit den beiden größeren Kabelmaßen schon in dem Gebiet bis zur Majorlinie auf über 5, d. h. auf 5-6 Kabellängen, ja, wie unsere Skizze lehrt, teilweise auch schon auf 6 volle Längen zu 140 Faden (1450 m). Und selbst mit 6 vollen Kabelmaßen zu je 150 Faden überschreitet man die Majorlinie vom Jahr 1784 äußersten Falles nur um gut 200 m. Es kann aber nicht gerade die weiteste Entfernung, die sich auf Grund des Scharpenbergischen Berichtes überhaupt ausrechnen läßt, für die richtige angesehen werden. Hätte die Reede jenseit der Maiorlinie gelegen, so würde man sie mit 5 Kabellängen, welches der drei Maße man auch annimmt, niemals erreicht haben, und sogar die Maßangabe von 6 Kabellängen zu je 130 Faden wäre unzutreffend, weil man damit im Sektorgebiet außer auf einer kleinen Strecke von etwa 80 m nirgends bis an die Majorlinie von 1784 herankommt. Wahrscheinlich ist aber gerade dieses Kabelmaß von 130 Faden in Lübeck das eigentlich gebräuchliche gewesen. Denn man rechnete die Kabellänge sonst zu 120 Faden (s. S. 76 unseres Gutachtens), und 130 Lübecker Faden (224,34 m) sind ungefähr soviel wie 120 englische (219,36 m) oder 120 preußisch-dänische Faden (225,96 m).

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Skizze zur Lage der Travemünder Reede um 1800
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IV.

Die alte Herzogsburg
in Neustadt

 

von

Adolf Friedrich Lorenz.

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D er diesjährige Ausflug des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde nach Neustadt gab den Teilnehmern Gelegenheit, die alte Burg zu besichtigen, die - abgesehen von den Stadttoren und Stadtmauern - einer der wenigen einigermaßen erhaltenen mittelalterlichen Wehrbauten in Mecklenburg ist.

Der Blick auf die Burg mit dem stattlichen runden Turm und der hohen Schildmauer über den Wasserspiegel des teichartig erweiterten Burggrabens hinweg ist allgemein bekannt; daß auch die beiden Wohngebäude der Beachtung wert sind, sieht derjenige, der in altem Mauerwerk zu lesen versteht, zumal wenn er das in den Schätzen des Schweriner Archivs vorhandene Aktenmaterial durchforscht, aus dem sich der Zustand der Burg zur Zeit ihres vollständigsten Ausbaus mit den umfangreichen Nebenanlagen im Geiste und auf dem Papier wiederherstellen läßt. Sind doch vor allem letztere seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und letzthin noch durch den Erweiterungsbau des Kraftwerks allmählich zerstört oder so verändert, daß sie für das ungeübte Auge kaum noch vorstellbar sind.

Die vorteilhafte Lage des wendischen Fischerdorfs Glewe an den Ufern der Elde und die Nähe der wildreichen Lewitz werden den Grafen Gunzelin von Schwerin bestimmt haben, an dieser zur Verteidigung geeigneten Stelle eine feste Burg anzulegen und den Ort zur "Neuen Stadt" zu erheben. Es kann angenommen werden, daß der Burgberg, vielleicht mit Benutzung einer Sanddüne des Flußtals, künstlich aufgeschüttet ist, denn er erhebt sich verhältnismäßig hoch über die Umgegend und ist von ziemlich regelmäßiger kreisförmiger Gestalt.

Die Burg selber in ihrer heutigen Gestalt ist aber entschieden jüngeren Datums, sie zeigt nicht mehr, wie in Wredenhagen oder Stargard oder Stavenhagen, einen mehr oder weniger kreisförmigen Mauerring mit regellos darin verstreuten Gebäuden, sondern eine planvolle, genau rechteckige Anlage, die auf das spätere Mittelalter schließen läßt. Nur der runde Bergfried fügt sich nicht ganz in dies Rechteck, vielleicht steht er an Stelle eines älteren Turms. (Abb. in Anl. 1.) Das Rechteck von etwa 50 x 35 m wird umschlossen durch eine etwa 2 m starke Ring-

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mauer, in deren zwei kurze Seiten sich die beiden Hauptbauten schmiegen, das alte und das neue Haus, während an der südlichen, der Stadt ab- und dem Flusse zugewendeten Seite das Eingangstor und neben ihm der es schützende Bergfried eingefügt sind. Der Bergfried nimmt fast genau die Mitte der Langseite ein, doch so, daß er mit seinem Grundrißkreis die Innenseite der Mauer tangiert, dagegen ist das Mauerstück mit dem Tor soweit aus dem Rechteck herausgedreht, daß seine Achse durch den Mittelpunkt des Turmgrundrißkreises geht. Durch diese Drehung wird erreicht, daß das Tor sich der von Parchim kommenden Landstraße zuwendet. Also eine sehr planvolle Anlage!

Schlie nimmt an, daß die heutige Burg noch von den Grafen von Schwerin, die bis 1358 das Land regierten, erbaut sei. Ich möchte dem nicht widersprechen, aber darauf hinweisen, daß die Mauertechnik wie auch die Bauformen und nicht zuletzt die systematisch planvolle Anlage auf frühestens die Mitte des 14. Jahrhunderts deuten. Herrscht doch fast überall der für das späte Mittelalter charakteristische polnische Verband (1 Läufer, 1 Binder).

Dieser Verband findet sich im ganzen Unterbau des Turms bis dicht unter den Treppenfries 1 ). Der Turm zerfällt in drei deutlich von einander geschiedene Bauabschnitte. Die beiden untersten Stockwerke in polnischem Verband (Ziegelgröße 28x13x9 bei 10 Schichten = 104 cm) stammen aus einer Bauzeit. Eine Tür im Erdgeschoß führt auf einer in der Mauerdicke liegenden Treppe zu einem kreisrunden kuppelgewölbten Raum im 2. Geschoß, neben dem sich zwei übereinander in der Mauerdicke ausgesparte Zellen befinden. Der Raum hat drei große Nischen mit je einem schräge aufwärtsführenden Lichtschlitz, der durch Balken, die in ausgesparte Nuten geschoben wurden, verrammelt werden konnte. Von hier aus führt ein Einsteigeloch in das ebenerdig liegende und durch drei schmale Schlitze belichtete Verließ, das aus quadratischem Grundriß durch Zwickel in die Kreisform übergeführt wird, unten mit Schutt gefüllt ist. Der jetzt von der Treppe aus hineinführende Zugang ist später eingebrochen. Außen läuft um den Turm in ungefährer Höhe der untern Lichtschlitze ein aus glasierten Köpfen gebildetes unregelmäßiges Rautenmuster, ein spätmittelalterliches Schmuckmotiv. Die ganze Anlage entspricht nicht mehr dem frühmittelalterlichen Wehrturm, bei dem die oberen Geschosse nur durch


1) Für die Einzelheiten wird auf die Hamannschen Aufnahmen im Schlie verwiesen.
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eine leicht zu beseitigende Außentreppe zugänglich waren und Verteidigungseinrichtungen aufwiesen 2 ). Desto mehr für Verteidigung eingerichtet ist das jüngere dritte Geschoß. Das Mauerwerk hat hier die Steingröße 28x13x8 1/2 bei 10 Schichten = 1 m und zeigt eine scharf abgestochene Fuge, während die Fugen in den anderen Bauteilen breit ausgestrichen sind. Auch die Bauformen (stark überhöhte, fast korbbogenförmige Stichbogen) lassen auf die Spätzeit schließen, nicht zuletzt aber die sehr interessanten Doppelschießscharten, die auf eine ausgebildetere Verteidigungstechnik mit Feuerwaffen Rücksicht nehmen. Ob der Turm ursprünglich über dem 2. Geschoß aufgehört hat? Jedenfalls ist das 3. Geschoß von hier nicht zu erreichen, man hat auf die Zugänglichkeit von unten verzichtet und das Geschoß nur vom Wehrgang aus zugänglich gemacht, die beiden unteren Geschosse dagegen für sich liegen lassen. Sieben, im Grundriß flaschenförmige Nischen enthalten je zwei Schießscharten übereinander, die untere steil nach unten führend und in einen Schlitz endend zum Bestreichen des Fußes des Burgberges, während durch die obere weitere mit Stichbogen geschlossene Scharte wagerecht in die Ferne geschossen werden konnte. Quer vor dieser oberen Nische liegt ein Eichenholzbalken zum Heben des hinteren Geschützteils, was auf die Anwendung schwerer Wurfmaschinen oder leichter Feuergeschütze schließen läßt, oder nach Piper, Burgenkunde, Seite 371, "als drittes Auflager erscheint - - -, dessen Benutzung als solches bei der Höhe des so zur Vertheidigung eingerichteten Fensters freilich nicht unmittelbar vom Boden aus möglich wäre". Ob die an eichenen Auslegearmen noch zum Teil vorhandenen Holzrollen ursprünglich sind, welchem Zweck sie gedient haben können, und ob sie nicht vielleicht späterer Zeit, als auf dem Turm Hagel fabriziert wurde, entstammen, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Nach den Wehrgängen führen beiderseitig einige Stufen durch eine Tür abwärts, zum obersten Geschoß führt eine Wendeltreppe, zum Hof hin liegt eine Luke, die vermutlich zum Aufwinden von Geschützen und Munition gedient hat, sowie eine in der Mauer ausgesparte Zelle. Ein Abort ist heute vermauert. Das Gewölbe über diesem Raum ist eingestürzt und nur in seinen Anfängen vorhanden. Hamann nimmt an, daß hierüber vielleicht eine Plattform mit Zinnenkranz und steinernem Kegelhelm sich erhoben habe, die vielleicht durch eine Pulver-


2) Vgl. die noch deutlich diese Anlage zeigenden Türme in Plau und Lübz, den Fangelturm bei Parchim; auch der ehemalige runde Turm des Gadebuscher Schlosses hatte diese Einrichtung.
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explosion samt der Kuppel (wodurch auch die Risse im Turm zu erklären seien) zerstört sei 3 ); ausgeschlossen erscheint es nicht.

Jedenfalls hat dann das 16. Jahrhundert ein weiteres Geschoß aufgesetzt, das in Technik und Formen einen ganz anderen Charakter zeigt. Es ist hier ein Wohnbau entstanden. (Steinformat 30x14x10 bei 10 Schichten = 111 cm.) Über einem auskragenden Treppenfries ein unregelmäßiges buntes Mauerwerk, dünne, durch Verankerung gehaltene Wände, willkürlich in die Mauerfläche gesetzte, eine naive Sucht zu schmücken verratende Kreisblenden, vor allem aber die für Obersachsen und Thüringen in der Mitte des 16. Jahrhunderts charakteristischen, auch am alten Fürstenhof zu Wismar gefundenen Vorhangbogenfenster lassen den Verfall der mittelalterlichen Kunst erkennen. Innen ist das Geschoß ein schöner luftiger Raum, Sitzbänke in den Fensternischen, ein Kamin und ein gut erhaltener Abort lassen ihn wohnlich erscheinen. Derartige Aussichtsräume, wenn man so sagen darf, scheinen auch auf anderen Burgen eingerichtet worden zu sein, als man auf Verteidigungfähigkeit der Türme nicht so großen Wert mehr legte 4 ). Den Abschluß bildet eine Kegelhaube mit Uhrhäuschen, ursprünglich mit Schindeln, seit 1823 mit Dachsteinen gedeckt. Das Uhrwerk mit Glocke und Scheibe wird schon 1592 erwähnt.

In engem Zusammenhang mit dem Turm steht die südliche Schildmauer. Eine Untersuchung des Mauerwerks zeigt, daß sie mit seinen beiden unteren Geschossen im Verband steht, auch die Technik ist die gleiche. Doch scheint es von außen, als säße das Tor in einem Mauerwerk anderer Zeit, innen dagegen nicht. Jedenfalls sind die Formen entschieden spätmittelalterliche, sie unterscheiden sich mit ihrem steilen Stichbogen mit beiderseitigem, einen Stein tiefen Toranschlag ganz erheblich von den üblichen spitzbogigen mittelalterlichen Wehrtoren. Ich kann das Tor nur auf das Ende des 15. Jahrhunderts datieren. Was die Balkenlöcher über dem Tor bedeuten, ist nicht klar. Von der Höhe des Wehrgangfußbodens ab wechselt aber der Verband (Steingröße bis Oberkante der Schießscharten 31x15x8 1/2 bei 10 Schichten = 104 cm, darüber 26x13x8 1/2 bei 10 Schichten 104 cm). Dies Mauerwerk steht auch auf beiden Seiten mit dem des Turmes nicht im Verband. Neben drei Schießluken sind in der Tormauer


3) Erachten des Landbaumeisters Hamann vom 10. 10. 1895 in den Akten des Hochbauamts Ludwigslust.
4) Z. B. ist in Lübz das oberste Geschoß ganz ähnlich, und in Plau ist ein solches, wiewohl in Fachwerk, auf dem noch erhaltenen Turm bezeugt.
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Sehr deutlich die Nische mit halb zugesetzter Tür und die Balken- und Strebenlöcher eines den Eingang beherrschenden Gießerkers zu erkennen (Pechnase oder machiculi). Eine Wiederherstellung dieses Erkers wäre leicht, zumal da auch die Überdachung des Wehrgangs hier gut erhalten ist. Ein rein dekorativer spätgotischer Zinnenkranz schließt die Mauer ab, auch die Kragsteine der auf der Innenseite zur Verbreiterung des Wehrgangs vorgeblendeten Stichbögen zeigen spätgotische Formen. Ich möchte annehmen, daß Tor und Wehrgang Ende des 15. Jahrhunderts, aber später als das 3. Turmgeschoß, erneuert bzw. vollendet sind.

