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2. Alterthümer des christlichen Mittelalters und der neuern Zeit.


Schachfigur.

Im J. 1856 kaufte ich für die großherzoglichen Sammlungen bei einem Trödler in Parchim eine mittelalterliche, große Schachfigur, welche im hohen Grade merkwürdig ist. Woher diese Figur stammt und wie sie in die Hände des letzten Besitzers gekommen ist, ist nicht zu ermitteln gewesen; wahrscheinlich hat sie sich seit Jahrhunderten als Seltenheit fort und fort vererbt, bis sie endlich aus einem ärmlichen Nachlasse zur Versteigerung gekommen und für einen geringen Preis losgeschlagen ist. - In jüngern Zeiten hat die Figur wohl zur Verzierung irgend eines Gerätes gedient, da in die untere Fläche des Bodens 5 Löcher in einer Linie eingebohrt sind, von denen 4 ausgebrochen sind. Vielleicht hat diese Verwendung die Erhaltung der Figur befördert.

Die Figur ist sehr schön und in reinem Style kunstreich gearbeitet und trägt ganz strenge den Stempel einer bestimmten Zeit. Sie ist 3 1/2" (hamburger Maaß) hoch, 2" breit in der Vorderansicht und 1 1/8" dick, so daß sie mit der Faust zu fassen ist, und ist an Größe und Gestalt den übrigen, bekannten, nordischen Schachfiguren ähnlich. Sie ist nach dem Urtheil erfahrner Kenner aus Wallroßzahn geschnitzt, nicht wahrscheinlich, wie es den Anschein hat, aus Elfenbein; jedenfalls ist sie nicht aus Hirschhorn 1 ). Die untere, dickere Hälfte ist von den Seiten her ausgehöhlt.

Eine Schachspielscene aus alter Zeit ist dargestellt in v. d. Hagen's Bildersaal altdeutscher Dichter, Berlin, 1856, Atlas Tat. V, aus der Handschrift der Manesseschen


1) Im Kataloge des germanischen Museums zu Nürnberg werden einige alte Schachfiguren aus Hirschhorn aufgeführt; daß unsere Figur nicht aus Hirschhorn ist, steht nach dem Urtheil erfahrener Kenner fest. Schon das specifische Gewicht spricht gegen Hirschhorn.
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Sammlung (um das J. 1300). Der brandenburgische Markgraf Otto IV. mit dem Pfeile (1266-1308) und seine Gemahlin sitzen anf einer Bank und spielen Schach; beide haben das große Schachbrett zwischen sich auf der Bank stehen. Aus den Schachfiguren, welche beide in den Händen haben, läßt sich ungefähr ermessen, daß dieselben so groß sein sollen, als die bisher erhaltenen alten Schachfiguren.

Unsere Figur stellt den König (?) dar und giebt dadurch ziemlich feste Anhaltspunkte zur Bestimmung. Der König mit Scepter und Krone sitzt auf einem antiken Throne und an jeder Seite bedient ihn eine knieende Figur.

Der niedrige, breite Thron ist ganz im ausgebildeten, feinen, romanischen Baustyle gehalten. Die Rückwand, welche sehr sauber geschnitten ist, bildet ein Quadrat von 2" und ist mit sehr schönen, durchbrochenen romanischen Ranken= und Blattornamenten verziert. Die Lehnen stellen Pforten im romanischen oder Rundbogenstyle dar und sind oben mit romanischem Laubwerk gekrönt.

Der König sitzt auf dem Throne. Er ist mit einem faltigen, bis auf die Füße reichenden Untergewande und mit einem weiten Mantel bekleidet, der unter den Armen und über den Knieen zusammengenommen ist. Vom Haupte hängt auf Schultern und Rücken hinab ein Schleier in fein gruppirten Falten. Auf dem Haupte trägt er eine Lilienkrone, welche einen Reif mit vier niedrigen Lilien darstellt. In der rechten Hand trägt er ein Lilienscepter, welches verhältnißmäßig sehr groß ist; der Stab ist kurz und dick, die Lilie auf dem Stabe sehr groß. In der linken Hand hält er einen runden Becher. Einen Bart hat das lange Gesicht der Figur mit den starken Gesichtszügen nicht; jedoch ist die untere Kinnlade etwas rauh gehalten, so daß man aus der Ferne ein männliches Gesicht zu sehen glauben kann.

