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Dmitrij Nik. Jegorov, Die Kolonisation Mecklenburgs im 13. Jahrhundert. Bd. I: Material und Methode. Übers. von Harald Cosack. XV u. 438 S. Mit einer Beilage (Ratzeburger Zehntenregister). Bd. II: Der Prozeß der Kolonisation. Übers. von Georg Ostrogorsky. XXI u. 485 S. Mit 2 Karten. Herausg. v. Osteuropa-Institut: Bibliothek geschichtl. Werke aus den Literaturen Osteuropas, Nr. 1, Breslau, Priebatschs Buchhandlung, 1930.

Dieses umfangreiche Werk ist 1915 in russischer Sprache erschienen. Der deutschen Forschung blieb es unbekannt, bis in der Zeitschrift für slavische Philologie II, 1925 eine Besprechung von dem Grazer Gelehrten H. F. Schmid herauskam. Weil es sich allem Anschein nach um ein für die Geschichte der deutschen Kolonisation wichtiges Werk handelte, hat das Breslauer Osteuropa-Institut die vorliegende Übersetzung veranstaltet. die als sehr lesbar zu begrüßen ist.

Der Verfasser hat sich mit den einschlägigen Quellen genau bekannt gemacht und mit Bienenfleiß versucht, sie, besonders durch Untersuchungen über Genealogie und Wappen der auftauchenden Rittergeschlecher und über die Wirkung der Kolonisation auf die Ortsnamen, zu ergänzen. Auch hat er die Literatur in einem Maße herangezogen, wie es weniger sprachkundigen Forschern nicht möglich ist. Es ist ihm auch zuzugestehen, daß eine staunenswerte allgemeine Belesenheit ihn befähigt hat, vergleichende Ausblicke über die Grenzen eines Themas hinaus zu gewinnen. Trotzdem ist das Buch ein Mißerfolg geworden, weil die Quellenforschung ungeachtet aller Mühseligkeit in die Irre geführt hat.

Das Ergebnis des Werkes nämlich geht dahin. daß keine der bisher über die Kolonisation und Germanisierung Mecklenburgs vertretenen Anschauungen recht habe, sondern daß die Wenden selbst seit dem 12. Jahrhundert dazu übergegangen seien. ihren - von Jegorov wider alle Wahrscheinlichkeit angenommenen - Bevölkerungsüberschuß auf dem gerodeten Waldboden, d. h. an den Grenzen ihrer von Wald umgebenen terrae anzusiedeln. Nicht Menschenarmut also habe die Kolonisation im Slavenlande hervorgerufen, sondern eigener Überfluß an Bewohnern. Zwar gesteht Jegorov zu, daß eine deutsche Einwanderung. die sich nun einmal unwiderleglich aus den Quellen ergibt, "in zweifellos bedeutendem Ausmaß" stattgefunden habe (I, S. 404; vgl. II, S. XII), bezeichnet sie aber als "nicht maßgebend"; denn er schiebt alle Initiative bei

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dem Siedlungswerk dem slavischen Adel zu und betrachtet die Deutschen mehr als geduldete Kömmlinge. In der Ritterschaft seien sie in der Minderheit gewesen, stärker vertreten unter Bürgern ,und Geistlichen, am stärkten unter den Bauern, als welche sie sich unter denselben Bedingungen angesiedelt hätten wie ihre slavischen Nachbarn. Jegorov kehrt also die bisherige Lehre um; nicht die Deutschen hätten kolonisiert, sondern es handele sich um einen innerslavischen Vorgang, eine große Binnensiedlung der Wenden, an der Deutsche eben nur teilgenommen hätten. Es stelle sich heraus, daß die -von Jegorov apostrophierte - "Großtat der Deutschen" im Kolonisationsgebiete "weder eine große noch eine deutsche Tat gewesen" sei (II, S. 438). Und auf die dem gegenüber berechtigte Frage, wie denn Mecklenburg ein deutsches Land geworden sei, antwortet Jegorov (II, S. 474), daß die Germanisierung sich ,,im Laufe einer sehr langen Zeit" vollzogen und "sehr komplizierte Gründe" gehabt habe. "Sie erfolgte," so fährt er fort, "nicht nur infolge des Vorhandenseins oder des ,Übergewichtes' der Deutschen im Lande, sondern auch infolge des Eintritts Mecklenburgs in engeren Verkehr mit dem Westen, entsprechend der Erstarkung des Handels wie auch anderer wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen. Durch Vermittlung deutschen Milieus drang der westliche Lebenswandel unaufhaltsam in alle Adern des Volkskörpers ein, während die Abgeschiedenheit von der östlichen slavischen Masse ein nationales Gegengewicht nicht aufkommen ließ." "Den endgültigen Schlag" habe aber erst die ungeheure Verringerung der Bevölkerung durch den Dreißigjährigen Krieg versetzt; sie habe eine "neue Kolonisation" erfordert, die "nun allerdings mit einer Germanisierung gleichbedeutend wurde."

