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VIII.

Fanny Tarnow.

Eine Skizze ihres Lebens
nach neu erschlossenen Quellen

von

Adolf Thimme.

 

Vignette
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D ie interessante Frau, als Künstlerin, Dichterin, Kameradin der Männer, Freundin der Frauen, stets liebend und geliebt, anregend und angeregt, Meisterin des Gesprächs, des Briefschreibens, des vielsagenden Lächelns, der gefühlvollen Träne, als Mittelpunkt eines geselligen Kreises von Dichtern und Künstlern: das ist für Deutschland ein Produkt, eine Entdeckung der Romantik. - Wenn es recht ist, einer Henriette Herz, Rahel Levin, Caroline Schlegel, Therese Heyne zu gedenken und des Ruhmes ihrer Liebenswürdigkeit, ihres Geistes, der Liebe, die sie aus- und einatmen, des Glanzes ihrer Persönlichkeit, so ist es unrecht, eine Frau der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, die ihres Gleichen war: Fanny Tarnow.

Sie ist 1779 in Güstrow in Mecklenburg geboren als Tochter eines Advokaten, der im Verlauf seiner Grundstücksgeschäfte auch Landwirt wurde, als solcher Bankerott machte und dabei auch das Vermögen seiner Frau, einer geborenen v. Holstein, zusetzte. Tarnow bekam zwar eine Anstellung bei der mecklenburgischen Ritterschaft, zog sich aber verbittert von seiner Familie zurück, die infolgedessen in Not geriet. Er ist offenbar ein übler Gatte und Vater gewesen, denn seine Tochter Fanny sagt einmal von einem tyrannischen Hausherrn: Ich habe hier all den rohen Mißbrauch der männlichen Härte als Hausherr wieder vor mir, der mir meine Jugend verdüstert und mich mein ganzes Leben lang gequält hat. Um so liebevoller schlossen sich die vier Kinder an die Mutter an, die als die schöne Tochter eines angesehenen, reichen Grundherrn wohl ein besseres Leben hätte erwarten dürfen, als ihr an der Seite Tornows zuteil ward.

Von den Kindern wurde der Sohn Offizier, die älteste Tochter verheiratete sich mit einem Bürgermeister, ihre Tochter wurde die Schriftstellerin Amely Bölte, die später die Biographin ihrer Tante Fanny wurde.

Die übrigen zwei Töchter mußten Erzieherinnen werden, Betty später in Weißenfels, Fanny zuerst auf Rügen, bei einem Herrn v. Schmiterlow, dessen Gut bei Schoritz lag, dem Geburtsort von Ernst Moritz Arndt. Da Arndt mit Schmiterlow befreundet war, so machte Fanny hier leicht seine Bekanntschaft. Er war nicht nur der erste bedeutende Mann, der ihr entgegentrat, er war auch der erste leidenschaftlich erregte Patriot, und Fannys Herz hat stets bei dem Gedanken an das Vaterland höher geschlagen. Es ist nur natürlich, daß auch Arndt, der seit 1801 Witwer war, das außerordentlich lebhafte, geist- und gemütvolle Mädchen an-

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ziehend fand, er wurde jedenfalls Fannys große, leidenschaftliche Lebensliebe. Noch 1836 Schreibt sie: 10 Jahre lang war mein Leben ein Gottesdienst dieser Liebe. Arndt bezeichnet Fanny in einem Briefe aus dem Jahre 1803 als eine seiner Freundinnen, ein sehr liebenswürdiges, unterrichtetes und gesittetes Frauenzimmer, wohl gebildet, die immer in der feinen Welt gelebt habe, und deren Geist und Güte durch zwei Unglücksjahre geläutert sei. Wie es kam, daß das Verhältnis Arndts zu Fanny Tarnow abgebrochen wurde, ist mit Sicherheit nicht zu ermitteln. Die Biographen Arndts vermuten, daß er sich zurückgezogen habe, weil Fanny ihre Neigung zu früh oder zu lebhaft kundgegeben habe. Diese Vermutung gründet sich aber nur auf die gehässige Notiz der Amely Bölte in der Biographie ihrer Tante, daß der zu schnelle Gang ihrer Liebesintriguen alle Bewerber abgeschreckt habe. Diese Biographie 1 ) ist überhaupt dem Andenken der Fanny Tarnow verhängnisvoll geworden, ihre Mitteilungen und Urteile sind maßgebend gewesen für alle, die über die Tarnow sich bisher geäußert haben 2 ). Man hat die dort vorgebrachten Behauptungen einfach angenommen, weil hier auch die einzigen Mitteilungen vorlagen, die man über Fanny hatte, noch dazu aus der Feder einer Verwandten. Erst die von mir im Nachlaß der Luise v. François gefundenen Tagebücher und Briefe vermochten weiteren Aufschluß zu bringen. Für mich war das Ergebnis, daß ich die Charakteristik der Fanny Tarnow durch ihre Nichte Amely Bölte als ein unglaubwürdiges, boshaftes Zerrbild bezeichnen muß, hervorgegangen aus verwandtschaftlicher Mißgunst und Neid und auch wohl aus dem Gegensatz zwischen der Weltanschauung der romantischen Tante und der nüchtern-rationalistischen Nichte.

Was Arndt anlangt, so behauptet die Bölte, ihre Tante hätte ihn fast gar nicht gekannt, und ihre Liebe sei nur ein Trugbild ihrer Phantasie gewesen. Man vergleiche damit obigen Brief Arndts, ferner einen Brief Fannys an Arndt aus dem Jahre 1811, in dem sie sagt: "Sie waren, als wir uns kennen lernten, schon ein Mann, der das Leben und die Welt klar auffaßte und sich selbst im Wechsel tiefen Leids und schönen Glücks erprobt hatte. . . .Dieser ungebrochene Mut, dies feste Hinblicken auf das Ziel, dies unerschütterliche Wollen und, in so finsterer Zeit, dies Vertrauen, diese Hoffnung - oh, mein Freund, möge das Schicksal Ihren prophetischen Traum wahr machen und Sie noch einst ein freies Vaterland erblicken! Arndt, ich möchte es Ihnen recht ernst und warm aussprechen, wie ich Sie erkenne und ehre. Mancher früher