Zu den Seiten knieen mit einem Beine zwei Knabengestalten 1 ), ein Schenke und ein Spielmann, mit unbedecktem Kopfe, mit lockigem Haar und mit einem kurzen, bis an die Kniee reichenden, faltigen, gegürteten Gewande bekleidet, welches einer römischen Tunica gleicht. Die Figur zu des Königs rechter Hand, ein Schenke, hält den Deckel zu dem runden Becher, oder einen leeren Becher, welcher auf die Seite gelegt dem Könige auf dem rechten Kniee liegt, also


1) Schon in dem Schachspiele Carls des Großen stehen zu den Seiten des Königs und der Königin zwei jugendliche Gestalten (vgl. Maßmann Taf. IX.)
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nicht einen credenzten Becher darstellen kann. Beide Attribute, die Becher, sind gleich gestaltet und das in der linken Hand des Königs kann nicht einen Reichsapfel darstellen 1 ). Die Figur zur Linken, der Spielmann, spielt auf zwei Pfeifen, wie Dudelsackpfeifen oder Clarinete gestaltet.

Die Anordnung ist reich, die Zeichnung rein, die Ausführung fein und sauber. Das Ganze weiset unverkennbar auf die Zeit des ausgebildeten romanischen Baustyls hin. Ich nehme keinen Anstand, diese Figur in die erste Hälfte des zwölften Jahrhunderts zu setzen; darauf weiset auch in Vergleichung der Münzen jener Zeit die Gestalt der Krone und des Scepters hin. Ein in Siegeln und Münzen erfahrener Freund rief beim Anblick der Figur unwillkürlich aus: "Das ist ja Lothar von Sachsen" (1125-1137). Vielleicht ist die Figur ein Jahrhundert älter; die allerjüngste Zeit aber, aus welcher die Figur stammen kann, ist die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts, die Zeit des Kaisers Friedrich I Barbarossa und die Zeit des Sachsenherzogs Heinrich des Löwen. In Beihalt anderer Kunstwerke scheint diese Figur aus den altsächsischen Ländern zu stammen; es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie unter Lothar von Sachsen geschnitten und durch Heinrich den Löwen nach Meklenburg gekommen ist.

An Größe, Form und Material gleicht die Figur ganz den übrigen bekannten Schachfiguren. Ich beziehe mich im Allgemeinen auf die gelehrte "Geschichte des mittelalterlichen, vorzugsweise des deutschen Schachspiels, von H. F. Maßmann, Quedlinburg und Leipzig, 1839", welche sich freilich mehr mit der Literatur, als mit den bildlichen Darstellungen beschäftigt, jedoch an Abbildungen und Nachweisungen doch das Nothwendigste giebt; auf das Alter der vermiedenen alten Schachfiguren geht er jedoch nicht ein.

Die ältesten Schachfiguren sind wohl die, welche der Kaiser Carl der Große vom Kalifen Harun al Raschid geschenkt erhalten haben soll und die noch jetzt im Museum zu Paris aufbewahrt werden (vgl. Maßmann S. 24 u. Taf. IX). Die Figuren scheinen nach den Abbildungen wirklich der Zeit Carls des Großen anzugehören; die Architektur ist altromanisch, die Darstellung der Figuren ist zum Theil noch ganz


1) Nach alten deutschen Beschreibungen sfoll (nach Maßmann S. 119):

der künec sizzen in sînem palas; ein krône sal er haben ûf sînem houbet, in der tenkenen hant sal er haben ein guldinen apfel, in der gerechten hant sal er haben ein zepter".

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römisch. An einen orientalischen Ursprung der Figuren wird aber wohl nicht zu denken sein. Diese Schachfiguren haben einen ganz andern, viel strengern Charakter, als unsere Figur.