So nimmt Jegorov für die eigentliche Germanisierung eine Zeit an, die 400-500 Jahre später liegt als die Periode, in die man bisher mit gutem Recht die Durchführung der Germanisation verlegte. Wenn früher Ohnesorge 1 ) die nicht weiter von ihm begründete Vermutung ausgesprochen hat, daß "die allerletzten Spuren" des Wendentums in Ostholstein und Mecklenburg durch den Dreißigjährigen Krieg beseitigt seien, so bedient sich jetzt Jegorov dieses Krieges, um einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, in das ihn seine eigene Forschung gebracht hat. Wer einigermaßen die Quellen übersieht, der weiß, daß Mecklenburg schon in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters ein deutsches Land war, in dem man die deutsche Sprache redete. Daran ändern auch die Reste der slavischen Bevölkerung nichts, die allmählich aufgesogen wurden. Und wenn nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges Bauern aus benachbarten Ländern sich in Mecklenburg seßhaft gemacht haben, so erinnert doch dieser Zuzug nicht von ferne an eine "neue Kolonisation" nebst Germanisierung, wie Jegorov sie für das 17. Jahrhundert aus der Luft zaubern möchte.

168 Seiten des 1. Bandes sind einem Generalangriff auf Helmolds Slavenchronik gewidmet, aus der man früher auf eine besonders schnelle Durchführung der Germanisation schon im 12. Jahrhundert hatte schließen wollen. Daß die vielumstrittene Chronik, so prächtig sie erscheint, ihre Mängel hat und nicht überall als zuverlässig gelten kann, läßt sich kaum verkennen. Jegorov hat


1) Zeitschr. f. lübeckische Gesch.., XII, S. 220.
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sie aufs neue einer sehr eindringenden Kritik unterzogen und hat die Quellen Helmolds, seine Arbeitsweise, seine historische und kirchenpolitische Auffassung mit viel Geist und Geduld untersucht. Das Urteil aber, das er über ihn fällt, ist viel zu hart; es kommt völliger Verwerfung gleich, obwohl er den Chronisten keiner bewußten Tendenz beschuldigt. Er stellt Anforderungen an ihn, die auch andere mittelalterliche Geschichtsschreiber nicht erfüllen, ohne doch deswegen zum alten Eisen geworfen zu werden. Ja, mitunter läuft Jegorovs Kritik fast auf den Tadel hinaus, daß Helmold nicht die Methode moderner Historiker befolgt habe. An der mangelnden oder mangelhaften urkundlichen Forschung, die er ihm vorwirft, leiden manche erzählende Quellen, und wenn es bei Jegorov I, S, 11, Anm. 45 heißt: "Anstelle der Urkunde setzt Helmold den Hergang selbst" so ist an dieser Arbeitsweise des Chronisten jedenfalls nichts auszusetzen.

Der schon bekannten und ohne weiteres einleuchtenden Abhängigkeit der Sprache Helmolds von der Bibel hat Jegorov bis ins einzelne, aber mit überspitzter Kritik nachgespürt. Die Abhängigkeit entspreche der literarischen Zeitrichtung, doch soll das biblische Vorbild Helmold so unwiderstehlich bei seiner Erzählung beeinflußt haben, daß die historische Wahrheit unter dem Schleier der Biblifizierung nicht mehr herauszufinden sei. Auch dies ist eine Übertreibung. Die Vergleiche, die Jegorov zwischen Stellen in der Bibel und bei Helmold zieht, überzeugen nicht immer, und es ist auch nicht einzusehen, warum die Anlehnung an die biblische Sprache zur Verfälschung der auf diese Weise geschilderten Vorgänge geführt haben muß.

Nach Jegorov (I, S. 70 f.) hätte Helmold ,,die Legende der Christianisierung der Slavenlande", "eine kollektive Vita" geschrieben. Aber so wenig der kirchliche Standpunkt des Chronisten zu bezweifeln ist, so sicher schießt dieses Urteil über das Ziel hinaus.