Wie setzte sich nun im Mittelalter der Wehrgang auf den Wohngebäuden fort? Betrachten wir zunächst das Mauerwerk des Südgiebels des stadtseitig belegenen, jetzt als Gestütsstall dienenden Neuen Hauses. Es hängt in seinem wesentlichen Teile mit dem der Schildmauer zusammen, ist also gleichzeitig mit ihr entstanden. Dies kann man auch vom Hof aus und im Innern des Obergeschosses deutlich erkennen, wo sich die Konsolen des Wehrgangs hinter dem Mauerwerk der Innenmauer des Neuen Hauses fortsetzen, also ursprünglich wohl eine Verlängerung des Wehrgangs getragen haben oder tragen sollten. Der Absturz der äußeren Mauerschale dieses Bauteils im Jahre 1927 (das Mauerwerk besteht auch hier, wie überall bei stärkeren mittelalterlichen Mauern aus zwei schwachen Ziegelsteinverblendungen mit innerem Feldsteinkern) zwang leider dazu, diese Schale neu aufzuführen, so daß heute charakteristische Spuren verwischt sind. Vordem war der Rest eines Treppenfrieses in gleicher Form wie am Abschluß des 3. Turmgeschosses erkennbar, darüber scheint eine lisenenartige und sich in den Zinnenkranz verlierende Auskragung eine Parallele zu der Ecklisene des Baus gebildet zu haben, so daß man hier einen reicheren Staffelgiebel vermuten kann. Bei dem oben erwähnten Absturz wurde in halber Höhe zwischen den jetzigen Fenstern eine vermauerte Nische entdeckt, die innen aber nicht zu sehen ist; ich vermute eine Aborttür oder den Zugang zu einer später zu erwähnenden Freitreppe, ferner war deutlich sichtbar, wie das Felsenkernmauerwerk in verschiedenen Lagen mit verschiedenen Mörteln hergestellt war, bald weißem Steinkalk, bald bläulichgrauer Schwarzkalk. Das Gebäude oder diese Teile der Ringmauer sind dann vermutlich im 16. und zuletzt im 18. Jahrhundert so vielfältig und gründlich verändert worden, daß irgendwelche Vermutungen über das ursprüngliche Aussehen zwecklos werden. Da es 1576 das "Newe Hauß" heißt, kann angenommen werden, daß es erst später in die Ringmauer eingebaut ist, wenngleich die Innenmauer auf dem nördlichen Ende mittel-

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alterliches Mauerwerk (polnischen Verband, Steingröße 26x13x9) zeigt. Es wird hier also schon immer ein Haus gestanden haben, vielleicht reichte dieses nur bis zu der außen an der Längsseite sichtbaren, einen deutlichen Absatz bildenden Lisene. Hier ist aber der Verband bis um die Südostecke herum wendisch (2 Läufer, 1 Binder). Haben wir vielleicht in dem zwischen den Lisenen liegenden Bauteil die Burgkapelle zu suchen, die gewöhnlich in der Nähe des Tores lag und in den Urkunden einige Male genannt wird?

Interessanter als diese Fragen ist es aber, daß wir in dem jetzt so unscheinbaren und vernachlässigten Gebäude, dem Neuen Hause, das Wohngebäude des alten herzoglichen Schlosses aus dem 16. und 17. Jahrhundert zu sehen haben. Das Schweriner Archiv gibt die Möglichkeit, sich von dem Aussehen des Gebäudes zu dieser Zeit eine lebhafte Vorstellung zu machen, denn es finden sich dort Beschreibungen in den Inventarverzeichnissen, die den Erbteilungsakten der Jahre 1576, 1592 und 1610 zugrunde liegen, außerdem aber eine Aufmessung der Burg mit ihren ganzen Nebenanlagen in großen Zügen aus dem Jahre 1612 von der Hand des herzoglichen Baumeisters Gert Evert Piloot. (Abb. in Anl. 2.)

Zunächst erhebt sich an der Stelle, wo jetzt die große Tür in das Innere des Gebäudes führt und der häßliche Mauerabsatz sich zeigt, ein steinerner "Windelstein" mit hölzernen Treppenstufen, oben mit einem Fachwerkgeschoß abgeschlossen, und äußerer Freitreppe, darunter ein Keller. Über diese Treppe gelangte man im Obergeschoß in die fürstlichen Gemächer, über einen Vorplatz links in des Herzogs Stube, Kammer, Sekret, rechts in die entsprechenden Räume der Herzogin, Stube, 2 Kammern, Sekret; im Erdgeschoß rechter Hand in ein Kellergewölbe, links über einen Vorplatz in die große Hofstube, den Hauptaufenthaltsraum des Personals und Raum für Festlichkeiten, von dem an einem Ende ein erhöhter Platz als Schreibstüblein mit Gitterwerk abgetrennt war. Im Obergeschoß sind jetzt noch mehrfach auf den glattgeputzten Außenwänden die Anschlußstellen der früheren Fachwerkscherwände und die Holzdübel zur Befestigung der Wandbespannungen sichtbar, ebenso die Fenster- und Abortnischen, so daß man sich eine räumliche Vorstellung der Gemächer machen kann, wenn man von der von 1750 stammenden Holzunterkonstruktion des Daches absieht. Das Inventar von 1592 beschreibt die Räume eingehend: Fußboden von Brettern, Mauersteinen oder Alstraken, die Wände ringsum "bebenkhet", d. h. mit festen Sitzbänken versehen, die Decke "ein gewunden bohn", d. h. ein zwischen den

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Balken geputzter Windelboden, selten ein Kachelofen, dagegen offene Kamine, also von einer Einfachheit, die man heute mit dem Begriff eines Fürstenschlosses nicht vereinen kann. An Möbeln werden nur Bettstellen, Tische und Truhen genannt.

Das Ganze entspricht völlig dem Typ des vornehmen Adels oder Fürstenhauses des 16. Jahrhunderts in Norddeutschland: zwei Geschosse, oben zu beiden Seiten eines Vorraums je eine Stube mit und 1 bis 2 Kammern mit Aborten, unten die Hofstube mit erhöhtem Verschlag und die Kapelle, davor ein massiver Treppenturm als Verbindung 5 ).

Ein Inventar von 1714 schildert die Ausstattung aber schon bedeutend reicher:

  1. In den fürstlichen Logimentern:
    Ihro hochfürstl. Durchl. des Herrn Hertzogen logiment ist mit blau orange gelben und weiß geflammten atlas ausgeschlagen.
    Der Eßsaal ist mit bunt-geflamten und gestreiften wollenen Tapeten ausgeschlagen.
  2. In der Hertzogin logiment
    sind die Wände mit geflammt wollen tapisserien ausgeschlagen,
  3. In der Hertzogin antichambre
    die Wände mit Goldleder ausgeschlagen, über der Thür ein klein Gemahlde von einer Dame zu Pferde,
  4. Im Cabinet
    die Wände mit gelber gestreifter brocatelle ausgeschlagen.

Wir kommen jetzt zur Nordmauer, die heute in ruinenhaftem Zustande mit Gesträuch und Gras bewachsen ein malerisches Bild des Verfalls bietet. Der Wehrgang ist verschwunden, die Mauer selbst durch Strebepfeiler, die aber schon bei Piloot 1612 bezeugt sind, gestützt und vielfach untermauert. Der Verband ist hier wieder durchgehends der polnische mit Steinformat 29x14x9. Die Mauer wird durch ein Tor mit Fußgängerpforte und eine Nische durchbrochen. Daß diese nicht ursprünglich sind, sondern einem späteren Bauversuch entstammen, sieht man nicht nur an dem in Steinen kleinen Formats gemauerten, für das 17. Jahrhundert charakteristischen Bossenquadern, sondern auch daran, daß der Anschlag des Tores und der Pforte außen liegen. Beide


5) In Mecklenburg ist dieser Typ vorhanden bzw. nachweisbar in Ulrichshusen, Stavenhagen, Dömitz, früheres Schloß in Doberan, neues Schloß in Neustadt nach Piloots Entwurf, Wredenhagen, Schwaan, Wittenburg.
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sind danach nicht als Hinterpforte zur Stadt hinunter denkbar, denn dann würde der Verschluß innen liegen, sondern sie sind meiner Meinung der Anfang eines hier beabsichtigten, außerhalb der Ringmauer gedachten dritten Flügels. Sollte nicht dieser von Piloot stammen, der vom Herzog mit der Vergrößerung der Burg beauftragt sein könnte, bevor man an den Gedanken herantrat, lieber ein neues Schloß an anderer Stelle zu bauen, und der zu diesem Zweck 1612 den Grundriß aufgenommen haben wird? Zu dieser Annahme paßt auch der kleine, jetzt außerhalb liegende gewölbte Keller, dessen auffallender Einsprung im Grundriß nur durch einen beabsichtigten oder vorhanden gewesenen vierten Strebepfeiler zu erklären ist.

Das zweite Hauptgebäude, das "alte lange Hauß", ist das Wirtschaftsgebäude, als welches es noch 1740 nach einer im Archiv aufbewahrten Zeichnung instandgesetzt wird. Aus dieser Zeit mag das Fachwerk der oberen Außenwand stammen, während die Innenwand schon 1576 in ganzer Höhe Fachwerk zeigte. Das Gebäude enthielt unten Brau- und Backstube, Küche, Speisekammer, Wollstube, Keller, im Obergeschoß einen Malzboden. In seinen Grundzügen wird das Gebäude trotz Umbaus zu Wohnungen, später zum Schulhaus, seinen ehemaligen Zustand bewahrt haben. Die massigen geböschten Eckstrebepfeiler und die kleinen Pfeiler der äußeren Langseite entstammen, nach dem Mauerwerk zu urteilen, dem 16. Jahrhundert. Die Giebel sind im Verband mit der Ringmauer, nur von Dachhöhe ab werden sie von der Instandsetzung von 1740 herrühren.

Die Schildmauer mit Wehrgang schließt wieder den Ring zum Turm hin, doch fehlt hier die Überdachung und sind die Bogenkonsolen schlichter.

In der Mitte des Hofes lag ein Brunnen, wie üblich.

Zur Burg gehörte nun noch ein größerer Bereich von Bauten der Vorburg mit den Außenwirtschaftsgebäuden, das Ganze eingeschlossen und wohl verteidigt durch ein System von durch die Elde gespeisten Wassergräben. Die Abbildung in Anl. 3.) stellt einen Rekonstruktionsversuch dar, der ein Vogelschaubild über die Vorburg gibt.

Naht man sich der Burg von Parchim her, nachdem man das auf einer kleinen Insel zwischen Armen der Elde liegende befestigte Parchimer Tor 6 ) passiert hat, so kommt hinter einer Brücke eine Sägemühle, dann wieder ein Wasserarm 7 ). In der


6) An der Stelle des jetzigen Aalfangs auf der langen Brücke.
7) Jetzt Zuflußkanal des Kraftwerks.
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Richtung der heute vom Schloßplatz zur Burg führenden Straße geht es sodann gerade auf das erste Pforthaus zu, vor dem ein Graben mit Zugbrücke lag 8 ). Das Pforthaus, ein sehr langes Gebäude aus Fachwerk in zwei Geschossen, enthielt neben der Durchfahrt einen Pferdestall, eine kleine Wohnung und oben zwei Kornböden. Das Gebäude, schon 1576 als alt bezeichnet, wurde 1744, da halb eingestürzt, zum Abbruch bestimmt und 1752 abgebrochen. Auf dem Platze lag dann links die Große Mühle mit fünf Glinden, das heutige Kraftwerk. An dieser vorbei führte der Weg dann über eine abermalige Zugbrücke, die völlig um 1890 erst einging, über den Hauptgraben zu einem zweiten Pforthaus, das sich an die südöstliche Ecke der Hauptburg anschmiegte.