Bekannter sind die nordischen Schachfiguren, von denen einige Figuren im "Leitfaden zur Nordischen Alterthumskunde, Kopenhagen, 1837", S. 67 flgd., und in andern ähnlichen dänischen Werken abgebildet sind. In Kopenhagen werden einige Spiele und einzelne Figuren aufbewahrt. Nach den Ornamenten gehören diese Figuren der romanischen Periode an, sind aber alle plump im Styl, und viel plumper, roher, unnatürlicher und einfacher, als unsere Figur, und tragen ganz den Charakter anderer skandinavischer Kunstwerke jener Zeit.

Völlig identisch, selbst in Kleinigkeiten übereinstimmend mit den nordischen Schachfiguren sind die 67 Schachfiguren, welche von einem nordischen Handelsschiffe an der schottischen Insel Lewis gestrandet sein sollen und hier 1832 gefunden wurden (vgl. Maßmann S. 25, 26 und 221 und Taf. I bis VIII). Die Abbildungen bei Maßmann und die im Leitfaden zur Nordischen Alterthumskunde stimmen merkwürdiger Weise bis auf das kleinste überein, so daß die auf Lewis gestrandeten Figuren ohne Zweifel skandinavischen Ursprungs sind.

Diese nordischen Schachfiguren mögen aus derselben Zeit stammen, aus welcher unsere Figur stammt. Das Schachspiel soll im 11. oder 13. Jahrh. in England eingeführt worden sein.

Eine ähnliche Schachfigur besitzt der Herr Kaufmann Dumrath in Rostock. Diese Figur, aus Bein geschnitzt, hat theils mit unserer Figur, theils mit den nordischen Figuren viel Aehnlichkeit. Sie ist etwas größer, als unsere Figur und stellt einen Bischof dar, welcher auf einem Stuhle sitzt, die rechte Hand zum Segnen erhebt und in der linken Hand einen Bischofsstab hält; das Haupt ist von einer niedrigen Bischofsmütze bedeckt und die Füße und das Untergewand sind sichtbar. Zu seinen Seiten knieen zwei Knabengestalten, von denen der zur Rechten ein aufgeschlagenes Buch, der zur Linken einen Stock hält und den Kopf auf die linke Hand stützt. Die Hinterwand und die Seitenwände des Thrones sind mit romanischen Ranken verziert, welche in den Verschlingungen und den Enden ganz den Verzierungen auf dem Throne unserer Figur gleich sind. Dem Style und der Anordnung nach hat die rostocker Figur viel Aehnlichkeit mit unserer Figur, obwohl sie lange nicht so sauber und regelmäßig geschnitzt ist, als diese. Jedoch ist sie auch nicht so plump, wie die nordischen Figuren. Die Verzierungen des Thrones, die beiden Knabengestalten, die Falten der Gewänder reden viel mehr für eine Aehnlich=

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keit mit unserer Figur, als mit den nordischen Figuren. Ich möchte daher auch die rostocker Figur für eine deutsche halten, um so mehr, da sie zunächst aus Lübeck stammt.

Im Museum zu Berlin 1 ) werden auch mehrere alte Schachfiguren aus Bein aufbewahrt. Zu unserer Figur stimmen an Zeit, Styl und Größe namentlich zwei Bischofsfiguren (jetzt: Läufer), welche freilich im Ornament der Stühle viel einfacher gehalten sind, als unser Thron, aber eine sehr geschmackvolle und verständige Darstellung des Ganzen zeigen; sie stammen dem Anscheine nach mit unserer Figur aus derselben Zeit. Aelter sind ohne Zweifel zwei größere Figuren, eine Königin, auf einem weiten, großen, mit romanischen Ornamenten bedeckten Throne sitzend, und ein König, mit dem aufgerichteten Schwerte in der rechten und einen Falken auf der linken Faust, hinten von 13 bewaffneten, stehenden Männern umgeben, welche große, spitze Schilde tragen. Jünger sind dagegen wohl zwei Figuren, welche einen Ritter zu Roß (jetzt: Springer) darstellen. Die eine dieser Figuren, einen Ritter mit einem Helme mit spitzem Visiere darstellend, umgeben von 10 Bogenschützen, ist ungefähr von der Größe der übrigen bekannten Figuren, 4" hoch. Die andere Figur, einen Ritter, mit offenem Helme, mit Schild und Schwert, darstellend, von 19 Bogenschützen umgeben, ist viel größer, 6" hoch. Diese Figuren scheinen dem 14. oder 15. Jahrh. anzugehören.