1) Fanny Tarnow, ein Lebensbild. Berlin 1865.
2) Vgl. auch K. Schroeder im Jahrbuch 68 (1903).
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von uns Deutschen hochgefeierte Mann weiß ja jetzt den Jünglingen seiner Nation nichts gescheuteres zu raten, als die Fesseln, in die uns fremder Übermut und eigne Schwäche geschlagen hat, mit Anstand tragen zu lernen. Wie not sind uns Männer, die noch den Mut haben, wahr und frei zu sein! Was Sie sind, Arndt, und was Sie wirken, gehört einer freudigeren und stolzeren Nachwelt an. Der Samen, den Sie ausstreuen, kann nicht verloren gehen. Wenn Sie nicht mehr sind, Arndt, so werden einst noch Deutschlands Jünglinge dem Manne danken, der in ihre Seelen den ersten Funken der heiligen Rache für die gegenwärtige Schmach warf!" Als sie 1817 in Berlin war, überwältigt sie das Gefühl der Möglichkeit, Arndt wiederzusehn, und sie schreibt in ihr Tagebuch: Ich fuhr gestern in die Kirche, um Schleiermacher predigen zu hören - ich ahnte nicht, daß die Erinnerungen, die sein Anblick in mir weckte, noch solche Macht über mich haben könnten. Ich glaubte seine Frau, seine Schwester, Arndts Braut, zu erkennen. Die Möglichkeit, diesen auch zu erblicken, preßte mir das Herz bis zum Zerspringen zusammen. Ich betete für Ihn und für sie zu Gott - aber wie ich ihn geliebt habe, liebt ihn keine andre, und keine wird: so glücklich durch ihn werden, als ich es geworden wäre. Und bin ich denn nun nach 10jähriger Trennung mit ihm an Einem Ort! Ich kann ihn bei jedem Gang erblicken, kann im Gewühl bei ihm vorüberstreifen. Mein Gott, es ist doch ein herbes Gefühl, Herz und Leben an eine solche kalte Gleichgültigkeit verloren zu haben! Mein ist er, Gott hat uns für einander geschaffen - sonst hätte ich ihn nicht so unaussprechlich und so treu lieben können. Er hat sonst Hitzig stets besucht, wenn er hier war - nun kommt er nicht. Warum meidet er mich zu sehn? ist das Schonung, oder gar Nichtachtung? O wie würde ihn die schmerzen, wenn er einst jenseits erfährt, wie ich ihn geliebt und was ich um ihn gelitten habe. Laß ihn nur recht, recht glücklich werden, lieber Vater im Himmel!

Ferner hat die Tarnow ihren ersten größeren Roman, die Natalie, nach ihrem eignen Geständnis eigentlich nur für Arndt geschrieben, von dem Wunsche beseelt, daß er ihn lesen möge. Dieses merkwürdige, unter strömenden Tränen und in höchster Leidenschaftlichkeit geschriebene Buch ist eine Art Selbstbiographie und behandelt in seinem ersten Teil Fannys Kindheit und ihren Aufenthalt in Rügen. Im Mittelpunkte der Erzählung steht das Verhältnis der Natalie zu Moritz Valuda, d. h. der Fanny Tarnow zu Ernst Moritz Arndt. Da hier das Ende des Verhältnisses so dargestellt wird, daß Valuda durch eine schnelle Abreise sich der Natalie entzieht, weil er das Freundschaftsverhältnis zwischen Natalie und

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einem andern Verehrer mißdeutet, so ist es wahrscheinlich, daß diese Entwicklung der Wahrheit am nächsten kommt, zumal wir von einer schnellen Abreise Arndts nach Schweden wissen. Ein eigentlicher Bruch hat zwischen beiden nicht stattgefunden: wie Arndt ihr 1811 einen Dankesbrief schreibt, weil sie ihm bei der Herausgabe seiner Gedichte behilflich gewesen war, so finden wir seinen Namen auch noch 1830 unter den Subskribenten auf die Auswahl ihrer Schriften.

Die Zeit ihrer Erziehertätigkeit in verschiedenen adligen Häusern dauerte etwa 12 Jahre, dann kehrte sie, damals schon eine bekannte Schriftstellerin, zu ihrer erkrankten Mutter zurück, deren Unterhalt sie bis zu ihrem im Jahre 1815 erfolgten Tode mit ihrer Feder und ihrer Nadel bestritt, denn sie war zeitlebens auch eine Meisterin feiner Handarbeiten. Nach dem Tode der Mutter schloß Fanny Tarnow mit dem Verleger ihrer Natalie, Eduard Hitzig aus Berlin, innige, für das Leben vorhaltende Freundschaft, ließ ihre Thorilde von Adlerstein erscheinen, fuhr dann auf die Einladung ihrer Freundin Elise Schleiden nach Ascheberg am Plöner See und von da nach Petersburg, um sich dort eine Existenz zu gründen. Hier schrieb sie für das Cottasche Morgenblatt Berichte über Rußland und fand nicht nur in den besten bürgerlichen, sondern auch in der Hofgesellschaft begeisterte Aufnahme. Der Kaiser Alexander selbst gewährte ihr Zutritt zu den Kunstschätzen der Eremitage, außer mehreren Frauen wurden bekannte Männer wie der Maler Karl v. Kügelgen und der General Maximilian Klinger, der ehemalige Sturm- und Drangdichter, ihre Freunde, und der General Graf Georg Sivers trat in gegenseitiger Liebe ihrem Herzen besonders nahe. Aber obwohl auch die Kaiserinwitwe versuchte, sie in Petersburg zu halten, indem sie ihr die Direktion des Katharinenstifts anbot, "um dem Stift durch den Namen einer so berühmten, allgemein verehrten Schriftstellerin Glanz zu geben", so ging sie doch, teils aus Heimweh nach dem Vaterlande, teils weil sie das nordische Klima nicht vertrug, schon nach Jahresfrist nach Deutschland zurück. Über diesen Petersburger Aufenthalt berichtet das von mir in der Deutschen Rundschau 1921 veröffentlichte Tagebuch.

Nach einigen Verwandtenbesuchen ging sie nun auf einige Zeit zu Hitzig nach Berlin, verkehrte mit dem dortigen romantischen Kreise, besonders mit Amadeus Hofmann, Chamisso, Fouqué und seiner Frau, schloß auch mit Helmina v. Chézy Freundschaft. Ein Aufenthalt in Hamburg, der ihr eine vorübergehende Freundschaft mit der Schriftstellerin Amalie Schoppe brachte, ging sie wieder nach Berlin zurück, und von da 1820 auf Veranlassung der