Es war gleichfalls in Fachwerk errichtet, nach dem Inventar von 1576 und 1610 als dreistöckig, 1592 dagegen als zweistöckig mit einem zweistöckigen Erker über der Tordurchfahrt bezeichnet. Dieser Widerspruch wird so zu erklären sein, daß der in den Dachstuhl hinaufreichende Erker als drittes Geschoß angesehen werden konnte. Der Bau enthielt neben der Durchfahrt auf der linken Seite die kleine Hofstube mit einem Schreibstüblein, oben mehrere Wohnräume, wohl für Gäste bestimmt, allem Anschein nach ein recht stattliches Gebäude. Auf der rechten Seite ging es in die Küchenmeisterei, gleichfalls in Fachwerk, die in den Burggraben hineingebaut sich zu Füßen des Neuen Hauses schmiegte. Piloot zeichnet auf der Rückseite des Pforthauses einen, wahrscheinlich im ersten Geschoß vorgekragten Gang, der sich auch zu einem Stock an der Küchenmeisterei hinzog und zu dem eine Freitreppe am Giebel des Neuen Hauses führte. Scheinbar gelangte man über diese auch in das Neue Haus.

Nachdem der Burggraken während des 18. Jahrhunderts allmählich vermoddet, die Zugbrücke durch eine massive ersetzt, das zweite Pforthaus, unbekannt wann, verschwunden war, wurde an Stelle des ersteren ein Siel zur Abführung der Abwässer aus den angrenzenden Stadtgrundstücken verlegt. Nach Nordwesten verbreiterte sich der Graben bis an die zum Kirchplatz führende Straße, über ihn führte ein schmaler Damm. 1764 wird Klage geführt, daß die Anwohner hier durch allmähliche Anschüttung den Graben immer mehr einengen und sich Terrain aneignen. Der Graben führt weiter, noch heute vorhanden bzw. erkennbar, um den Burghügel herum, erweitert sich zu einem Teich, der in


8) Dieser Graben, der sich hinter dem Grundstück des Mühlenbesitzers Weinaug hinzog, machte sich beim Bau des Kraftwerks durch tiefe Moddemassen unangenehm bemerkbar.
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jüngerer Zeit mit Karpfen besetzt war, und ist höher gestaut als das Unterwasser der Elde. Jenseits des Grabens lag hier ein großer Zier- und Küchengarten; von dem Gärtnergehöft darin und von der von der Burg zu ihm führenden Brücke ist in den Akten des 18. Jahrhunderts öfter die Rede. Der erwähnte Teich ist durch Aufstauung des Burggrabens hinter dem zum Dorf Kiez führenden sogenannten Hundedamm entstanden. Neben dem Zwecke der Befestigung wird er vor allem eine wirtschaftliche Bedeutung gehabt haben 9 ). Ein kleines Waschhaus an der Stelle, wo heute das ehemalige Schmiedegehöft steht, vervollständigte das typische Zubehör einer Schloßanlage des 16. Jahrhunderts.

Als nun 1619 endgültig mit dem Bau des neuen Schlosses begonnen wurde, erlosch natürlich schnell das Interesse an der alten Burg. Zwar wurde sie noch 1714, wie aus den damals ausgenommenen Inventar hervorgeht, in bewohnbarem Zustande gehalten, zumal da das neue Schloß lange Jahre unvollendet liegen blieb. Doch, nachdem dieses 1717 in der Gestalt, wie es heute vor uns steht, durch L. T. Sturm vollendet war, sank die Burg zum unbedeutenden Nebenhause herab und war damit bei der Geldarmut der Zeit dem allmählichen Verfall preisgegeben. Die am Ende des 17. Jahrhunderts aufgekommene verfeinerte französische Wohnkultur ließ auch die schlichten primitiven Räume hinter dicken Mauern auf engem Hügel als zu unwohnlich erscheinen. Die Hofstube wird noch 1734 repariert, doch wird im Neuen Haus schon 1738, doch unter Schonung der fürstlichen Zimmer, eine kleine Wohnung eingerichtet. 1740 aber stürzt der Fußboden des ehemaligen Audienzzimmers ein, die Kellergewölbe senken sich, die Schornsteine drohen zu stürzen. Die Giebel dieses Flügels haben starke Risse, die übrigens schon 1610 erwähnt werden. Das gleiche scheint im Alten Hause passiert zu sein, denn dieses wird 1740 gründlich umgebaut, woher die oben erwähnte, im Archiv befindliche Zeichnung stammt. 1748 wird beschlossen, da der alte Marstall im ersten Pforthause dem Einsturz nahe, das massive Wohnhaus des alten Schlosses zum Marstall für 24 Pferde und oben zum Kornboden umzubauen. Der Landbaumeister Horst in Boizenburg erhält den Auftrag: 1) das Dach und die Mauern abzubrechen und die Mauer, wo das Treppengebäude gestanden, wieder auszubessern, 2) die Ecke nach der Mühle zu neu aufzu-


9) Leider ließ es sich vor einigen Jahren nicht vermeiden, ihn teilweise zuzuschütten, um Land für das Kraftwerk zu gewinnen, und die Straße zum Hundedamm zu verlegen, so daß, soweit das 18. Jahrhundert hier nicht schon aufgeräumt hatte, der Zugang zur Burg nun seinen alten Charakter völlig verloren hat.
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mauern, auch nach der Stadt zu die überhängende Mauer auszubessern, ein Stück Mauer nach dem Hof zu, welches stark übergewichen, und worunter sich nachher verfaulte Hölzer gefunden, neu wieder aufzuführen, einen verfallenen Pfeiler nahe an dem hinteren Giebel nach der Stadt zu abzunehmen, an der Seite nach der Stadt zu den Schutt einen Fuß hoch wegzuräumen, den Pfeiler und die vorstehende Mauer abzuräumen, 3) zu beiden Seiten an den Mauern im Stall, unter der Mauer-Platen Kragsteine von Feldsteinen einzumauern und einen Absatz zu machen, 4) Anker einzuziehen, . . . 7) einen blinden Schornstein aufzuführen, . . . 9) die Fenster zu erneuern. Dies geschieht denn auch so gründlich, daß von dem alten Hause nur stehen bleiben die drei Außenmauern und die halbe hofseitige Mauer. Die Fenster werden zugemauert oder verkleinert, die Decken herausgenommen, der Keller zugeschüttet, neue Balkenlagen auf eingemauerten Konsolsteinen eingezogen, das Obergeschoß erhält einen starken inneren Holzverband zur Sicherung der Außenwände, die Giebel und der Windelstein werden abgerissen, eine Hälfte der Hofmauer ganz neu aufgeführt.

1768 droht die Schloßbrücke einzustürzen und wird massiv wieder aufgeführt. Aus dem Jahre 1805 finden sich Akten über umfangreiche Reparaturen am Turm, die dazu führen, daß 1821/23 das Spandach auf Grund eines Gutachtens des Landbaumeisters Barca zu Ludwigslust durch einen Rostocker Turmdachdecker durch ein Steindach ersetzt wird. 1838 wird der Turm zur Fabrikation von Hagel vermietet, weshalb an ihm ein hölzerner Erker errichtet wird, der aber nach Eingehen dieser Industrie 1860 entfernt wird. 1850 erhält die Stadt das Recht, in dem zuletzt zu Wohnungen und als Orangerie benutzten Alten Hause, nach endgiltiger Aufhebung der Hofhaltung im neuen Schlosse, Schulräume einzurichten. Sie stellt bei dieser Gelegenheit durch das bis dahin vermauert gewesene hintere Tor einen Weg zur Stadt für die Schulkinder her. 1860 wird über starke Vermoddung des Schloßgrabens und Schadhaftigkeit der Steineinfassung der Ufer geklagt, trotzdem hat er noch bis etwa 1890 bestanden; erst dann wurde die Brücke abgebrochen und der Graben zugeschüttet.

Durch die Schilderungen Pipers in seiner Burgenkunde wurde man gegen Ende des 19. Jahrhunderts erst wieder auf das ehrwürdige alte Bauwerk aufmerksam, so daß 1897 die vermauert gewesenen Vorhangbogenfenster des Turms durch den Landbaumeister Hamann wiederhergestellt werden konnten.

Doch noch viel ist zu tun, um alle berechtigten Forderungen der Denkmalpflege zu erfüllen. Manche der mehr oder weniger

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häßlichen Schuppen und Ställe, die sich im 19. Jahrhundert und schon früher zwischen den alten Mauern eingenistet hatten, sind zwar schon wieder beseitigt. Wann wird es aber möglich werden, das alte Bauwerk von diesen unerfreulichen Zutaten völlig zu säubern, die Gebäude einer zweckmäßigen und würdigen, die gute Erhaltung am besten gewährleistenden Bestimmung wieder zuzuführen und die Umgebung, besonders den in letzten Jahren notgedrungen verwahrlosten Burgberg in den angemessenen Zustand zu versetzen, der einem der ältesten Profanbauwerke Mecklenburgs und ehemaligen Fürstensitze entspricht?

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Altes Schloß zu Neustadt mit Umgebung von Wvert Piloot 1612
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Vogelschaubild der Burg Neustadt um 1600
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V.

August Achilles
Ein Künstler der alten Zeit

 

von

A. von Langermann.

 

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S obald die kunstwissenschaftliche Arbeit vom Erfassen des einzelnen Kunstwerkes und seines Schöpfers dazu übergeht, deren Zusammenhang mit der geschichtlichen und wirtschaftlichen Umwelt klarzulegen und die Erscheinungsformen des Kunstlebens als Frucht dieser mannigfachen Einflüsse zu betrachten, dehnt sich ihr Arbeitsgebiet ins Ungemessene aus. Was in den Hauptwerken der Großen seinen vollkommenen Ausdruck findet, kündet sich lange vorher an ganz entlegenen Stellen an und wirkt nach bis an die Grenzen künstlerischen Schaffens, wo dieses sich mit dem Handwerk berührt, und bis in die Erzeugnisse begeisterter, aber von keinerlei Fachwissen beschwerter Kunstfreunde.

Für solche Betrachtung sind schließlich auch jene Bildermacher wichtig, die, auf den engen Kreis ihrer Heimat beschränkt und selbst dort nach wenigen Jahrzehnten vergessen, mit flinkem Stift Landschaftsbilder, Städteansichten und Erinnerungen an Tagesereignisse festhalten, die eine Zeitlang die Wand des Kleinbürgerhauses zieren und schon von der nächsten Generation in die Rumpelkammer befördert werden. Von dort holen sie dann wohl einmal Händler und Sammler wieder hervor und entdecken in ihnen neben dem Nachhall verklungener Zeiten und Kunstweisen soviel tüchtiges Können und gute Beobachtung, daß es sich wohl lohnt, den verwehten Spuren nachzugehen und die Schicksale dieser vergessenen Künstler aufzuspüren. Das erfordert langes und mühseliges Stöbern in Archiven und Registraturen, in Trödelläden und in den Mappen von Sammlern, die ihre Schätze unter ganz andern Gesichtspunkten zusammenbrachten. Das Ergebnis wird zunächst nur einen kleinen Kreis erfreuen und zu eigenem Suchen in ähnlicher Richtung anregen, aber darüber hinaus wird das Verständnis für heimatliche Art geweckt, und die Bausteine bereit gelegt für eine größere Arbeit, die weitausgreifend die oben angedeuteten Gedanken und Zusammenhänge klarlegt. Hierfür ist die Graphik fast noch wichtiger als die Malerei, denn durch die Vervielfältigung und die Billigkeit des einzelnen Blattes ist die Verbreitungsmöglichkeit größer. Sie dringt bis in die entferntesten Winkel des Volkslebens und ist dadurch ein sicherer

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Gradmesser für das Kunstbedürfnis und die Anschauungsweise der Zeit.

Die Befreiung des Menschengeistes in der Reformationszeit, der Drang, zu allen Fragen des diesseitigen und jenseitigen Lebens selber Stellung zu nehmen, fand Nahrung in Dürers wuchtigen Holzschnitten und später in den Arbeiten der sogenannten Kleinmeister, die jetzt nach langer Vergessenheit wieder ins Licht der Forschung gerückt werden.

Im 17. und 18. Jahrhundert ist es der Kupferstich, mit dessen Hilfe Kriegstaten und Entdeckungen, Fragen der Religion und der Philosophie in die entlegensten Wohnungen Eingang finden.

Für das 19. Jahrhundert übernimmt die Lithographie das Amt des volkstümlichen Kulturvermittlers, oft in seltsamer Verzerrung und Verdünnung, aber immer anregend, oft mit erfrischendem Humor. Jede Gegend, beinahe jede Stadt hat ihren besonderen Künstler, der, manchmal mehr schlecht als recht, aber nach bestem Können und Vermögen, ehrlich und einfältig, der Mit- und Nachwelt zum Ergötzen, Stadt und Land und was sich dort zutrug, "nach der Natur auf den Stein zeichnete".