Die Figuren im Antiquarium zu Regensburg (bei Maßmann Taf. X) scheinen ebenfalls dem 15. Jahrhundert anzugehören.

Auch alle diese Figuren scheinen von deutscher Arbeit zu sein, da sie im Styl mit den nordischen Figuren nichts gemein haben.

Man könnte wohl glauben, daß unsere Figur eine Königin darstellen sollte. Dafür könnte der Schleier reden und die kaum bemerkbare Andeutung eines gescheitelten Haares in den Schläfen. Dagegen redet aber nicht allein die ganze strenge Haltung der Figur, in der nichts Weibliches liegt, der Charakter der starken Züge des Gesichts, namentlich der Nase und des Kinnes, die Krone und der Scepter, der Becher und der Spielmann. Die ganze Darstellung erscheint mir so wenig weiblich und mittelalterlich zart, daß ich mich nur durch sehr triftige Gegenbeweise dazu entschließen kann, die Figur für eine Königin anzunehmen.


1) Der Herr Geheimerath und General=Director Dr. von Olfers zu Berlin hat die große Freundlichkeit gehabt, den schweriner Sammlungen vortreffliche Gypsabgüsse von den berliner Figuren mitzutheilen.
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Eine höchst merkwürdige Aehnlichkeit mit unserer Figur giebt das Bild des Königs Wenzel von Böhmen aus der Handschrift der Manesseschen Liedersammlung (um das J. 1300) in v. d. Hagen's Bildersaal altdeutscher Dichter, Berlin, 1856, Taf. III, mit Erläuterung S. 18 und 101 flgd. Der König Wenzel II. von Böhmen (1270-1305) sitzt auf einem Throne (ohne Lehne), mit der Lilienkrone auf dem Haupte und dem Lilienscepter in der rechten Hand, umgeben von seinem Hofstaat in 4 Personen, von denen 3 hier nicht weiter in Betracht kommen. Zu seiner Linken steht eine Figur, welche mit beiden Händen einen umgekehrten Becher hält, den der König mit der linken Hand anfaßt. Diesen Becher deutet v. d. Hagen S. 18 und 103 also, daß er das damalige Reichsschenkenamt Böhmens bezeichne. Zu den Füßen des Königs knieen außerdem noch zwei Knabengestalten, Spielleute, von denen der zur Rechten eine Pfeife, wie ein Clarinet, der andere eine Fidel hält. - Der Mitteltheil dieser Darstellung gleicht fast ganz der Darstellung unserer Schachfigur, und es geht hieraus hervor, daß Darstellungen dieser Art zu jener Zeit Sitte waren. Die Bilder der Manesseschen Sammlung (um 1300) sind aber offenbar jünger, als unsere Schachfigur, was aus dem ganzen Style und allen Einzelnheiten deutlich ersichtlich ist, wenn auch das Bild manche Ueberlieferung aus älterer Zeit haben mag. Das Bild des Kaisers Heinrich VI. von Hohenstaufen, mit Lilien=Scepter und Krone, bei v. d. Hagen Taf. I, ist dem Bilde des Königs Wenzel ähnlich und ebenfalls jünger, als unsere Schachfigur.

Aus dieser Darstellung ergiebt sich, daß wenn auch einige Figuren des "Schachspiels Carls des Großen" und des berliner Museums einen höhern Werth haben und vielleicht schöner sein mögen, als unsere Figur, es doch vielleicht außer Zweifel ist, daß unsere Figur schöner ist, als die meisten übrigen bekannten Figuren, und, im ausgebildeten deutschen Style des Mittelalters gehalten, sicher eine deutsche Figur ist, welche durchweg die größte Feinheit zeigt und allen alten deutschen Elfenbeinschnitzereien an die Seite gestellt werden kann.

G. C. F. Lisch.