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Helmina v. Chézy nach Dresden, um mit dieser Freundin zusammen die "Iduna, Schriften deutscher Frauen" herauszugeben. Beide wohnten zusammen und nahmen auch einen gemeinsamen Sommeraufenthalt in Schandau. Hier aber kam es zwischen beiden zu heftigen Szenen und zum Bruch, worauf Fanny sich in einem anderen Hause einmietete. Hier vermißte sie bald ihr rot eingebundenes Tagebuch und erfuhr, daß Helmina es ihr entwendet und, um sie zu blamieren, ihren Freunden daraus vorgelesen habe. Nur mit Mühe gelang es ihr, durch einen befreundeten Pfarrer das Tagebuch zurückzuerhalten, aber natürlich war der Bruch zwischen beiden Frauen nach dieser häßlichen Geschichte, bei der alle rechtlich denkenden Menschen auf Seite Fanny Tarnows getreten waren, dauernd unheilbar. Fanny brauchte nun die Ausrede, daß das Tagebuch eigentlich nur ein Romanentwurf sei, und sie habe nur "ich" geschrieben, um dem Entwurf Lebendigkeit zu verleihen, worauf Helmina erwiderte, sie löge, daß ihr der Dampf zum Halse hinausschlüge. In der Tat enthielt das Tagebuch ohne Zweifel intime Aufzeichnungen über die Neigung Fannys zu einem gewissen Karlos 3 ) in Schandau und zu einem Dr. Waldemar Seifart aus Lauenstein bei Dresden, zwei junge Leute, die die nun schon alternde Schriftstellerin glühend umwarben. Daß Fanny in diesen Blättern ihr jung gebliebenes Herz offenbarte, gab der boshaften Chézy eben den Anlaß zur Prosanierung dieses Heiligtums. Ich habe mich deshalb so ausführlich über diese Geschichte verbreitet, weil jenes rot eingebundene Tagebuch, wenn ich nicht irre, in meinem Besitz ist. Ich habe es ebenfalls wie das Petersburger im Nachlaß der Luise v. François gefunden, und zwar sind diese Tagebücher, wie eine Stelle eines Briefes der Tarnow an die François ausdrücklich angibt, der letzteren zu ihrer freien Verfügung vermacht worden. Indessen enthält das Buch ein: mir noch nicht lösliches Rätsel: Die von Helmina entweihte Partie, wohl den Sommer 1820 umfassend, ist herausgerissen, darauf folgen eine größere Anzahl leerer Blätter und sodann vom 7. August 1822 umfangreiche Aufzeichnungen, die bis zum Jahre 1829, bis zu Fannys Übersiedlung nach Weißenfels, reichen. Die herausgerissene Partie ist der Biographin Amely Bölte wohl nicht bekannt gewesen, aber sie hat allerdings Aufzeichnungen ihrer Tante aus den Jahren 1820 und 1821 benutzt; der vorhandene Teil des Dresdener Tagebuches ist ihr unbekannt geblieben, ebenso das Petersburger Tagebuch. Ich denke mir nun, daß Fanny die Blätter leer gelassen hat, um nachträglich die Aufzeichnungen noch einzutragen, die vom Herbst 1820 bis August


3) Vermutlich dem Engländer Charles Wigram.
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1822 reichten und von der Biographin benutzt sind. Diese Eintragung hat sie aber doch unterlassen und dann später die Anfangspartie und noch einige Blätter, die Verfängliches enthielten, herausgerissen, als sie beschlossen hatte, das Buch in die Hände der François zu geben.

Die zwischen 1820 und 1829 liegende Dresdener Zeit gestaltete sich nun für Fanny zunächst recht erfreulich. Sie wurde mit Tieck, Tiedge und Elisa von der Recke befreundet und wurde Mitglied des romantischen Liederkreises, der sich um Friedrich Kind, den Dichter des Freischütz, Theodor Hell, den Herausgeber des Taschenbuchs Penelope, und Artur v. Nordstern, d. h. den Minister von Nostiz, bildete. Außerdem hatte sie innerhalb und außerhalb dieses literarischen Kreises, der auch die Musik pflegte, einen starken Familien- und speziell Damenverkehr. Am 26. August 1822 notiert sie z. B., daß sie seit dem 15. noch keinen Mittag zu Hause gegessen habe. Besonders nahm sich eine ältere Dame, Frau v. Fink, ihrer mütterlich an, richtete ihr in ihrem Hause gratis eine Wohnung ein, so daß sie hier auch ein häusliches Zusammenleben, eine Art Familienglück, fand. Sie kauft sich ein Bett, einen Sekretär, Porzellan, silberne Löffel, Gläser, gibt Teegesellschaften und findet, daß es bei ihr immer am allergemütlichsten sei. Von Cotta bekommt sie jährlich 40 Louisdor, von andern Verlegern 50-60, und damit hat sie ihr gutes Auskommen. Sie wird auch als Sehenswürdigkeit und Berühmtheit viel eingeladen. Sie schreibt daher in ihr Tagebuch: "So leicht wüßte ich mir kein angenehmeres Leben zu denken, wie mein jetziges, - umgeben von gebildeten Menschen, von ihnen wert gehalten, durch meine Verhältnisse gezwungen, meine Lieblingsbeschäftigung, Lesen und Schreiben, zu meinem Berufe zu machen, für den Augenblick ohne Nahrungssorgen - aber," fügt sie seufzend hinzu - "doch, ach! nicht glücklich! Denn die besten Anlagen meiner Natur bleiben ungeübt, unentwickelt, kommen niemand zu gut. Ich bin allein!" Oder sie schreibt: "Besuche, interessante Lektüre, Arbeit; alles gut und angenehm, aber welche Rechenschaft soll man einst Gott von solchem Leben ablegen? Welche Pflicht habe ich zu üben? Was hat mein Herz zu leisten?" Ein andermal klagt sie: "Gestern ermüdete mich die Vorlesung bei Tieck. Die vielen Zerstreuungen reiben mich auf. Für den Umgang mit 2 bis 3 mir wahrhaft lieben Menschen gäbe ich all diese Geselligkeit freudig hin. So viel Menschen um mich, so viele Freundlichkeit, und doch in der Tiefe meiner Seele das Gefühl einer grenzenlosen Einsamkeit!" Es sind das Stoßseufzer einer normalen alten Jungfer.

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Ein anderes Mal täuscht die angeborene Liebe zu Glanz und allem vornehmen Wesen und das Bewußtsein von ihrer außerordentlichen Beliebtheit, ihrer zentralen Stellung in der Gesellschaft, sie über die innere Einsamkeit und Leere hinweg: "Was bin ich denn?" fragt sie sich, heimgekehrt von einer Gesellschaft bei der Gräfin Dohna oder der Fürstin Jarazewska, "ein blutarmes, verblühtes, bürgerliches Mädchen, ohne alle Familienkonnexionen, bin ich nichts als Fanny Tarnow. Mein bißchen Talent ist es nicht, die Brachmann, Chézy, Ahlefeld, sie alle sind mir gleich. Was unterscheidet mich denn? Was gibt mir diesen ausgezeichneten Standpunkt in der Gesellschaft und der öffentlichen Meinung?" Und sie beantwortet sich diese Frage damit, daß sie meint, es sei ihre besondere Eigentümlichkeit und Gabe, sich die Liebe und das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Im Zweifel an der Zuneigung eines geliebten Mannes erhofft sie auch von dieser Gabe die Möglichkeit, sich Männerliebe zu gewinnen: "Warum willst du, die allgemein Gefeierte, die durch Geist und Herz vor Tausenden ausgezeichnete Frau, deren Macht über so viele doch einzig ihrem Gemüt entspringt, nicht an die Möglichkeit glauben, ihm teuer zu sein?"