In Mecklenburg hat die Lithographie bis weit ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts eifrige Pflege gefunden und so manches der damals begründeten "Institute" hat sich bis zum heutigen Tage erhalten. Landschaften, Städteansichten und Trachtenbilder der damaligen Zeit sind über das Gegenständliche hinaus, das über die Baugeschichte manchen erwünschten Aufschluß gibt, auch als Kunstleistung recht annehmbar.

Aus der großen Zahl der in Mecklenburg tätigen Lithographen ragt einer hervor durch die Vielseitigkeit und Sorgfalt seiner Arbeiten, so daß man ihn innerhalb seines begrenzten Kreises wohl als Künstler ansehen und sich mit seinem Lebenswerk etwas näher befassen darf. Das ist August Achilles. Er ist am 16. März 1798 1 ) in Rostock geboren als Sohn des Musketiers August Johann Achilles und seiner Ehefrau Anna Marie Friederike Koch. Am 24. März wurde er in der St. Johanniskirche auf die Namen August Friedrich Johann getauft. Der Vater, der sich auch als Scherenschleifer betätigte, war aus Sachsen gebürtig, seine Mutter aus Stralsund.

Augusts Kindheit, die in die Bedrängnisse der Franzosenzeit fiel, wird sich in ihren Leiden und Freuden in ähnlicher Weise abgespielt haben, wie John Brinckman im Kasper Ohm das Leben


1) Die Mitteilung dieser und der folgenden Nachrichten verdanke ich der Güte des Herrn Archivrats Dr. Dragendorff-Rostock.
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eines Rostocker Jungen schildert. Über seine Schulzeit und etwaige künstlerische Ausbildung erfahren wir nichts. Es hat in der Stadt, die mit ihren prächtigen Kirchen und stattlichen Bürgerhäusern allein schon eine gute Schule für die erwachende Künstlerseele war, stets ein reges Kunstleben geherrscht, und an Gelegenheit zu gutem Unterricht wird es nicht gefehlt haben. Ob es ihm aber möglich war, daran teilzunehmen, ist höchst zweifelhaft, da die Einnahmen des Vaters nur gering gewesen sein werden. Achilles kam zu einem Tischler in die Lehre und ging auf die Wanderschaft "ins Ausland", d. h. nach jenseits der mecklenburgischen Grenzpfähle; wohin, erfahren wir im einzelnen nicht, doch hat er sich länger in Berlin aufgehalten. Dort lernte er den Instrumentenbau und bildete er sich im Zeichnen aus.

Berlin hat ihm also die ersten künstlerischen Eindrücke vermittelt. Dort herrschte damals ein nüchterner, strenger Wirklichkeitssinn, dem es gleichwohl nicht an Feinheit der Beobachtung und der Farbe fehlte. Chodowiecki lebte nicht mehr, und sein Nachfolger an der Akademie ging andere Wege. Aber es gab außerhalb der Akademie Gelegenheiten genug, diese ehrliche Wirklichkeitskunst zu erlernen. Ob Achilles schon damals mit dem gleichaltrigen Franz Krüger in Berührung kam, wird wohl nicht zu ergründen sein, eine gewisse Verwandtschaft in der Auffassung und Arbeitsweise ist, bei aller Wahrung des gehörigen Abstandes, unverkennbar. Die Akten schweigen über diese Zeit; wir können nur feststellen, daß er 1819 noch nicht wieder im Lande war, und daß er 1821 seiner Militärpflicht in Güstrow genügte. Im Jahre darauf ward er zur Reserve entlassen, kehrte nach Rostock zurück und bewarb sich um die Aufnahme als Bürger. Bald darauf heiratete er die Tochter Johanna des in Rußland gebliebenen Hautboisten Fintzenhagen. Vermögen hatten beide nicht, auch der Vater konnte keine Unterstützung geben, aber "in seinen Kenntnissen und Arbeitskraft besitze er die nötigen Mittel", erklärte er in seinem Bewerbungsschreiben. Er wurde als Instrumentenmacher in die Bürgerliste eingetragen und hat anfangs, wie er selber angibt, Guitarren geflickt neben seiner künstlerischen Betätigung. Seine erste Arbeit, der Jahreszahl nach, war eine Ansicht von Doberan vom Jahre 1823. 1824 folgte eine zweite Doberaner Ansicht, vom Jungfernberg aus gesehen, und eine Ansicht von Rostock, die sich beide in der Zeichnung nicht über einen mäßigen Dilettantismus erheben. Die Tönung ist flau und der Baumschlag sehr schematisch; man denkt an Ludwig Richters launige Schilderung der Baumschlagrezepte seiner Lehrzeit.

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Aber schon das nächste Blatt von 1825: Badehaus und Neuer Saal bei Doberan (im neu gegründeten Badeort am Heiligen Damm) zeigt eine auffallend geschickte Gruppierung. Die im stumpfen Winkel zueinander stehenden Gebäude sind dadurch in die Tiefe gerückt, daß von links ein mit sechs Pferden bespannter Wagen schräg in das Bild hineinfährt, während nach rechts eine Gruppe Reiter und Fußgänger das etwas verschobene Viereck abschließen. Schon hier verwendet Achilles mit deutlich wahrnehmbarer Absicht die Staffage als Mittel zum Raumbilden und gibt außerdem durch sie ein anschauliches Bild des regen sportlichen Lebens in dem ersten Seebad Deutschlands.

Anscheinend hat Achilles schon damals eine eigene Druckerpresse besessen. Er datiert und bezeichnet alle Arbeiten stets sehr ausführlich, nur selten begnügt er sich mit den Anfangsbuchstaben seines Namens, gelegentlich kommt auch Spiegelschrift vor, oft ist der Drucker angegeben. Wo dieser fehlt, hat er selbst gedruckt; er schreibt auch wohl darunter: "gedruckt und zu haben bei A. Achilles in Rostock".

Eine Ansicht von Warnemünde von 1825 zeigt ihn im Kampf mit der Darstellung der bewegten See.

Anfang des Jahres 1826 scheint Achilles wieder einige Zeit in Berlin gewesen zu sein. Der Berliner Berichterstatter des in Schwerin erscheinenden Freimütigen Abendblattes schreibt am 3. April:

"Erlauben Sie mir, die Besorgnis zu erkennen zu geben, daß Mecklenburg wiederum bald einen sehr ausgezeichneten Künstler verlieren dürfte, wenn es länger gleichgültig gegen ihn bleiben sollte. Es ist Ihr Lithograph Achilles in Rostock. Vielleicht mögen Sie ihn kaum dem Namen nach kennen. Und doch ist nichts gewisser, als daß Deutschland in der Lithographik schwerlich einen Künstler aufzuweisen hat, der ihn überträfe. Hätte der junge Mann seine Werkstätte bei uns, so würde bald der kritische Dreifuß im Morgenblatt bis herab zum jüngsten Gericht, das sich in der Berliner Schnellpost konstituiert hat, von seinem Lob überfließen. Statt dessen fristet der bescheidene Künstler, gebückt und unbekannt, bei Ihnen ein höchst steriles Leben mit Tabellen, Etiketten und dergleichen Lappalien, die sich wohl für einen lithographischen Taglöhner passen, aber nicht für einen Künstler, der eine Stufe der Kunst dominiert, wie Achilles. - Mit einem Wort: der junge Mann war kürzlich einige Wochen bei uns und erhielt Erlaubnis, sich aus den königlichen Schätzen ein Gemälde für seine Kunst wählen zu dürfen. Sein blödes Auftreten erregte fast

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Mitleiden, als seine Wahl auf die berühmte Madonna der Giustinianischen Gemäldesammlung von Andrea del Sarto fiel. Aber wie sehr setzte er alle in Erstaunen, als er in ganz unglaublich kurzer Zeit sein vollendetes Kunstwerk zur Prüfung vorlegte. Unser Schadow wußte vor Freude nicht, wie er dem Künstler seine hohe Achtung bezeugen sollte. Er ging das herrliche Produkt mit seinen Schülern prüfend durch, machte sie auf die Meisterschaft der einzelnen Teile des Kunstblattes aufmerksam und empfahl ihnen dasselbe als ein wahres Meisterblatt 2 ). Das ist Ihr Achilles! Suchen Sie ein Exemplar zu bekommen und Sie werden sich wundern. Der feine Kunstsinn Ihres Hofes sollte kaum besorgen lassen, daß ein so gediegener Künstler noch länger ein Tagelöhnerleben führen werde. Wo nicht, so möchte er sich bald bei uns oder anderswo einbürgern, wo der ernste Künstler sich leichter eine unabhängige Stellung verschaffen kann."

Diese tönende Ruhmesfanfare ist in mehr als einer Hinsicht lehrreich. Wir erfahren daraus, daß der Künstler zum Broterwerb allerlei Gebrauchslithographien herstellte, und daß er bestrebt war, die Verbindung mit Berlin aufrecht zu erhalten und zu benutzen. Im Verlauf des Jahres lithographierte er das Titelblatt zu Jeppes Herbarium vivum, dessen anmutige Zeichnung wahrscheinlich auch sein geistiges Eigentum ist. Im Sommer entstand eins seiner bekanntesten und berühmtesten Blätter "Die höchsterfreuliche Wasserfahrt": Großherzog Friedrich Franz I. besucht seine getreue Stadt Rostock, zu Schiff von Warnemünde kommend. Auf schön geschmücktem Fahrzeug steht der Fürst mit seiner Umgebung, dahinter hübsch ausgerichtet mit vollen Segeln die Reihen der Begleitboote. Auf dem hohen Ufer stehen, steif aufgereiht, die Zuschauer. Die langen, dünnen Wellen der Warnow sehen aus wie mit dem Lineal gezogen. Künstlerisch ist diese erfreuliche Wasserfahrt recht unerfreulich; und doch, man betrachtet diese gezeichnete Berichterstattung immer wieder gern, bei aller Unbeholfenheit bleibt ihre ganze Art anziehend.

Ob diese treuherzige Schilderung oder der Hinweis im Abendblatt den Landesherrn bewog, sich des Künstlers anzunehmen, erfahren wir nicht; jedenfalls erhielt Achilles Bilder aus der Großherzoglichen Galerie zum Kopieren, als erstes "Simson und Dalila" von A. van der Werfft und etwas später die "Heilige Familie" von Carlo Maratta. Gleichzeitig beginnt die Reihe der Bildnisse von Mitgliedern des Fürstenhauses.


2) Exemplar bei Herrn P. Günther-Schwerin, Schelfstraße.
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Er lernt die Behandlung und Abtönung von Licht und Schatten, er wird kühner und freier in der Zeichnung, die Unbeholfenheit verschwindet vollständig. Die Lithographie nach dem Bildnis Friedrich Franz I. von Suhrlandt für das Rostocker Rathaus zeigt die volle Beherrschung aller Mittel. Achilles tritt in seine Glanzzeit ein: 1830 wird er zum Hofzeichner ernannt und nach Schwerin berufen mit einem Jahresgehalt von 200 Talern und freier Feuerung.

Die Übersiedlung wurde sofort ins Werk gesetzt, aber ohne Erfüllung der nötigen Formalitäten. Der Künstler versäumte, sich polizeilich anzumelden, und seine Wirtin mußte für die Aufnahme der Familie Strafe zahlen. Erst nachträglich erwarb er das Schweriner Bürgerrecht, nachdem er das Rostocker aufgegeben hatte.

In der neuen, anregenden Umgebung folgten Jahre emsigen Schaffens und steten Fortschritts. Er arbeitete fleißig in der Bildergalerie nach Potter, Ostade und Ridinger; die Kopien ließ er in Berlin bei Helmlehner drucken, während er für seine Originalzeichnungen die eigene Presse benutzte.

Das militärische Leben der Hauptstadt fand in ihm einen eifrigen Chronisten: Die "Cholera-Wache am Püsserkrug" 1831 und die "Sappeur-Uebung im Buchholz" 1838 sind nicht nur wahrheitsgetreue Schilderungen, sondern auch mit guter Raumwirkung aufgebaute Szenen lebendig bewegter Figuren. Die Köpfe verraten wohl noch oft die Schule Ostades, auch noch im "Blauen Montag" von 1844, aber die mit wechselndem Ausdruck häufig wiederkehrenden Gestalten, wie der kleine Bucklige, der große Mann mit dem Vollbart, und viele andere, zeugen von einer scharfen Beobachtung der stadtbekannten Typen jenes friedlich-gemütlichen Residenzlebens der guten alten Zeit.

Bildnisse der Fürstlichkeiten, des Generals von Kamptz, der Tänzerfamilie Bernadelli und mehrerer Sängerinnen waren viel begehrt und sind noch heute im Handel zu finden. Seine Ansichten von Schweriner Gebäuden, dem Marktplatz und dem Kollegiengebäude (Regierung) belebt er mit Gruppen bildnismäßiger Figuren, in denen die Mitwelt jedenfalls bekannte Persönlichkeiten gesehen hat, so daß sie noch heute ein anschauliches Bild des Verkehrs in den Straßen von damals geben.