Im Folgenden (I, S. 169-225) gibt der Verfasser eine sehr brauchbare Übersicht über die bisherige einschlägige Geschichtsschreibung. Er wendet sich dann den Quellen zu, auf die er sich nach seiner Ablehnung Helmolds stützen will. Hier steht an erster Stelle das Ratzeburger Zehntenregister von 1229/30, das in einem auf einer Nachzeichnung beruhenden und deshalb mißlungenen Faksimile beigegeben ist. Die Ausführungen, die Jegorov über das Register macht, stehen in starkem Gegensatze zu denen Hellwigs 2 ), sind aber geeignet, uns Zweck und Anlage der wertvollen Geschichtsquelle besser verstehen zu lehren. Ferner wird das von Jegorov so bezeichnete "zusätzliche", den Hilfswissenschaften abzuringende Material behandelt, das er aus den Urkunden, der Genealogie, der Heraldik und der Ortsnamenkunde gewinnt und dem sich dann noch ,,Materialien zweiten Ranges" (Siedlungsformen, Haustypen, Stadtpläne) anreihen, mit denen der Verfasser wenig anzufangen gewußt hat.

Näher auf derartige Untersuchungen einzugehen, die erst die Grundlage für die eigentliche Erforschung der Kolonisation in Mecklenburg abgeben sollen, würde hier viel zu weit führen. Es sei nur darauf hingewiesen, daß die genealogischen Ermittelungen, die für die Familienzusammenhänge der auftauchenden Rittergeschlechter


2) Bd. 69 dieser Jahrbücher
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wichtig sind, auf um so größere Schwierigkeiten stoßen, als wir oft nur die Vornamen aus den Urkunden erfahren. Die Heraldik, der ein starkes Kapitel gewidmet ist, sucht Jegorov zum ersten Male der Geschichtserkenntnis dienstbar zu machen. Es kommt ihm dabei hauptsächlich auf die Frage an, ob sich die örtliche Herkunft der Wappenenembleme bestimmen läßt, um so einen Schluß auf die Nationalität der Adelsfamilien ziehen zu können. Höchst zweifelhaft bleibt aber, ob die Embleme, die Jegorov für slavisch glaubt ansehen zu dürfen, durchaus nur slavisch sein müssen. Mit Recht hat H. Witte in einer eingehenden Besprechung des Jegorovschen Werkes 3 ) darauf hingewiesen, daß die Frage, ob sich die Wappen überhaupt nach Ursprungsgebieten unterscheiden lassen, noch keineswegs gelöst ist. Wahrscheinlich ist sie überhaupt nicht zu lösen.

Bei seinen Betrachtungen über die Ortsnamen oder das "toponomastische Material" betont Jegorov, daß es weniger auf die rein sprachliche Deutung der Namen ankomme, als darauf, festzustellen, wie die Kolonisation auf die Namengebung eingewirkt habe. Äußerst verblüffend und unzutreffend ist es aber, daß er die Zahl der "neuen Namen" für "sehr gering" erklärt (I, S. 360). Damit läßt sich die große Menge der deutschen Ortsnamen nicht beiseite schieben. Allerdings meint Jegorov, daß viele, die deutsch klängen, in Wirklichkeit krypto-slavisch seien; doch sind solche sprachlichen Umwandlungen der Namen gerade der beste Beweis für eindringendes Deutschtum 4 ).

Wenn der Inhalt des 1. Bandes als "Material und Methode" bezeichnet wird, so sind doch in ihm schon manche der Thesen Jegorovs angedeutet und ausgesprochen, die wir im 2. Bande wiederfinden, der sich mit dem "Prozeß der Kolonisation" beschäftigt. Dieser zweite Band wird in der Hauptsache (S. 1-418) durch äußerst diffizile und dadurch fast unlesbar gewordene Untersuchungen über die Ortschaften und Personen ausgefüllt, die im Ratzeburger Zehntenregister vorkommen. Und in diesem wesentlichen Teile des Werkes, der sich dem eigentlichen Thema zuwendet, hat der beste Kenner der mecklenburgischen Kolonisationsgeschichte, H. Witte, ein mehr als bedenkliches Maß von Irrtum und Willkür festgestellt 5 ). Das gilt für Einzelheiten dieser Sonderuntersuchungen, die Witte nachgeprüft hat. Es gilt aber auch für das Schlußkapitel des Werkes (S. 419-475), in dem Jegorov die Summe seiner "Ergebnisse" mitteilt. Mit Recht hat Witte getadelt, daß der Verfasser aus der Fülle der deutschen Personennamen nicht den einzig richtigen Schluß zieht, daß er deutsche Namen "gewaltsam" zu slavischen stempelt, daß er von den Zunamen fast nur die von Ortschaften abgeleiteten berücksichtigt. Und so deutsch viele Namen dieser Art auch erscheinen mögen, so nimmt doch Jegorov ihre Träger für das Slaventum in Anspruch, mögen sie nun aus Holstein stammen oder aus westlich von der Elbe liegenden Gegenden, die noch eine slavische Bevölkerungs-Unterschicht hatten oder die


3) Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung, Jg. 1 1930, H.2, S. 105 f.
4) So auch Witte a. a. O. S. 110.
5) A. a. O. Heft 4, S. 243 ff.
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Jegorov ohne viel Umstände slavisiert. So läßt er das Harzgebiet slavisch werden und verwendet zu diesem Zwecke komischer Weise eine genealogische Studie v. Mülverstedts, aus der nichts dergleichen herauszulesen ist 6 ). Im ganzen ist er jedoch der Meinung, daß die Einwanderer selten aus westelbischen Gebieten gekommen seien, sondern ihrer Mehrzahl nach aus dem "rechten Hinterelbien", aus slavischen Landen (II, S. 420 ff.). Dabei bleibt es natürlich ein Rätsel, woher nun eigentlich die vom Verfasser selbst nicht geleugnete deutsche Einwanderung herrühren soll.

Unbeachtet gelassen ist übrigens auch die lehrreiche Tatsache. daß so viele der im 13. Jahrhundert noch slavischen Ortschaften zu Wüstungen geworden und verschwunden sind 7 ).

Ein großer Widerspruch zieht sich durch das ganze Werk, der darin liegt, daß die starke deutsche Einwanderung zwar nicht bestritten, ihr aber keine für die Germanisierung durchschlagende Bedeutung beigemessen wird. Die Wirkung der Kirche für das Deutschtum wird als "kaum wahrnehmbar" bezeichnet (II, S. 459). Den Lokator hat es "gar nicht oder so gut wie gar nicht gegeben" (II, S. 470, vgl. 445 f.), Und indem Jegorov die Anzeichen übersieht oder verkennt, die für die deutsche Abstammung der eindringenden Ritter sprechen, läßt er die Kolonisation so gut wie ganz ein Werk slavischen Adels sein. Der deutsche Bauer durfte zwar ins Land einziehen, mußte sich aber "den Forderungen und Interessen anderer" anpassen (II, S. 470). Man wundert sich nur, daß der deutsche Bauer nicht slavisiert wurde.

Die vaterländische Forschung wird sich gewiß noch des weiteren mit dem Werke beschäftigen, und dabei dürfte am Ende offenbar werden, daß die Geschichtserzählung des vielgescholtenen Helmold der Wahrheit näher kommt als die Thesen Jegorovs.

Wenn ein russischer Historiker wie der Verfasser sich mit der Kolonisationsgeschichte eines vormals slavischen Landes befaßt, so ließe sich das an sich verstehen. Er vermöchte unser Wissen auf diesem Gebiete um so eher zu bereichern, als Beherrschung slavischer Sprachen ihm bei der Arbeit nur förderlich sein kann. Aber es darf kein politischer Eifer ihn irreleiten und nicht Liebe zum Slaventum ihm den Blick trüben, so daß er zwischen Wissenschaft und Tendenz nicht mehr unterscheidet. Daß Jegorov wenigstens der letzten Gefahr nicht entgangen ist, muß leider angenommen werden. Das Breslauer Osteuropa-Institut hat wohl daran getan, dem zweiten Bande einen Zettel vorzukleben, wonach es das Werk nur der deutschen Wissenschaft zugänglich machen und eine Kritik ermöglichen wolle, sich aber "in keiner Weise mit dem Inhalt und der Tendenz der Arbeit" identifiziere.

W. Strecker


6) II, S. 132, vgl. S.421. S. 269 ist die Studie richtiger verwertet, doch ist immer noch am wahrscheinlichsten, daß die Frau des Detlev von Gadebusch aus dem Geschlecht von Schwanebeck stammt. Ganz abwegig ist Jegorovs Deutung des Schwanebeckschen Wappens, S. 270, Anm. 229. Hier ist die Tendenz wieder mit Händen zu greifen.
7) Mit Recht hat dies Wentz in seiner Besprechung des Buches im Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, 79. Jg., 1931, Nr. 1, Sp. 70, getadelt.