Denn das war doch eigentlich der Grund, warum sie immer wieder das Gefühl der Einsamkeit, der Leere, der Sinnlosigkeit ihres Lebens überkam, daß ihr Ideal von Liebe sich ihr nicht verwirklichen wollte. Der Schmerz wie das Glück des Lebens von Fanny Tarnow beruhte auf der Zärtlichkeit ihres Herzens. "Unruhiges Streben, schmerzliche Sehnsucht zehrten stets an mir," sagt sie, "das Glück kann uns meiner Ansicht nur durch die Liebe kommen." In ihrem 41. Lebensjahre (1820) schreibt sie in ihr Tagebuch: "Ich gelte für eins der geistreichsten Weiber unseres Zeitalters, ich besitze Kenntnisse, Seele, Begeisterung, ich kann alles Große und Schöne empfinden, kann glücklich sein im Anschauen der Natur, im Genusse der Kunst, ich bin großsinnig von Gemüt und Charakter, alle kleinlichen Regungen des Neides, des Hasses sind mir fremd - und alles verschwindet vor dem Eindruck, welchen der Kuß eines geliebten Mannes auf mich macht." "Und fehlt mir, die ich mich nie einem ,Manne hingegeben habe, nicht die Krone der Weiblichkeit? Bleibt nicht vielleicht die liebenswürdigste Seite meines Charakters nun ewig unentwickelt? Und bin ich denn nicht auch ein Weib? Ein Weib mit Glut der Phantasie und warmem Blut? Muß ich es nicht als Entbehrung fühlen, diese Fähigkeit, beglücken zu können, nicht entwickeln zu dürfen, wenn ich den Mann entzückt, flehend, berauscht zu meinen Füßen sehe? Es liegt für mich in solcher Leidenschaftlichkeit des

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Mannes ein eigner Zauber. Es ist ein ganz anderes, ein schönes, ein erhebendes Gefühl, sich geachtet, wert und hoch gehalten zu fühlen - aber für unsre Weiblichkeit ist es ein unaussprechlich süßer und gewiß ein wahrhaft und rein menschlicher Genuß, uns als Weib, als liebenswürdiges, Wonne und Glück spenden könnendes Weib begehrt zu fühlen." Und doch schrickt sie vor dem Gedanken an eine eheliche Verbindung immer wieder zurück. Und sie fährt fort: "Hingabe als Genuß betrachtet hat keinen Reiz für mich - ich kenne das nicht, ich habe das nie entbehrt, nie gewünscht und in meiner Phantasie war hier von jeher eine Grenze, wo sie darum verschüchtert stehen blieb. Aber die Männer haben mich ahnen lassen, wie sie ein Weib in solchen Augenblicken zu vergöttern vermögen - und daher ist mir die Idee eines Ehebettes ordentlich schauderhaft zuwider."

Aber ihre große Liebesleidenschaft, die Liebe zu Ernst Moritz Arndt, ist ja nun längst vorüber. Mit Bezug auf ihn hatte sie geschrieben: "Warum mußte mein Gemüt, durch Poesie gebildet, so empfänglich für den Zauber wahrer Liebe sein? Warum mußte mir in Arndt der einzige Mann erscheinen, dem ich mich ganz hätte hingeben mögen? Was ist mir aller Ruhm im Vergleich zu dem Glück, das mir durch das Herz hätte werden können!"

Jetzt, in Dresden, in ihren 40er Jahren, wo sie die leidenschaftliche Huldigung mehrerer, aber weit jüngerer Männer empfängt, werden ihr statt der großen, reinen Liebe nur schmerzliche Herzenswirren zuteil. Sie gibt sich diesen hin, teils weil sie nicht anders kann, teils weil ihr ein liebewehes Herz noch immer lieber ist als ein kaltes, erstorbenes. Sie wünscht nichts Materielles aus dieser Liebe, als daß sie ihr "Vermittler werde zwischen ihr und der Gottheit, daß sie sie durchglühe für das sittlich Schöne, und daß ihre Seele auch die gelähmten Fittiche wieder zu entfalten vermöge." Etwas prosaischer ausgedrückt: Sie erhofft von dieser Liebe eine Neubefruchtung ihrer Phantasie, eine Neubelebung ihres schriftstellerischen Könnens, weil dadurch wieder in ihr etwas vorhanden sei, das ihre Darstellung beseelen werde, auf daß ihr das Schwanenlied ihres Herzens gelingen möge. So hat sie sich in den ersten Dresdener Jahren der Liebe zu dem jugendlich schönen Dr. Waldemar Seifart überlassen, obwohl sie sich bewußt war, daß er an geistiger Begabung und Bildung tief unter ihr stand. Aber sie begrüßt diese Liebe als ein Glück, als einen neuen Frühling der Empfindung, der nun auch wieder Blüten der Poesie treiben werde. Sie braucht, um produzieren zu können, solche Herzenbewegungen. So fühlt sie sich in dieser Liebe glücklich, und am Schluß des Jahres 1822 schreibt sie in ihr

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Tagebuch: "Ein glückliches, schönes, unvergeßliches Jahr liegt hinter mir!" Aber daß ihr Herz von ihrer Liebe überwältigt ward, mußte sie dann mit Bitterkeit erkennen, als der geliebte Waldemar ihr eines schönen Tages des nächsten Jahres mit der freudigen Kunde nahte, daß er sich anderweit verlobt habe, mit einem hübschen, unbedeutenden, aber jungen Mädchen. Da ist sie außer sich, und Gefühle, deren sie sich nie fähig gehalten hat, bedrängen ihr Herz. Und sie prophezeite ihm: Sein Los wird nun eine bis zur Gemeinheit flache Alltäglichkeit werden! Aber als die Wirklichkeit noch schlimmer wurde als diese Voraussage und die junge Frau einige Jahre später durch Selbstmord endete, da stand Fanny an ihrem Grabe in bitterer Reue darüber, daß sie diese Unglückliche gehaßt und ihr den Besitz ihres Waldemar nie gegönnt habe.

In den Jahren 1825 und 1826 machte Fanny größere Reisen. Zuerst in ihre Heimat zu Verwandten und Freunden, wobei sie auch in nahe Beziehungen zu der verwitweten Erbgroßherzogin Auguste trat, infolge ihres rege betätigten religiösen Interesses. Sodann brachte sie längere Zeit in Frankfurt und Weimar zu, wo sie Goethe kennen lernte.

Nach Dresden zurückgekehrt, erlebte sie anfangs 1827 ihr letztes Liebeserlebnis als 48jährige. Wie sie im Tagebuch erzählt; trieb es plötzlich einen 22jährigen Jüngling, namens Schroeder, der Maler war oder werden wollte, zu ihr hinzueilen, aus Sehnsucht nach Seelennahrung, wie sie schreibt. Mit ihm entwickelt sich nun noch einmal ein Liebesverhältnis, das von seiner Seite höchst exaltiert zu sein schien. Er zollte ihr eine Anbetung, wie "man sie nur Göttlichem und Heiligem zollen" kann, und sie war in ihrem Herzen gerührt und nur von Zweifeln gequält, ob sie noch wert sei, eine so reine Huldigung zu empfangen. So konnte es denn nicht ausbleiben, daß sie schließlich von neuem enttäuscht, diesmal aber wohl auch betrogen wurde. Denn Schroeder, der sie in Dresden malte oder wenigstens zu malen versuchte, von da nach Düsseldorf und zuletzt nach Hamburg ging, scheint es nur darauf angelegt zu haben, Geld und Geldeswert von ihr zu erlangen. Sie eilte im September 1828, von ihm zu Hilfe gerufen, nach Hamburg, opferte ihm alles, was sie an Geld noch aufbringen konnte, traf ihn aber körperlich und geistig heruntergekommen an. Später fand er in Hamburg guten Verdienst, weigerte sich aber, die zwei Gemälde, die er von ihr mitgenommen hatte, sowie die 500 Taler, die sie ihm geliehen hatte, zurückzugeben. Diese traurige Erfahrung, sowie der Verlust lieber Freundinnen, besonders der Frau v. Fink, die im Jahre 1828 starb, und endlich