Die Kopien nach Ridinger regten ihn zu eigenem Schaffen auf dem Gebiete des Jagdbildes an. "Der gedeckte Eber" von 1834 verrät im Aufbau wohl einige Anlehnung an das Vorbild, ist aber in der Auffassung von Mensch und Tier frisch und lebendig.

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Die Figuren der Jäger sind Bildnisse aus dem Jagdgefolge des Fürsten, ebenso auf dem Gegenstück, der Strecke der Eberjagd, wo Großherzog in Alexandrine, im Wagen stehend, sich von ihren Söhnen über die Jagd berichten läßt. Als drittes Stück dieser Reihe ist die fehlgeschlagene Jagd zu nennen mit dem herrlichen Landschaftsbilde des Schweriner Sees in der Nähe der Insel Lieps bei Kleinen.

Mannigfache öffentliche Feiern gaben ihm Anlaß zu gewissenhafter Berichterstattung, die oft wenig Gelegenheit für künstlerische Gestaltung bot, aber durch die bildnistreue Behandlung der Staffage erfreulich wirkt. Die Jubelfeiern für 1813 in Güstrow sind nicht nur wichtig als Erinnerung an diesen Tag, sondern noch viel mehr für die Kenntnis des damaligen Bauzustandes von Schloß und Dom.

Nach dem Tode des Großherzogs Friedrich Franz I. folgte die kurze Regierung seines lebhaften, unternehmenden Enkels Paul Friedrich und seiner Gemahlin Alexandrine, der Schwester Kaiser Wilhelms I. Es ist sehr wahrscheinlich, daß letztere den am Berliner Hof hochgeschätzten Franz Krüger gelegentlich nach Schwerin gezogen hat, und daß Achilles hier mit ihm in Berührung gekommen ist. Jedenfalls lithographiert er ein Bildnis Paul Friedrichs zu Pferde von Krüger, von dem er für das Zeichnen der Pferde viel gelernt hat.

Im Jahre 1842 erlag der Großherzog einer heftigen Krankheit. Achilles zeichnete die Aufbahrung vor dem schweren schwarzen Samtvorhand, im Ton eines seiner schönsten Blätter. Im nächsten Jahr folgten mehrere Stadtansichten, ein Plan des mächtig vergrößerten Schwerin und des von prächtigem Humor erfüllte Blatt "Le Commerce", das sich getrost manchem berühmten Werk jener spottlustigen Zeit an die Seite stellen darf.

Gleichzeitig erscheinen im Verlag von A. Ullmann in Hamburg: Vierländer und Vierländerin, ein Bildnis Wolterecks und eine Darstellung Napoleons, die von den Hamburger Nachrichten günstig besprochen wurden, aber nicht mehr aufzufinden sind. Auch wurde in derselben Zeitung eine Serie von 16 Blättern "Hamburger Bürgermilitär" im Verlage von Fuchs angekündigt, äußerst fein kolorierte, lebendige Figuren.

So zahlreich Lithographien von Achilles im Handel sind, so selten finden sich Originalzeichnungen von ihm. Diese wie das pompöse Bildnis des Oberhofmarschalls von Bülow und des Forstmeisters Mecklenburg blieben im Privatbesitz verborgen. Für den Großherzog machte er 1834 eine Kohlezeichnung, 72 x 95 cm,

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Sappeur-Sergeant mit Schurzfell und Bärenmütze, heute in der Mahnckeschen Sammlung. Eine verkleinerte Lithographie kam in den Handel. 1843 verfertigte er für den wismarschen Kapitän J. H. Prüter eine farbige Zeichnung, die dessen Brigg "Doris" vor Wismar in einem schweren Gewittersturm zeigt, bei dem der Blitz in den zweiten Mast schlug. Von dem graublauen Himmel hebt sich das Schiff mit allen Einzelheiten der Takelage gespenstisch leuchtend ab. Die Wellen sind vom tiefsten Blaugrün, über gelbliche Töne, bis zum weiß aufgesetzten Gischt, wunderbar voll abschattiert. Am Horizont taucht die Mole von Wismar auf, dessen Türme man mehr ahnt als deutlich sieht, von leuchtenden Möwen umflattert. So sehr das Bild auch wohl auf die Wünsche des Bestellers Rücksicht nimmt, in dessen Familie es als Denkmal der glücklichen Errettung in hohen Ehren stand, so gibt es doch einen Begriff von dem feinen Farbensinn des Malers. Es ist bedauerlich, daß er nicht öfter Gelegenheit hatte, mit Farbe und Pinsel umzugehen. Unter dem Titel "Wismar an der Ostsee" ist eine Lithographie gleichen Inhalts - die Brigg heißt hier Germania - in den Handel gekommen, die, man möchte sagen, das Gerippe des farbigen Blattes bringt und recht deutlich macht, wie sehr hier alles nur durch die Farbe gegeben ist.

Trotz seiner künstlerischen Fortschritte und seines Fleißes konnte Achilles wirtschaftlich in Schwerin nicht recht gedeihen. Zu den vier Kindern, die er von Rostock mitbrachte, wurden noch drei geboren, doch starb sein ältester Sohn Helmut im Alter von sechzehn Jahren. 1842 wohnte die Familie in der neuen Paulsstadt, in der heutigen Wismarschen Straße, siedelte aber 1844 nach Tappenhagen über, jedenfalls keine Verbesserung. Der Vertrieb der Lithographien war mühsam; die Druckkosten mußten jedesmal vorher durch Subskription zusammengebracht werden, und mehr als 1 Gulden N 2/3 gab es selten für ein figurenreiches Blatt. So faßte der Künstler 1845 den Entschluß, mit den Seinen nach Hamburg zu ziehen. Er verkaufte seine Druckerpresse an den Buchdrucker Sandmeyer und richtete sich mit dem Erlös in Hamburg einen Laden mit Werkstatt ein. Aber wie bei seiner Ankunft in Schwerin versäumte er, sich die Zuzugserlaubnis zu sichern. Als er sein Bürgerrecht in Schwerin aufgegeben hatte, wurde ihm in Hamburg die Aufnahme verweigert, und er selbst mit seiner Familie wieder ausgewiesen. Sie kehrten nach Schwerin zurück, wurden aber nicht wieder als Bürger angenommen. Es folgten schwere Jahre ruhelosen Wanderns und äußerster, wenn auch nicht unverschuldeter Bedrängnisse.

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Achilles selber wandte sich zunächst nach Hannover, wo er Auftrag hatte, die Pferde des königlichen Marstalls zu zeichnen. Von diesen Arbeiten ist jedoch nichts mehr aufzufinden. Dann arbeitete er in Boizenburg, Wittenburg und dazwischen immer wieder in Schwerin, ohne daß es ihm gelang, wieder festen Fuß zu fassen.

1849 lithographierte er dort den Einzug des Großherzogs Friedrich Franz II. mit seiner ersten Gemahlin Auguste. Vergleichen wir dieses Blatt mit dem ähnlichen Vorwurf der erfreulichen Wasserfahrt, so erkennen wir deutlich die gewaltigen Fortschritte des Künstlers. Auch hier das Gebundensein an getreue Berichterstattung und das Gegebene des Platzes und der Aufstellung; aber mit welcher Lebendigkeit und wie ungezwungen ist die Aufgabe gelöst. Der Blick auf die Staatskarosse, aus der das junge Fürstenpaar sich freundlich grüßend vorneigt, ist durch die niedere Reihe der Kinder in Landestracht freigegeben; der leere Raum ist durch die spielenden Hunde und die Gruppe der drei Knaben wieder belebt und geschlossen. Die Zuschauer sind nicht mehr starr aufgereiht, sondern bilden freudig bewegte Gruppen. Wir bemerken manche Bekannte von Achilles' früheren Blättern, z. B. den Mann mit der Pfeife und den bärtigen Herrn mit der Hand in der Weste, der so oft wiederkehrt (er steht auch neben dem Denkmal des Großherzogs Paul Friedrich vom selben Jahr 1849), daß man ihn fast für ein Selbstbildnis halten möchte, obgleich diese Vermutung durch nichts gestützt oder gar bewiesen wird.

Die folgenden Jahre brachten mehrere Fürstenbildnisse, darunter das reizende Kinderbild Friedrich Franz III., und seine beiden großartigsten Schöpfungen, den Pferdehandel in der Rostocker Gegend. Ein behagliches, strohgedecktes Bauernhaus, der Bauer mit den Seinen voll Stolz und Spannung, der Pferdejude berechnet schmunzelnd den Gewinn, den das vorgeführte prächtige Pferd ihm bringen wird. Jede Linie ist voll Ruhe und friedlicher Ausgeglichenheit. Auf dem zweiten Blatt ist der Handel abgeschlossen und gebührend mit Rostocker Köhm begossen. Mensch und Pferd sind in wilder Bewegung, und alles lacht über den angstvoll auf dem steigenden Tier hockenden Händler.

Von da an ging es schnell bergab. Die Augen versagten, und die völlig mittellose Familie sah sich in Schwerin mit Ausweisung und Überführung in das Landarbeitshaus bedroht. Der Versuch, in Rostock eine Zeichenschule zu gründen, scheiterte am Widerstand des Rates, die verarmte Familie aufzunehmen. Endlich

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fanden die Gehetzten in Altona ein Unterkommen und der Künstler erhielt Arbeit im Verlag von C. Fuchs in Hamburg.

Die letzten selbständigen Blätter sind wohl die mit den beiden wunderlichen Reifrockdamen "der hochgeehrten Kaufmannschaft" und "den hochgeehrten Gewerken" gewidmet, ersteres mit einem rührend zahmen Löwen, in dem wir "Nero, den Löwen des Tower zu London" wiedererkennen, den er in seiner Rostocker Frühzeit auf einem jetzt sehr seltenen Blatt verewigt hatte.

Seit dem Verkauf der eigenen Presse erschienen seine Arbeiten bei Kürschner in Schwerin, die meisten in Berlin bei Hölzer oder Delius. Auffallend ist, daß außer dem frühen Bildnis des Majors von Quistorp nichts in Mecklenburgs größtem Verlag, dem von Tiedemann in Rostock, erschienen zu sein scheint.

Am 9. Februar 1861 starb der Künstler in Altona, und bald darauf brachte die Mecklenburger Zeitung folgenden kurzen Nachruf:

"Der Zeichner und Lithograph August Achilles aus Rostock, welcher vor einer langen Reihe von Jahren hier in Schwerin wohnhaft war, ist am 9. Februar im noch nicht vollendeten 63. Lebensjahr in Altona gestorben. Achilles kann wohl als der Erste angesehen werden, der die Lithographie in Mecklenburg einführte."

Neben und nach ihm hat eine lange Reihe zum Teil sehr achtbarer Künstler die Lithographie gepflegt, aber keiner so vielseitig und mit so gutem Gelingen auf allen Gebieten wie Achilles. Seine Arbeiten fanden den Weg bis in den entlegensten Dorfkaten und weckten dort Teilnahme für die künstlerische Wiedergabe des Lebens an Arbeits- und Festtagen, sowie Liebe zur Heimat und zum Fürstenhause. Er ist gewiß keine große Künstlernatur; dazu wollen wir ihn nicht nachträglich stempeln. Aber die bescheidene Kraft künstlerischen Verständnisses, die ihm gegeben war, hat er redlich benutzt, und so gehört er, wie August Renoir sagt, zu den Künstlern, deren Werke, obwohl unbekannt und vergessen, die Größe eines Landes machen, weil sie gleichzeitig die Epoche und das Erdreich verkörpern, dem sie entstammen.

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Lithographien und Zeichnungen

von

August Achilles 3 ).

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I. Frühzeit. 1823-1830.

        Besitzer:
1823 Ansicht von Doberan Stadtarchiv Rostock.
1824 Ansicht von Doberan vom Jungfernberge F. Mahncke-Schwerin.
Rostock von der Nordseite Stadtarchiv Rostock.
1825 Badehaus und Neuer Saal am Heiligen Damm F. Mahncke-Schwerin.
Warnemünde von der Seeseite          "                "
1826 Titelblatt zu Jeppe's Herbarium vivum Landesbibliothek Schwerin.
Madonna nach Andrea del Sarto P. Günther-Schwerin.
1827 Die höchsterfreuliche Wasserfahrt F. Mahncke-Schwerin.
Simson und Dalila, nach van der Werfft          "                "
1829 Friedrich Franz I., nach Suhrlandt          "                "
Nero der Löwe des Tower (ohne Jahreszahl) Frau Jaffé-Schwerin.
Der Blücherplatz in Rostock F. Mahncke-Schwerin.
Warnemünde von der Seeseite, mit "Hoffnung"          "                "
Major von Quistorp; Druck von Tiedemanns Lith. Institut Stadtarchiv Rostock.
Die Heilige Familie, nach Carlo Maratta F. Mahncke-Schwerin.