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neue Krankheit und ein böses Augenleiden, machten sie so traurig, daß sie im Winter 1828/29 mit Selbstmordgedanken umging. In dieser Stimmung faßte sie den Entschluß, Dresden zu verlassen und nach Weißenfels überzusiedeln, wo sie im Oktober 1828 ihre Schwester Betty besucht und in angenehmen Verhältnissen angetroffen hatte. Durch ihre Freigebigkeit gegen Schroeder, durch ihre längere Krankheit war sie nun aber in wirtschaftliche Bedrängnis geraten; sie kündigte daher eine Subskription an auf eine Auswahl ihrer Schriften in 12 Bänden, die ihr bei 600 Subskribenten etwa 5000 Taler Reingewinn brachte. Auch setzte ihr ein Freund, der Engländer Ch. Wigram, eine Rente von jährlich 50 Taler aus, und endlich bekam sie seit 1828 von Maximilian Klinger aus Petersburg bis an seinen Tod (1831) jedes Jahr 50 Taler zugesandt. Den Frühling 1829 hindurch war sie krank und Michaelis 1829 zog sie nach Weißenfels, wo sie sich ganz erholte und wie in einem ruhigen und sicheren Hafen angelangt fühlte. Mit dem lebhaftesten Dankgefühl gegen Gott blickt sie daher im Dezember 1829 auf dieses Jahr zurück. Ihr Tagebuch schließt mit den Worten: "Ich habe nicht umsonst gelebt, denn die Achtung vieler edler Menschen ist mein, und nach so unsäglichem Elend ist mir doch noch die Fähigkeit geblieben, Gott zu lieben, mich an allem Schönen und Guten, vorzüglich aber an der Natur zu erfreuen und auch als Christin mit meinem Tode vertraut zu machen."

Nachdem sie sich in Weißenfels eingelebt hatte, richtete sie hier aber auch wieder einen literarischen Kreis ein, indem sie junge Leute aus gebildeten Familien, die sich für Literatur interessierten, Montags abend um sich versammelte. An diesen Abenden hat die junge Luise v. François teilgenommen und hier in der wachsenden Freundschaft zu der Tarnow die Richtung auf das Literarische erhalten. Wenn nun Fanny Tarnow in dem stillen Provinzialstädtchen auch ganz einfach und ohne Aufwand, selbst ohne Toiletten und Gesellschaften, aber zufrieden lebte, so blieb sie doch durch Reisen nach Dresden, Berlin und Leipzig auch im Zusammenhang mit der literarischen Welt. Ihr Leipziger Freund Gustav Kühne, der Herausgeber der Zeitung für die elegante Welt, nannte sie bei einem Besuche in Weißenfels: Eine Iphigenie unter den Weißenfelsern, und es klingt wie ein Ton aus vergangenen Zeiten, wenn er ihr schreibt: "Sie stehen so fest und sicher am Bogen meines Lebens, daß das Bedürfnis zu verehren und zu huldigen nie irre geht, wenn es bei Ihnen bleibt." Gegen das Ende der 30er Jahre versichert sie, daß sie beglückt sei durch die stille Heiterkeit, die nun am Ende ihres Lebens der Grundton ihres Wesens geworden sei.

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In Weißenfels ist sie von 1829 bis 1842 geblieben, dann aber zog sie nach Dessau und kehrte damit noch einmal in die große, vornehme Welt zurück. Den Anlaß, von Weißenfels fortzugehen, gab ihr die Verheiratung ihrer Schwester Betty mit dem Kriegsrat Kauffmann in Berlin. Tagebücher haben wir weder aus Weißenfels noch aus Dessau von ihr, aber mit ihrem Fortgang beginnt der umfangreiche Briefwechsel mit Luise v. François den ich ebenfalls im Nachlaß der François fand, und der bis zu ihrem Tode im Jahre 1862 reicht. Er wirft nicht nur ein Licht auf ihr Leben in Dessau, sondern auch auf das Leben und Wesen des Anhalter Hofes und nicht zum wenigsten auch auf den Charakter und die Entwicklung der Luise v. François. Er verbreitet sich ferner über religiöse, literarische und künstlerische Fragen und nimmt den lebhaftesten Anteil an den politischen Ereignissen, den schleswig-holsteinischen Freiheitskämpfen, der Revolution von 48 und der darauf folgenden Reaktion. Einige Mitteilungen aus diesen Briefen mögen die Lebensgeschichte der Tarnow noch vervollständigen helfen. - Im Jahre 1843 schreibt sie aus Dessau: "Von mir, liebste Luise, kann ich Ihnen nur Erfreuliches sagen. Mein Befinden ist besser, wie es seit vielen Jahren war, und in geselliger Beziehung bleibt mir nichts zu wünschen übrig. Die Form des Lebens, in der ich mich hier bewege, sagt mir zu, da ich in solchen Kreisen groß geworden und fast immer, die in Weißenfels verlebten Jahre ausgenommen, darin gelebt habe. Als Bürgerliche bin ich von dem eigentlichen, steifen Zwang des Hoflebens entbunden, da ich nicht tafelfähig bin - desto angenehmer sind aber die kleinen Zirkel bei den Herrschaften. Die Herzogin ist geistreich und liebenswürdig, ihre Tochter, Prinzessin Agnes, ein wahres Herzblatt, und mit der Prinzessin Friedrich könnte ich beinahe den Ausdruck gebrauchen, daß mein Umgang mit ihr recht angenehm sei, da ich wöchentlich einen Abend, bisweilen auch zwei, bei ihr zubringe. Wir haben viel große Gesellschaften, ein ziemlich gutes Theater, schöne Konzerte, allerliebste Lesezirkel, Bücher vollauf - meine Hausgenossen sehn mich ganz so an, als ob ich zu ihnen gehöre, kurz, es bleibt mir vor der Hand nichts zu wünschen übrig. Bloß meine Toilette fordert hier mehr Aufwand, und noch gestern, als ich in schwerem, reich besetztem Seidenkleide und weiß atlassenem, spanischem Federhut vor dem Spiegel stand, mußte ich lachen, wenn ich mich der jahrelangen sorglosen Bequemlichkeit meines Anzugs erinnerte." Von den schönen Frühlingstagen des Mai 1843 in Dessau ist sie ganz entzückt: "Wie habe ich den Mai genossen! Ich bin täglich mit einer oder der andern meiner Freundinnen spazieren gefahren.

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Das ganze Land ist ein reizender, lieblicher Park. Nie hatte ich mir träumen lassen, daß der Abend meines Lebens noch so reich und schön werden könnte!" Dazwischen freilich liegen wieder einige Krankheiten, die sie immer wieder befallen, dann aber auch wieder schöne Reisen nach Leipzig, Berlin oder Dresden, von denen sie immer mit großem Gewinn an Lebensfreude heimkehrt. Allmählich tut sie dann aber auch Einblicke in allerlei "unwürdige Kabalen an dem Duodezhofe" zu Dessau, die ihr es zuletzt doch bedenklich erscheinen lassen, der Luise v. François zu einer Stelle als Gesellschafterin an diesem Hofe zu raten. Aber sie wird nicht müde, diese junge Lieblingsfreundin zu bitten, sie doch in Dessau zu besuchen, und äußert jedesmal, wenn ihr dieser Wunsch erfüllt ist, ihre höchste Freude. Alles weist auch darauf hin, daß Fanny in diesen Jahren in durchaus angenehmen Verhältnissen - auch pekuniär - lebte, wie schon der Vorschlag zeigt, der Luise 100 Taler und mehr zu leihen zu ihrer Ausstattung mit Kleidung, für den Fall, daß sie nach Dessau kommen wolle. Vom Jahre 1846 an, als sie jeder schriftstellerischen Tätigkeit, auch dem Übersetzen, entsagte, war sie freilich in ihrer Einnahme beschränkt, während sie vorher "unbesorgt über Hunderte verfügen" konnte, und bedauert nun, nichts mehr zu verschenken zu haben, da dies ihre beste Lebensfreude gewesen sei; allein sie hatte sich soviel erworben, daß sie für das Notwendige nicht zu sorgen brauchte. Die politischen und konfessionellen Ereignisse nahmen in den nächsten Jahren, wo sie weniger Geselligkeit pflegte, ihr Interesse fast ausschließlich in Anspruch. Auf dem literarischen Gebiet begrüßt sie besonders Werke, die es wagen, "diesen hohlen, nichtigen Erbärmlichkeiten unseres Fürstenpöbels" die Wahrheit zu sagen, würdigt aber auch im vollen Maße "die Kraft und das selbstschöpferische Vermögen" Hebbels in seiner Maria Magdalena. In monatelangen, fast jährlich wiederholten Besuchen bei der Majorin Serre in Maxen bei Dresden erfreut sie sich an dem Umgange mit Dichtern, Künstlern und Gelehrten, von denen das Haus dort nie leer wird, sowie an der Verehrung und Herzlichkeit, mit der alle alten Freunde und neue Bekannten sie auszeichnen, und die ihr in ihren "späten Lebensjahren alle Annehmlichkeiten einer achtungswerten Berühmtheit gewährt, ohne daß sie die Dornen derselben zu fürchten braucht". Gegen das siebzigste Lebensjahr hin entsagt sie allen Hofgesellschaften um so lieber, als sie "dieser jämmerlichen Intriguen, dieser Kriecherei und dieses schmutzigen Eigennutzes" satt ist und in jedem Jahre mehr erkennen lernt, wie wenig der Mensch bedarf, um zufrieden zu sein. Die Zeit (1847) aber erscheint ihr so reich, so groß, so schauerlich schön,

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daß sie in ihr das Interesse für die Schöpfungen der Phantasie fast unterdrückt. Wenn sie sich nun auch allmählich etwas einsam fühlt, so sieht sie im Winter doch wieder einige junge Frauen zum Leseabend bei sich. Aus dem jüngeren Geschlecht aber überschüttet sie, während sie aus ihren Bedenken gegen den Charakter ihrer Nichte und späteren Biographin Amely Bölte kein Hehl macht, die junge geistvolle Luise v. François mit Liebe und Zärtlichkeit und wird nicht müde, diese behufs Gründung einer selbständigen Existenz auf den Weg der schriftstellerischen Betätigung zu verweisen, bis sie in der Tat um die Mitte der 50er Jahre zur Feder greift. Sicherlich hätte sie bei ihrer Liebe zu der jüngeren Freundin sich nicht so bemüht; diese zur Schriftstellerei zu veranlassen, wenn sie nicht selbst auch Freude und Erfolg in dieser Tätigkeit gefunden hätte. Wenn sie nun auch immer mehr sich durch die Gicht auf ihr Zimmer beschränkt sah, und schon dadurch ihre Einsamkeit immer größer wurde, so ist doch bei der Lebhaftigkeit ihrer Teilnahme an Literatur, Kunst und Politik, aber auch an dem Ergehen ihrer Verwandten und Freundinnen und bei ihrer durch alle trüben Stimmungen immer wieder durchbrechenden Zuversicht, nicht nur auf ein glückliches Leben mit Gott im Jenseits, sondern auch auf den endlichen Sieg des Guten in der Welt, gar nicht daran zu denken, ein solches reiche und nach menschlichen Verhältnissen glückliche Leben wie das von Fanny Tarnow ein verfehltes nennen zu wollen. "Ich lebe in stiller, friedlicher Einsamkeit," schreibt Fanny an Luise, "das Andenken meiner Freunde ist der Segen, der auf meinem Alter ruht." Mit voller Anteilnahme feierte sie noch das Schillerfest von 1859 mit, wobei sie in Leipzig durch ein Ehrendiplom als Mitglied des Schillervereins überrascht wurde. Ihre letzten Freuden aber waren die ersten Erfolge ihrer geliebten Luise v. François als Schriftstellerin.

Der 82jährigen gichtgelähmten Greisin wurde endlich ihre Sehnsucht nach dem Tode durch ein sanftes Ende im Juni 1862 erfüllt. Luise v. François aber legte die Briefe ihrer Fanny in einen Umschlag zusammen und schrieb auf die Rückseite des letzten: Der letzte Brief von meiner treuen lieben alten Freundin.

Das lebensgroße, von Friederike Hasse in Dresden im Jahre 1820 oder 1821 gemalte Ölbild 4 ) der Fanny Tarnow zeigt ein von wundervollen dunklen Augen beherrschtes Antlitz von edlem, geistigem Ausdruck mit einem leisen Zug von schwärmerischer Wehmut. Dem feingeschnittenen Munde glaubt man es, daß von


4) Der Abbildung im Jahrbuch 68, S. 177, liegt eine Photographie des Ölbildes in der Bildersammlung des Mecklb. Geschichtsvereins zugrunde.
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dem Zauber seiner Beredsamkeit auch eine Helmina v. Chézy sich hinreißen ließ.