3) Wo Druck und Verlag nicht angegeben sind, ist das Blatt auf eigener Presse im Selbstverlag hergestellt. Es ist immer nur ein Besitzer genannt. Manche Blätter sind sehr häufig und finden sich in allen genannten Sammlungen oder doch in mehreren.
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II. Schwerin. 1830-1846.

1830   Anna Lembke als Rosalinde   Stadtarchiv Rostock.
Der Mittag, nach Potter F. Mahncke-Schwerin.
Der Abend, nach Potter          "                "
Der Morgen, nach Potter          "                "
(Druck von Helmlehner-Berlin)
Die Bärenjagd, nach Ridinger          "                "
1831 Die Brandwache am Püsserkrug          "                "
General von Kamptz, Brustbild nach rechts          "                "
Derselbe, Brustbild nach links Geh. u. Haupt-Archiv Schwerin.
1832 Die Ruhe, nach Potter; Druck von Kürschner F. Mahncke-Schwerin.
Die Feier des 10. August am Heiligendamm          "                "
Das Kollegiengebäude in Schwerin          "                "
Der Einzug in Doberan          "                "
1833 Übungslager der Sappeure          "                "
Stallszene, nach Potter          "                "
1834 Bauern beim Schmause, nach Adriaen Brouwer          "                "
Der gedeckte Eber          "                "
Friedrich Franz I. zu Pferde P. Günther-Schwerin.
1835 Der Marktplatz in Wismar; Druck von Gundlach Stadtarchiv Wismar.
Friedrich Franz I., stehend F. Mahncke-Schwerin.
1836 Schwerin, vom Ostorfer Berge aus          "                "
Sängerin Julie Gneib Geh. u. Haupt-Archiv Schwerin.
Die unvermutete Überraschung F. Mahncke-Schwerin.
Die Strecke der Eberjagd H. Neubeck-Schwerin.
1837 Die fehlgeschlagene Jagd Frau Mecklenburg-Schwerin.
Friedrich Franz I. auf dem Sterbebett Geh. u. Haupt-Archiv Schwerin.
1838 Der Geiger Ole Bull; Druck bei Kürschner-Schwerin F. Mahncke-Schwerin.
Der Schauspieler J. F. A. Beckmann          "                "
General von Kamptz, ganze Figur          "                "
Die Jubelfeier der Freiwilligen in Güstrow          "                "
Niederlegung der Fahnen im Dom zu Güstrow          "                "
Der Abend, nach van Bloemen Frau Herrmann-Schwerin.
Paul Friedrich, Brustbild nach links; Druck des Kgl. Lith. Instituts in Berlin F. Mahncke-Schwerin.
1840 Oberhofmarschall von Bülow, Kohlezeichnung v. Bülow-Kobrow.
Wismar von der See aus Geh. u. Haupt-Archiv Schwerin
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1841   Paul Friedrich zu Pferd; Druck des Kgl. Lith. Inst. Berlin   F. Mahncke-Schwerin.
16 Blatt Hamburger Bürgermilitär, koloriert; Druck Charles Fuchs-Hamburg Staatsarchiv Hamburg.
Le Commerce F. Mahncke-Schwerin.
1842 Paul Friedrich auf dem Paradebett          "                "
Der Markt in Schwerin Geh. u. Haupt-Archiv Schwerin
Rochingham, Pferdebild          "                "
Der große Sappeur, Kohlezeichnung F. Mahncke-Schwerin.
Sappeur Sergeant          "                "
Unteroffizier des Meckl. leichten Infanterie-Bataillons Geh. u. Haupt-Archiv Schwerin.
Unteroffizier der Meckl. Artillerie Geh. u. Haupt-Archiv Schwerin.
Tanzgruppe der 3 Bernadelli F. Mahncke-Schwerin.
1843 Wismar an der Ostsee mit Germania Geh. u. Haupt-Archiv Schwerin.
Dasselbe, handkoloriert, mit Doris A. v. Langermann-Schwerin.
Plan von Schwerin F. Mahncke-Schwerin.
Paul Friedrich, Kniestück Geh. u. Haupt-Archiv Schwerin.
1844 Der blaue Montag F. Mahncke-Schwerin.
1845 Fest der Landleute auf dem Kamp          "                "

III. Wanderjahre. 1846-1854.

  Briefkopf; Ansicht von Cuxhaven, ohne Jahreszahl   Staatsarchiv Hamburg.
Wilhelm Hocker          "                "
Wilhelm Nikolaus Freudentheil          "                "
Johann von Fahse          "                "
1848 Friedrich Franz II., ohne Bart, zu Pferde F. Mahncke-Schwerin.
1849 Einzug Friedrich Franz II. und Großherzogin Auguste; Druck bei Delius-Berlin          "                "
Denkmal Paul Friedrichs          "                "
Herzog Friedrich Wilhelm; Druck Delius-Berlin          "                "
Alexander von Hirschfeld v. Hirschfeld-Schwerin.
1850 Großherzog Friedrich Franz II., Druck Kürschner-Schwerin F. Mahncke-Schwerin.
1851 Stallszene, nach Potter          "                "
F. Neinhardt P. Günher-Schwerin.
1852 Friedrich Franz II.; Druck C. Herold-Wismar Geh. u. Haupt-Archiv Schwerin.
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1853   Friedrich Franz III., als Kind; Druck Kürschner-Schwerin   F. Mahncke-Schwerin.
Henriette Sonntag Staatsarchiv Hamburg.
Pferdehandel auf dem Lande in der Rostocker Gegend F. Mahncke-Schwerin.
Schluß des Pferdehandels          "                "
Forstmeister Mecklenburg, Kohlezeichnung Frau Mecklenburg-Schwerin.
1854 Wittenburg, getönt F. Mahncke-Schwerin.

IV. Hamburg. 1854-1861.

1857   Reifrockdame, der hochgeehrten Kaufmannschaft gewidmet   F. Mahncke-Schwerin.
Reifrockdame, den hochgeehrten Gewerken gewidmet          "                "
2 Blätter mit je 4 Hamburger Trachten, bunt; Lith. Anstalt von Fuchs-Hamburg Staatsarchiv Hamburg.
Warnemünde von der Seeseite, ohne Jahreszahl F. Mahncke-Schwerin.
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VI.

Das Haus zum Heiligen Geiste
zu Wismar

 

von

Friedrich Techen.

Vignette
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Inhalt.

  1. Anfänge und Bestimmung des Hauses, Sorge für Arme, Sieche und Pfründner
  2. Die Verwaltung des Hauses und das Personal
  3. Der Besitz des Heiligen Geistes
  4. Die kirchlichen Verhältnisse des Hauses zum Heiligen Geiste

 

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I. Anfänge und Bestimmung des Hauses, Sorge für Arme, Sieche und Pfründner.

Das Haus zum Heiligen Geiste kommt schon auf den ersten Seiten des ältesten Stadtbuchs vor, also vermutlich um 1250 oder sehr bald danach. Damals vermachten ihm die Eheleute Dietrich und Adelheid die Hälfte ihrer Habe. Urkundlich fest datierbar wird es zuerst 1253 erwähnt, wo ihm Herr Johann von Mecklenburg das Eigentum über zwei Hufen zu Metelsdorf samt seinen übrigen Rechten daran außer dem Gerichte an Hand und Hals verlieh 1 ). Es kann seiner Lage nach auf der Grenze der Altstadt und der Neustadt 2 ) kaum vor der Stadterweiterung begründet worden sein, da es hart vor den Planken der Altstadt außerhalb dieser lag 3 ). Seine Gründung wird entweder mit der Stadterweiterung zusammenfallen oder ihr sehr bald gefolgt sein. Jene Erweiterung aber mag der Anlage des ältesten Stadtbuchs etwa um ein Jahrzehnt vorangegangen 4 ) und demnach um 1240 erfolgt sein. Der Umstand, daß der Garten des Heiligen Geistes anfänglich bis gegen 1290 über die Heide hinausschoß und sich zwischen Böttcherstraße und Neustadt legte 5 ), spricht für die Anlage, bevor die Neustadt eine weitere Entwicklung gewonnen hatte. Andererseits warnt eine Urkunde von 1255, in der das Haus zum Heil. Geiste begonnen (inchoata) genannt wird 6 ), zu tief in die Vergangenheit hinabzusteigen.


1) Meckl. Urk.-B. Nr.722.
2) Meckl. Urk.-B. Nr. 1181. Ebenso lag der Heil. Geist in Greifswald: Pyl, Geschichte der Greifswalder Kirchen 3 S. 1199.
3) Crull, Jahrb. f. Meckl. Gesch. 41 S. 131 mit Tafel II.
4) Vgl. Techen, Gründung Wismars, Hans. Geschichtsbl. Jahrg. 1903 S. 127 f.
5) Meckl. Urk.-B. Nr. 2263, Jahrb. f. Meckl. Gesch. 66 S. 91 unter Heide.
6) Meckl. Urk.-B. Nr. 744.
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Bestimmt war das Haus zum Heiligen Geiste 7 ) nach Urkunden von 1255 und 1269 8 ), in täglichen Almosenspenden Werke der Barmherzigkeit zu üben, Kranke zu erquicken, Arme und Bekümmerte zu trösten, Dürftige, die kein Unterkommen finden könnten, zu herbergen, Nackte zu kleiden, kürzer nach etwas späteren 9 ), für Arme und Kranke oder Gebrechliche zu sorgen. Unter den Dürftigen, die kein Unterkommen finden könnten, werden wir uns weniger in der Stadt Einheimische als Wandernde und Pilger vorzustellen haben, wie das für den Rostocker Heil. Geist ausgesprochen ist 10 ). Arme, Lahme und Gebrechliche wurden nach einer Urkunde von 1351 bei Tage und bei Nacht von den Straßen aufgelesen, erquickt und unterhalten 11 ).

Die Armen und Kranken wurden wahrscheinlich von Anfang an für längere Zeit, vielleicht für Lebenszeit aufgenommen, wie es bald Regel ward und für Lübeck aus einer Zeit bezeugt ist, die vor der Gründung des Wismarschen Heiligen Geistes liegt. Dort warf nämlich das Domkapitel den Bürgern vor, sie brächten ihre verarmten Verwandten im Heiligen Geist unter, um sich ihrer Unterhaltungspflicht zu entziehen, und es seien die Insassen des Hauses weder geistlich noch gebrechlich, sondern wohl bei Kräften und sie betrieben auch weltliche Geschäfte 12 ). Voraussetzung für ein solches Verfahren ist ein Einkaufen, das denn auch für Wismar schon früh genug und hernach reichlich bezeugt ist.

Von einer Fürsorge für Arme enthalten die Rechnungen und Akten des Wismarschen Heiligen Geistes nicht allzuviel, und öfter


7) In den allerältesten Zeugnissen (Meckl. Urk.-B. Nr. 653, 654 und so fort im ältesten Stadtbuche) wird, wie es auch jetzt noch durchaus üblich ist, einfach vom Heiligen Geiste gesprochen, doch kommt schon früh (Meckl. Urk.-B. Nr. 886) die Bezeichnung Haus des Heiligen Geistes auf und findet sich ebenfalls nicht selten im ältesten Stadtbuche. Die Bezeichnung als hospitale kann ich zuerst 1372 in Meckl. Urk.-B. Nr. 10340 nachweisen, wenn ich von einer Urkunde des Bischofs Herman von Schwerin, gerichtet an magister et fratres hospitalis domus sancti Spiritus von 1278 (Meckl. Urk.-B. Nr. 1452) absehe, die für die ortsübliche Benennung nicht von Belang sein kann. Unter dem Hospital verstand man zu Wismar das Aussätzigenhaus zu St. Jakobs und stellte, ohne ein Mißverständnis befürchten zu müssen, domus sancti Spiritus und hospitale nebeneinander: Meckl. Urk.-B. Nr. 1484, 1501, 1600, 1603, 1604, 1908, 2196. In Nr. 2045 werden die hospitalia und die Häuser des Heil. Geistes wohl unterschieden.
8) Meckl. Urk.-B. Nr. 744, 1158.
9) Meckl. Urk.-B. Nr. 1488 und 2069 von den Jahren 1279 und 1290.
10) Meckl. Urk.-B. Nr. 1589.
11) Meckl. Urk.-B. Nr. 7432.
12) Die Aufzeichnung, die diese Anschuldigung enthält, Lübeckisches Urk.-B. 1 Nr. 66, ist von 1230.
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ist man dabei nicht sicher, ob nicht die Pfründner unter den Armen mitbegriffen sind. Stiftungen oder Vermächtnisse von 1306, 1313, 1328, 1359 1368 und 1512 waren doch für die Armen bestimmt 13 ), eine andere von 3 Mk. Rente 1400 zu Betten. Im Jahre 1411 holte der Hofmeister eine arme Frau vom St. Nikolai-Kirchhofe in den Heiligen Geist und gab ihr im Auftrage der Bürgermeister einen Rock 14 ). 1472 April 6 ließ der Bischof von Ratzeburg es gelten, daß der Hofmeister umme der armen lude willen seiner Ladung nicht nachkommen könne 15 ). Ausgaben für Lebensmittel, die den armen luden uppe dat hus zukommen sollten, sind 1492 im Pachtbuche verzeichnet 16 ). Von dem Brote aber, das 1501 für 12 Mk. gekauft ward, erhielten u. a. einen Teil de armen lude up dat hus, einen andern die Pfründner. Es wird hier also unzweideutig zwischen beiden unterschieden. Im folgenden Jahre findet sich 2 1/2 Mk. tho markede in de koken unde den armen up dat hus aver de vasten. Aus den häufigen Anschreibungen für die Armen seit 1530 hebe ich nur einiges aus: 1530 14 pen. vor waskent up deme langen huße den armen (ob die im selben Jahre für 2 Pfennige gekaufte Seife demselben Zwecke gedient hat, ist eine offene Frage), 1531 2 sch. vor hete wegge den armen unde bueknechten, 1533 des öfteren vor wegge den armen (je 6 Pfennige) oder tho markete (je 1 Schilling), sonst vor grone viske (4 Witte), vor waskent, zweimal ener weskerschen und zu Fastnacht vor hete wegge 15 Pfennige. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob wirklich Arme oder nicht Pfründner gemeint sind. Die spätere Auskunft von 1579, daß täglich 36 oder 37 Arme im Heiligen Geiste unterhalten werden 17 ), bezieht sich entschieden auf Pfründner.