Amely Bölte, die zu ihrer Tante Fanny infolge "der Unvereinbarkeit der Gemüter", wie ihr beiderseitiger Freund Varnhagen sich ausdrückt, nie ein gutes Verhältnis fand, stellt ihre Tante als selbstgefällig und überspannt hin. Vor der nüchternen Wirklichkeit habe sie sich entrüstet in ihr Zimmer zurückgezogen und im Jean Paul gelesen. So habe sie sich mit Truggestalten umgeben, vor denen sie selbst täglich "eine Komoedie des inneren Gesichts" aufgeführt habe. Hochmut liege diesem Spiele zugrunde: man möchte sich schöner, besser erscheinen, als man in Wirklichkeit sei, und schaffe sich darum ein Bild seiner selbst, welches allen Anforderungen der Eitelkeit genüge. So laufe das Ganze schließlich auf fortwährendes Kitzeln der Selbstliebe hinaus. Doch hätte die Sache auch eine "sehr tragische" Seite gehabt, denn weil sie ihre Bewerber durch den "zu schnellen Gang ihrer Liebesintriguen" und ihr aus dem Spiel der Phantasie stammendes starkes Entgegenkommen abgeschreckt habe, so habe sie bei einem liebeglühenden Herzen selten Liebe gefunden, habe sich aber stets eingebildet, geliebt und begehrt zu sein, auch wenn sich die Neigung des andern noch durch nichts verraten hätte. Auch habe sie, ohne schön zu sein, durch Hervorhebung ihrer Persönlichkeit die Ansprüche einer Schönheit gemacht und sei dadurch lächerlich geworden. Schließlich klingt das Buch der Bölte recht elegisch aus; das letzte Kapitel, den "Abend des Lebens", d. h. 40 Jahre, von 1822 bis 1862, auf nur acht Seiten schildernd, beginnt mit den Worten: "Es tritt für jede Frau ein Moment ein, wo sie innerlich vom Leben scheidet. An dieser Grenze des Daseins (mit 43 Jahren!) finden wir Fanny Tarnow mutlos in eine öde Zukunft starrend, unbefriedigt von der Gegenwart, der Vergangenheit mit kleinen Anwandlungen von Reue gedenkend." Zu genau dem gleichen Zeitpunkt schrieb Fanny, wie wir sahen, in ihr Tagebuch: "Ein glückliches, schönes, unvergeßliches Jahr liegt hinter mir!"

Ach nein, diese ganze Charakteristik ist ein boshaftes Zerrbild. Wenn die Nichte über ihre Tante so dachte, so hätte sie ihre Biographie nicht schreiben sollen. Besonders bedenklich erscheint dabei, daß sie die in ihren Besitz genommenen vier Tagebücher der Tante vernichtet hat. Daß diese ihrer Nichte nicht traute, ersieht man daraus, daß sie ihre späteren Tagebücher nicht der Nichte, sondern ihrer Freundin Luise v. François vermacht hat. Aber die Bölte hat es erreicht, daß ihr Buch das Urteil sämtlicher Schriftsteller, die sich über Fanny Tarnow geäußert haben, von Rudolf Schleiden bis Hermann Anders Krüger, bestimmt hat.

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Gewisse Grundlinien ihres Charakters sind in der Biographie ja richtig gezogen, aber das Gesamtbild als eines von eitlen und phantastischen Wahnideen getriebenen und schließlich gefoppten Wesens und die Darstellung ihres Lebens als eines unglücklichen und verfehlten ist falsch. Es scheint wirklich so, als ob die Bölte die Stellen, die in den Tagebüchern von Glück und Sonne redeten, geflissentlich unterdrückt habe. Richtig ist ja, daß die Tarnow, wie alle Romantiker, ihr Herz verhätschelt hat, die Ströme des Gefühls und die Stürme der Leidenschaft für die einzig natürlichen Äußerungen geistiger Vornehmheit gehalten und das Alltägliche als gemein verachtet hat. Es mag auch sein, daß sie Liebesandeutungen gegenüber zu leichtgläubig war oder sie zu tragisch nahm, aber es ist unzweifelhaft falsch, daß, wie Rud. Schleiden in seinen Jugenderinnerungen 5 ) meint, die Tarnow sich von jedem Manne, der sich höflich mit ihr unterhielt, geliebt glaubte. Zum Beweise für diese Behauptung beruft auch er sich eben auf das Buch der Nichte Amely Bölte.

Fanny Tarnow mag in ihrer leidenschaftlichen und bisweilen exaltierten Weise geneigt gewesen sein, sich von jemand geliebt oder gehaßt zu glauben, der von einer gleich leidenschaftlichen Empfindung, wie sie ihr Herz durchwogte, weit entfernt war. Auch das mag man zugeben, daß ihr Gefühl leicht umschlagen konnte, daß sie jemanden, den sie lange für edel gehalten hatte, nun plötzlich infolge einer Handlung, die ihr gemein vorkam, vielleicht infolge eines Mißverständnisses, aus der Liste ihrer Freunde strich. Aber daß sie in der Weise, wie die Bölte behauptet, Trugbildern nachgejagt sei, ist falsch. Besonders ist das unwahr, daß sie in jedem Manne einen Heiratskandidaten begrüßt habe. Eine sinnliche Natur im gewöhnlichen Sinne war sie überhaupt nicht. Indem die Bölte meint, daß ihre Tante sich oft fälschlich eingebildet habe, geliebt zu sein, sucht sie die Unmöglichkeit solcher Verliebtheiten der Männer dadurch darzutun, daß sie dieselbe als abschreckend häßlich schildert. Das Ölbild aber straft sie Lügen. Im Gegenteil läßt sich aus ihrer Erscheinung annehmen, daß sie einen starken Eindruck auf die Männer machte, und zwar auch oder grade auf solche, die sich sonst gegen Frauen spröde verhielten, wie Maximilian Klinger oder der Graf Georg Sivers. Allerdings hat Fanny auch von letzterem geglaubt, daß er sie liebe. Aber damit stimmt auch der Brief des Grafen an Fanny überein, der in Riegers Klinger abgedruckt ist. In diesem Briefe schreibt Graf Sivers: "Eben, meine edle Freundin, komme ich


5) Jugenderinnerungen eines Schleswig-Holsteiners. S. 94. - R. Schleiden ist der Sohn der Elise, geb. v. Nuys.
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vom Hofe zurück, und noch viel zu aufgeregt, um auf meinem Lager den Schlummer finden zu können, setze ich mich nieder, um an Sie zu schreiben, deren holdseliges Bild auch nicht einen Augenblick aus meinem Herzen verdrängt ist. - Von allen Wundern, die Ihr Geist bewirkt, von allem Zauber, den Ihre Liebenswürdigkeit je geübt hat, ist unstreitig, die Klinger für Sie empfindet, das größte wie der mächtigste." Und er schließt: "Ich bin sehr unruhig, sehr bewegt, teure, teure Freundin. Wie sich nun auch alles wende, immer droht mir Trennung, und wie soll ich es lernen, ohne Sie, meinen Genius, meinen guten Engel, meine Schutzheilige, zu leben!" Damit stimmt genau, was Fanny selbst in ihrem Tagebuche schreibt. - Vollends die vielen Ausbrüche der Leidenschaft anderer Männer, denen Fanny in ihrem Leben ausgesetzt war, kann sie sich unmöglich nur eingebildet haben, dazu waren sie zu handgreiflich. In ihrem Petersburger Tagebuch klagt sie nach einer leidenschaftlichen Szene mit einem gewissen Beske: "Welch ein Tag, Gott, welch ein Tag! Soll denn diese furchtbare Gewalt der fremden Leidenschaft über mein Leben niemals aufhören? Zwei Stunden lang hat er zu meinen Füßen gelegen, sie geküßt, meine Knie umfaßt, geweint - oh mein Gott, das ist nicht Liebe, es ist die Gewalt der leidenschaftlichsten Sinnlichkeit!"