Für den Unterhalt von Pilgern 18 ) besonders war eine jährliche Hebung von 17 Drömt Korn aus Martensdorf bestimmt, die der Hofmeister Werner Liskow 1371 für 310 Mk. Lüb. kaufte und wovon der Bürgermeister Volmar Lewetzow 50 Mk. zahlte. Davon sollte jeder arme Pilger eine Nachtruhe, ein Viertel Bier


13) Schröder, Papist. Mecklenburg S. 892, Meckl. Urk.-B. Nr. 3633, 4932, 4986, 8665, 9852, Geistliche Stadtbuchschriften Bl. 83; die dritte, eine jährliche Rente von 18 Mk., von Pfarrer Wilken von Proseken. Nr. 13570 zu Betten.
14) De[r] armen vrowen, de ik halde van sunte Nicolaus Kerkhave, der gaf ik enen wytten rok, de kostede 13 1/2 Sch., dat heten mi de borghemestere, Manual Bl. 11.
15) Ratsarchiv Wismar, Tit. XXIII Nr. A vol. 1.
16) Bl. 32.
17) Tit. I Nr. 3 vol. 9 S. 666.
18) ad usum et ad hospitium pauperum peregrinancium in domo sancti Spiritus veniencium, Meckl. Urk.-B. Nr. 10213.
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und eine Portion Brot (unum oblatum panis) im oberen Hause erhalten. Im folgenden Jahre stifteten Nikolaus Gogelowe und seine Hausfrau 3 Mk. jährlicher Rente zu Betten und Feurung für die Pilger im oberen Hause 19 ). Sie werden (außer etwa in Krankheitsfällen) nie länger als für eine Nacht beherbergt sein, wie das in Lübeck Vorschrift war. Dagegen war das Heil.-Geist-Hospital zu Greifswald gerade für Aufnahme von Fremden bestimmt 20 ). Das war eine Ausnahme.

Die ältesten Zeugnisse für einen Einkauf fallen zwischen die Jahre 1260 und 1272 21 ). Es war aber gemäß dem ersten nichts neues mehr und bereits eine gewisse Entwicklung durchgemacht. Denn Johann von Helegena, der hier seinen Sohn einkaufte, hatte selbst die Bruderschaft des Heiligen Geistes, also Wohnung und Pfründe dort, und er kaufte seinem Sohne Unterhalt und Kleidung unter der Bedingung, daß jenem der Austritt freistehn und ihm in diesem Falle das Einkaufgeld - 10 Mk. - erstattet werden solle. Gegen 1272 hin kaufte der Ratmann Hinrik Scheversten seinen Sohn für 6 Mk. ein 22 ). Um dieselbe Zeit gab Mechthild von Brunshaupten eine Tochter in den Heiligen Geist 23 ). Eigner Art ist der Einkauf der Tochter Hildebrand Höppeners. Dieser übergab 1285 auf seinem Siechbette den Ratmannen eine Hufe auf dem Damhufer Felde, damit sie für seine Tochter eine Pfründe im Heiligen Geist erwürben. Sie taten das aber in der Weise, daß sie zunächst bei ihrem Schwager ihren Unterhalt haben und erst, wenn dieser stürbe oder verarmte, Nahrung und Kleidung im Heiligen Geist finden sollte. Dieser erhielt dafür die beträchtliche Summe von 76 Mark. Hildebrand Höppener muß einer der reichsten Bürger gewesen sein 24 ). Könnte man nun auf den Gedanken geraten, daß die Eltern ihren eingekauften Kindern nicht die Fähigkeit zugetraut hätten, sich durchs Leben zu schlagen, so wird doch die Absicht, für die Kinder eine sichere Versorgung und ein ruhiges Leben zu schaffen, vorgewaltet haben, um so mehr, als nicht nur dem Sohne Helegenas, sondern auch dem der Vredeke von Hannover, die sich samt Sohn und Sohneskind 1273 in den Heiligen Geist gab 25 ), die Wahl freigestellt ward, ob sie später


19) Meckl. Urk.-B. Nr. 10340.
20) Lüb. Urk.-B. 1 Nr. 275 S. 257; Beiträge zur Gesch. der Stadt Greifswald 4 S. 60 § 29.
21) Meckl. Urk.-B. Nr. 886, 893.
22) Das älteste Wismarsche Stadtbuch, hrsg. von Techen, § 981.
23) Meckl. Urk.-B. Nr. 1253.
24) Meckl. Urk.-B. Nr. 1773, 905, 1333.
25) Meckl. Urk.-B. Nr. 1271.
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bleiben oder austreten wollten. Auch jenes erst angeführte Zeugnis aus Lübeck ist zu beherzigen, und es kommt noch ein anderes hinzu. Es waren jener Zeit nicht etwa nur Ärmere, die in den Heiligen Geist eintraten, sondern auch vermögende Leute und solche aus den ersten Kreisen suchten dort Zuflucht oder hielten sie sich offen. So der Krämer Bertram, der in den beiden ältesten Stadtbüchern vielfach begegnet und um 1272 dem Heiligen Geiste 18 Mk. übergab, wogegen er dann nach Belieben dort eintreten konnte oder auch nicht 26 ). Die Witwe des Ratmanns Hinrik von Borken aber nahm eine Magd mit in das Haus. Sie gab ihm außer ihrem etwaigen Nachlaß die Nutznießung von 4 Morgen Ackers für sechs Jahre und für ihr, ihres Mannes und ihrer Eltern Seelenheil 2 1/2 Morgen 27 ). Auch die Witwe des 1328 zuletzt genannten Ratmanns Johann von Varen hatte eine Pfründe im Heiligen Geiste 28 ). Die Pfründnerin Katharina Mule kaufte sich für 24 Mark ein Seelgedächtnis beim Großen Kalande 29 ) und schenkte außerdem 10 Mk. Mechthild Winkelman aber stiftete für 240 Mk. Buchenkohlen zur ewigen Verteilung im Heiligen Geiste 30 ).

Ratmannen, die in ihren Vermögensverhältnissen zurückgekommen waren, konnten ihren Unterhalt im Heiligen Geiste finden. So sollte nach Ratsbeschluß von 1325 Konrad von Manderow oder seine Hausfrau, wer den andern überlebte, für den Rest des Lebens dort eine Pfründe erhalten, und 1330 beschloß der Rat allgemein, daß im Falle der Verarmung eines Ratmannes er oder seine Hausfrau auf Wunsch mit einer Pfründe dort versorgt werden solle 31 ).

Aus diesen beiden Beschlüssen geht hervor, daß damals ein Ehepaar noch nicht in den Heiligen Geist eintreten konnte. Das ward später anders, war aber die Folge davon, daß die Insassen des Hauses eine geistliche Brüderschaft bildeten. Wir sahen schon, daß Johann von Helegena, der seinen Sohn in den Heiligen Geist einkaufte, selbst dessen Bruderschaft hatte 32 ). Etwa 1272 ward Hinze Westfal aus Varpen in die Bruderschaft aufgenommen 33 ). Demgemäß wurden die Insassen als Brüder bezeichnet. So jener


26) Ältestes Stadtbuch § 1138.
27) Meckl. Urk.-B. Nr. 1880 vom Jahre 1287.
28) Meckl. Urk.-B. Nr. 6829.
29) Meckl. Urk.-B. Nr. 9849. Vgl. Nr. 1117.
30) Meckl. Urk.-B. Nr. 13095 vom Jahre 1397.
31) Meckl. Urk.-B. Nr. 4590 mit Anm., 5166.
32) Meckl. Urk.-B. Nr. 886.
33) Ältestes Stadtbuch § 1145.
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Johann, der Urkunden des Hauses gestohlen hatte 34 ). Im Jahre 1275 wird von Konversen gesprochen 35 ). Wären Ordnungen vorhanden wie für Lübeck, Kiel, Barth 36 ), so würden wir klarer sehen. Dort waren die Stifte zum Heiligen Geiste ausgesprochen geistliche Bruderschaften. Es ward von den Insassen Keuschheit und Gehorsam verlangt, sie hatten sich ihres Eigentums zu entäußern, trugen gleiche Tracht, waren zu Gebeten verpflichtet und hatten ein Probejahr zu bestehen. Nach der Ordnung des Stralsunder Armenhauses von 1540 hatten dessen Insassen die Verpflichtung, gade mit singen to laven. Eheleute durften aufgenommen werden, wenn sie nicht mehr zeugungsfähig waren und gelobten, nicht beisammen zu schlafen. In den Heiligen Geist zu Kolberg sollte nach einem Ratsbeschlusse von 1429 hinfort niemand unter fünfzig Jahren aufgenommen werden, auch nicht (um Streit zu vermeiden) Bruder und Schwester, Mutter und Tochter 37 ). Größere Ähnlichkeit mit dem Wismarschen scheint das Haus des Heiligen Geistes zu Lüneburg gehabt zu haben 38 ).

Das erste Zeugnis dafür, daß ein Ehepaar eintrat, ist von 1346. Es waren Johann Mögilke aus Gagzow und seine Hausfrau 39 ). Ein anderes Ehepaar erwarb 1403 zwei Pfründen, andere folgten.

Von 1402 bis 1522 sind wir dank den erhaltenen Rechnungsbüchern über die Pfründenkäufe dieser 120 Jahre recht gut unterrichtet, wenn auch die Buchführung hin und wieder nachlässig ist und zu Zweifeln und Irrtümern Anlaß gibt. Von 1402 bis 1431 wurden 48 volle und 16 halbe Pfründen gekauft, von 1432 bis 1461 48 volle und 52 halbe 40 ), von 1462 bis 1491 23 volle und 17 halbe. Von 1492 bis 1497 ist nichts angeschrieben, von 1498 aber bis 1522 sind 28 volle und 32 halbe Pfründen gekauft worden.


34) Meckl. Urk.-B. Nr. 1306, zwischen 1273 und 1284.
35) Meckl. Urk.-B. Nr. 2312.
36) Lüb. Urk.-B. 1 Nr. 275 (von 1263), Westphalen, Mon. inedita IV Sp. 3277-3280 (von 1301), Fabricius, Urkunden zur Gesch. des Fürstentums Rügen IV Nr. 387 (von 1309), beide von der Lübecker Ordnung stark abhängig.
37) Riemann, Gesch. der St. Colberg, Anhang S. 73.
38) Vgl. Erich Zechlin, Lüneburgs Hospitäler im Mittelalter.
39) Meckl. Urk.-B. Nr. 6634.
40) Für diesen Zeitraum haben wir viele nebeneinander herlaufende Buchungen, wobei sich oft nicht feststellen läßt, ob dieselben Pfründen doppelt verzeichnet oder ob die Einzeichnungen einzeln zu zählen sind. Natürlich sind die als doppelt erkennbaren Buchungen nur einmal gezählt, aber es können die gebotenen Zahlen dennoch beträchtlich zu hoch sein.
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Wieviel Pfründner gleichzeitig beherbergt sind, läßt sich für das Mittelalter nicht ermitteln. Nach einer 1599 erteilten Auskunft wurden damals täglich 36 oder 37 Arme unterhalten. Im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts stellte das Haus zum Heiligen Geiste in der Regel 45 Abendmahlsgäste, in den achtziger Jahren beherbergte das Lange Haus 16-18 und wohnten auf dem Hofe um 20, nie über 30 41 ). Jetzt sind im Langen Hause 11, auf dem Hofe 19 Wohnungen. - Eine Leserin (Kath. Wilken) starb 1669.

Der Preis für die volle Pfründe betrug im 15. Jahrhundert der Regel nach 60 Mk., für die halbe die Hälfte, doch werden seit 1450 oft genug auch nur 50 oder 55 Mk. für die volle und 25 Mk. für die halbe Pfründe oder sonst abweichende Beträge gezahlt. 1303 ward bei einem Vermächtnisse von 24 Mk. ausbedungen, daß die Erben der Testierenden für jemand, der mindestens 12 Jahre alt sein müßte, eine Pfründe für die Zeit seines Lebens erbitten könnten 42 ). Johann Rugensee, der 1308 eine Pfründe für 30 Mk. erkaufte, bedang sich aus, den Hof Steffin als Hofmeister zu verwalten und daraus seinen Unterhalt zu beziehen, solange er sich gut führte 43 ). Im Anfange des 16. Jahrhunderts, wo die Eintragungen in bezug auf die Preise viel zu wünschen übrig lassen, scheint für die volle Pfründe in der Regel 50 Mk., für die halbe 25 Mk. gezahlt zu sein. Vereinzelt wurden zu allen Zeiten höhere Preise erlegt. So kaufte Detlef Wuste sich und einen Sohn 1406 für 150 Mk. ein, Hans Kremer gab 1449 für eine Pfründe 70 Mk., Anneke Schomaker 1516 60 Gulden, also 90 Mk., 1517 Margarete Swanes 67 Mk. Als Zugaben begegnen seit 1466 1/2 oder 1 Tonne Butter für die volle und auch für die halbe Pfründe, 1479 auch 1 Tonne Lachsforellen (öre) und seit 1409 ein Dienst, d. h. ein Schmaus 44 ) oder dessen Ablösung durch Zahlung (Dienstgeld). Die Aufzeichnungen hierüber sind aber nur gelegentlich und selten gemacht. Genauer heißt es nur einmal 1411: dar heft zee vor dan alle plycht unde denst den proveneren, also sik dat van rechte bord. Eine geringere Zahlung ward wohl durch späteren Antritt der Pfründe ausgeglichen. So sollte Hans Lyntbeke, der 1409 eine


41) Tit. I Nr. 3 vol. 9 S. 666. Predigerbuch des Heiligen Geistes S. 292, 297.
42) Meckl. Urk.-B. Nr. 2841.
43) Meckl. Urk.-B. Nr. 3208.
44) Wegen eines neuen über das zur Aufnahme neuer Pfründner erforderliche Alter erhielten eine Jungfrau und eine Frau in Kolberg keine Pfründe, dey beyde alreyde hebben daan ere koste den armen luden in der zammelynghe, Riemamn, Gesch. der St. Colberg, Anhang S. 74.
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Pfründe für 50 Mk. kaufte, sie erst nach drei Jahren beziehen. Von 25 Mk., die Meygenborch Hoppenhovedes 1518 für eine halbe Pfründe gab, zahlte sie 22 Mk. bar und beglich den Rest durch Einbringung einer Kuh. Greteke Stykkebases erhielt 1416 eine Pfründe für umsonst, Katharina Wilkens auf Fürsprache (nach vorbiddinge) 1478 eine halbe für 25 Mk. Zu der von Tilsche Mandages, des karcheren kokesche, 1518 geleisteten Zahlung steuerte ihr Dienstherr 16 Mk. bei. Zu dem Erwerb von Pfründen durch Frauen erklärten deren Ehemänner 1490 und 1491 ihre Zustimmung, wie auch vielfach die Einwilligung der erbberechtigten Verwandten zu den Verträgen über den Einkauf bezeugt ist.

Eine gewisse, und zwar unter Umständen nicht unbeträchtliche Ergänzung des Kaufpreises der Pfründen liegt darin, daß der Nachlaß der Pfründner dem Hause des Heiligen Geistes zufiel. Es läßt sich freilich nicht sagen, ob das ausnahmslos der Fall war. In dem Prövenbok, das allein ausführliche Nachrichten über den Kauf von Pfründen zwischen 1486 und 1543 enthält, ist diese Abmachung ziemlich regelmäßig verzeichnet, doch braucht bei der Natur der Eintragungen das Fehlen nicht als absichtlich angenommen zu werden. Schon 1308 ward mit Helmold Waterlow, der sich für 20 Mk. eine Pfründe kaufte, ohne sie gleich antreten zu wollen, vereinbart, daß das Haus zum Heiligen Geiste seinen Nachlaß ganz erhalten solle, wenn er außerhalb Landes verstürbe, daß er aber über 10 Mk. davon frei verfügen könne, wenn er im Lande verstürbe 45 ). 1415 ward abgemacht, daß von dem Nachlaß einer Pfründnerin das beste par cledere myd deme smyde unde myd deme vodere dem Heiligen Geiste zufallen solle, 1426 dasjenige, was ein Pfründner van inghedomete unde van klederen unde van bedewande einbringe, 1427 van klederen unde van reschoppe oder van ynghedomete unde van klederen. 1536 wies der Rat, als die Kinder des Klawes Krampen über seinen Nachlaß außerhalb des Heil.-Geist-Hauses in Streit geraten waren, diesen dem Heiligen Geiste mit der Begründung zu, daß jener de proven ghehath hadde up deme langen huße. 1500 kam mit der Tengelschen ein Vertrag dahin zustande, daß sie von dem Gelde, das ihr Mann eingebracht hatte, 3 Mk. erhielt, aber 2 grapen, 1 swarten hoyken, 1 roeth wamboghe und 1 par Leydesker haßen dem Heiligen Geiste überließ. Aus dem Nachlaß von 5 oder 6 Pfründnern wurden 1533 27 Mk. 2 Sch. 7 Pfen. erlöst.

Jetzt beträgt das Einkaufsgeld für die 11 Prövnerwohnungen im Langen Hause 315-510 RM., für die 10 auf dem Hofe 525


45) Meckl. Urk.-B. Nr. 3209.
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bis 675 RM., für die 11 Wohnungen ohne Pröve auf dem Hofe (die Freiwohnungen) 75-150 RM. Auf den Nachlaß der Insassen der letzteren hat der Heilige Geist keinen Anspruch. Das Dienstgeld setzt sich in einem Einspringegeld und einer Zahlung zu Wein und Brot für die Prövner des Langen Hauses fort (insgesamt 7,60 Mk. und 1,75 Mk. für den ältesten Ratsreitenden Diener). Mehrere Wohnungen sind für Paare bestimmt. Die Schiffer haben 1670 durch Zahlung von 300 Mk. das Recht gewonnen, eine Person, die ohne Entgelt aufgenommen werden muß, zur Aufnahme vorzuschlagen 46 ).

Es kam vor, daß jemand zwei Pfründen kaufte, so 1428 Metke Sternberges, 1448 Schüttesche, 1481 Taleke Sternberges. Metke Sternberges wandte außerdem noch dem Heiligen Geiste 50 Mk. zu, uppe dat ze deste zeker moghe stan in eren provene[n]. Mann und Frau erwarben entweder 2 Pfründen zusammen oder auch nur 1 1/2 47 ), wovon dann bei dem Tode des einen Gatten dem überlebenden eine volle Pfründe verblieb (was 1456 und 1507 ausdrücklich gesagt ist), oder auch nur eine, die dem überlebenden Gatten voll verbleiben sollte 48 ), einmal auch nur eine halbe zusammen 49 ). Die volle Pfründe wird einmal als ene grote provene bezeichnet 50 ).

Öfter begegnen Siechenpfründen. So zahlte 1440 Katharina Waterwisch 25 Mk. uppe eyn sekenprovene an, kauften 1444 Grawbardesche und Ghezeke Schröder jede für 30 Mk. eine halbe Pfründe in deme sekhuse, Hinr. Schele zahlte 1446 35 Mk. für eine sekenprovene, Leneke oppe deme sekhus 1449 für 1/2 Pfründe 30 Mk. Die letzte Siechenpfründe, die mir bis 1543 begegnet ist, hat 1511 Rykehaveske auf dem Langen Hause gegen Hergabe von einen Morgen Ackers erworben 51 ).

Für die Siechen hatte Otto Becker 1328 eine Rente von 4 1/2 Mk. Lüb. aus Moidentin zu Bier zwecks Erfrischung ge-


46) Zeugebuch Bl. 233.
47) 1425 Joh. Knuppel, 1456 Lutke Smyd, 1507 Symon Barme, immer mit ihren Hausfrauen.
48) 1427 Hans Kummerow, 1443 Jakob Voltzer, 1472 Hans Klenske, immer mit ihren Hausfrauen.
49) 1423 Klawes Rubowe und Hausfrau.
50) 1446 von Bordink für seine Tochter gekauft.
51) Es erwarben noch Katharina Wernes eine zekenprovene für 30 Mk. 1452, Grete Heytmans 1455 eine für 24 Mk. (dieselbe aber 1457 eine Pfründe für 60 Mk.), ein Ungenannter 1465 eine halbe Pfründe up deme sekenhus für 20 Mk.
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stiftet 52 ), Hinr. Körneke aber 1336 seine Hebungen aus Metelsdorf nach dem Tode aller seiner Kinder für die bettlägerigen Kranken des Hauses bestimmt 53 ) und Vicke Mey den armen Siechen eine jährliche Rente von 40 Schillingen aus Witow gegeben. Weiter hatten die Hofmeister Johann Kröger und Johann Schacht samt ihren Ehefrauen 1341 den Ertrag einer Windmühle zu Butter für die Siechen und Pfründner vermacht 54 ), der Priester Konrad Vesperde aber 1406 den Siechen im Siechenhause 55 ) in seinem Testamente 2 Mk. ausgesetzt. Zu Unterhaltung einer ewigen Lampe endlich für sie (coram infirmis) der Pfarrer zu A.-Bukow Dietrich Mummendorp 1339 die Rente von 30 Mk. gegeben 56 ). Zu Lein für die Betten der Kranken sollte die Rente von 60 Mk. dienen, die Nikolaus Vrowede aus Lübeck 1289 vermacht hatte 57 ). Vielleicht kamen auch die zwei Betten, die Hinr. Rikwerstorp und seine Hausfrau Kunigunde 1321 für den Heiligen Geist gestiftet hatten, den Kranken zugute.

Zu ihrer Pflege ward eine Siechenmagd gehalten. Für diese stiftete Hinr. Rikwerstorp 1321 6 Schillinge jährlicher Rente 58 ). Um 1360 wurden für die Dienstboten im Backhause und für die Siechenmagd jährlich 6 Mk. ausgegeben 59 ). Eine zekenmaghet kommt oft in den Rechnungsbüchern vor. Eine namens Gheze kaufte sich 1431 eine halbe Pfründe. Eine andere, die 1517 begegnet, war verheiratet. An Stelle der 1531 zuletzt bezeugten sekenmaget tritt seit 1533 eine provenmaghet. Vereinzelt kommt 1448 ein gastmester auf dem Siechenhause vor, während der Gastmeister in


52) Meckl. Urk.-B. Nr. 4986: ita quod cervisia sive potus cum tantis redditibus pauperibus in dicta domo sancti Spiritus languentibus ad ipsorum recreationem debeat eternaliter comparari et distribui eisdem secundum eorum necessitatem.
53) Meckl. Urk.-B. Nr. 5714 S. 637: infirmis domus sancti Spiritus in lectis jacentibus; vielleicht fand später ein Umtausch statt, da nach dem Tode seiner Enkel 1405 16 Mk. Rente aus Vorwerk, Ost-Golwitz und aus dem Hofe zum Velde zu Almosen für die armen Siechen bestimmt wurden, lib. miss. Bl. 28, auszüglich bei Schröder, Pap. Meckl. S. 1731. Die Stiftung Vicke Meis: Meckl. Urk.-B. Nr. 5852: pauperibus infectis.
54) Meckl. Urk.-B. Nr. 6131.
55) infirmis in infirmario ad sanctum Spiritum languentibus.
56) Meckl. Urk.-B. Nr. 5923.
57) Meckl. Urk.-B. Nr. 2017.
58) Meckl. Urk.-B. Nr. 4302.
59) Meckl. Urk.-B. Nr. 8427 S. 241. - Eine pröfenmagd starb 1630, Predigerbuch S. 386. Ihre Nachfolgerin führt noch dieselbe Bezeichnung bis 1645, heißt hernach seit 1650 Köchin. Die dazwischenliegenden Rechnungen fehlen. Noch 1625 wurden Köchin und Prövenmagd gehalten.