Fanny bezeichnet sich selbst mit einiger Selbstironie zur Zeit, da ihr Bild gemalt ist, als "verblüht, mit Spuren, daß sie ehemals hübsch war." Ist das zuviel gesagt? War also in den Jahren ihrer Blüte ihr Äußeres schon anziehend, so war es ihre geistige Person ohne Zweifel noch in weit höherem Maße. Der "Zauber ihrer Beredsamkeit" riß die Helmina v. Chézy hin. "Ich trug sie wie ein Kleinod im Herzen," fügt sie hinzu. Das Ideale, Edle, Große zog sie im Gebiete des Geistigen besonders an. Daher war sie auch eine leidenschaftliche Patriotin, was ihre Aufzeichnungen aus der Zeit vor und zu den Freiheitskriegen ebenso beweisen, wie ihr Heimweh in Rußland und ihre Erregung während der Kämpfe von 1848. Nach der Schlacht von Jena (1806) schreibt sie: "Ich habe ganze Nächte geweint, mich schlaflos wie auf Dornen gewälzt - nun ist jede Hoffnung für Deutschland dahin. Wie erträgt man das Leben noch!" Nach des Major Schills Tode ruft sie aus: "Warum kann ich nicht Blut statt Tränen weinen! Gott lasse mich nie die Zeit erleben, wo wir geduldig wie der Ochs im Joche einhergehen werden!" Und im Jahre 1848 schreibt sie an H. v. François: "Alle Träume meiner glühenden Jugendbegeisterung für Freiheit und Vaterland leben in meiner Seele wieder auf!"

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Bei ihrem "Bedürfnis, Höheres zu verehren", kann es nicht Wunder nehmen, daß die Tarnow auch ein starkes religiöses Gefühl hatte. Sie ehrte es noch im Alter als eins der edelsten Geschenke der Vorsehung, daß ihr ein so zuversichtliches Bewußtsein der Unsterblichkeit zuteil geworden sei. "Aber," fügt sie hinzu, "alles, worüber gestritten werden kann, ist nicht mehr zum Wesen der Religion gehörig." In der Natalie erzählt sie, daß der Mystizismus ihres Konfirmandenunterrichts sie wie Poesie ergriff, wie denn ihr ästhetisches Bedürfnis von ihrem religiösen nicht zu trennen war. Den Dogmenglauben hat sie immer abgelehnt, dagegen sich der Theosophie genähert. Als sie Arndts Bekanntschaft macht und bei seinem ersten Anblick schon Vertrauen und Liebe empfindet, denkt sie dabei an ein Begegnen in einem früheren Leben; "solche Momente," sagt sie, "sind wahrscheinlich Momente der Wiedererkennung, sind heilig!" "Viele Denker," schreibt sie an die François, "schreiben dem groben Erdenleib eine sensible Atmosphäre zu, und dieser feine unsichtbare Ätherleib vermag uns viele Wunder zu erklären. Alles Äußere, alle Ereignisse sind nur Material für die bildende Schöpfungskraft der Seele."

Eine übergroße Empfindlichkeit war die Eigenschaft, die der Tarnow die meisten Qualen ihres Lebens verursachte, körperliche wie geistige. Häufig war sie krank, meist infolge seelischer Erschütterungen. So leicht sie geneigt war, Freundschaften zu schließen, so leicht zog sie sich auch zurück, wenn sie sie verletzt fühlte. Unendlichen Kummer haben ihr die Kränkungen ihrer Bekannten, wirkliche und eingebildete, gemacht, und sie liebt ihre Luise v. François besonders auch deswegen, weil sie sie nie beleidigt hat: "Sie, meine Luise, sind mir doch die Nächste und Verwandteste auf Erden! Sie allein haben mich nie betrübt, nie gekränkt. Das lohne Ihnen Gott!"

Und doch blieb auch dieses Verhältnis nicht ohne einen geheimen Stachel für die ältere Freundin. Fanny mußte es erleben, daß ihre geliebte Luise, wenn auch durch sie angeregt und veranlaßt, die literarische Laufbahn doch in ganz anderer und völlig unromantischer Weise einschlug und daher auch den ihr so oft angebotenen und so gern erteilten literarischen Rat der älteren Freundin ablehnte. Die ersten Erfolge der François waren somit für Fanny Überraschungen, die sie wohl mit herzlicher Freude begrüßte, an denen sie aber geistigen Anteil nicht hatte.

Fanny Tarnow ist einmal als vierjähriges Kind aus Angst vor ihrem Vater, der sie mit dem Stock züchtigen wollte, aus dem Fenster gesprungen. Die Folge des Sturzes war langes Krankenlager, noch längere Kränklichkeit, dauernde Entfremdung von dem

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Vater. Dies trug auch dazu bei, daß sie ein so frühreifes Kind wurde, fast ohne Gespielen aufwuchs, sich so bald zur Lektüre hinwandte. "Als Kind von sechs Jahren las ich schon Romane," erzählt sie, "und als ich 16 alt war, vergötterte ich Schiller Stücke, Don Karlos wußte ich auswendig, Kabale und Liebe, die Räuber entzückten mich." Um dieselbe Zeit schickte sie sich an, auch selbst schriftstellerisch tätig zu sein. Sie schreibt 1846 an Luise v. François: "Es ist mir durch mehr als 50jährige Gewohnheit zur andern Natur geworden, täglich einige Frühstunden am Schreibtisch zuzubringen." Vielleicht aber darf man dieses Schreiben zunächst als Tagebuchschreiben definieren, dessen sich Fanny stets mit Hingebung befleißigt hat. Sicherlich ist sie aber auch schon sehr früh gedruckt worden, denn eine alte Tagebuchstelle lautet: "Durch meine kleinen Versuche in der Literatur bin ich bekannter geworden, als ich vermuten konnte." Und weiter: "Durch die Stillersche Buchhandlung [in Rostock] habe ich erfahren, daß meine an Wieland, Rochlitz und Seume eingesandten Sachen mit achtungsvoller Güte aufgenommen sind, zu gleicher Zeit las ich in dem Freimütigen eine mich betreffende Anzeige des Redakteurs, dem der Censor den Abdruck meines Aufsatzes untersagt hat." Das ist doch in der Tat für eine Anfängerin schon ein schöner Erfolg. Ihre erste größere Erzählung, Allwina von Rosen, wurde dann 1806 von den vorhin genannten drei Männern, der Redaktion des Journals für deutsche Frauen, gebracht.

Von dem von Helmina v. Chézy ihr gestohlenen Tagebuch hatte ja Fanny Tarnow die Ausrede gebraucht, es wäre ein Romanentwurf. Ganz so unrichtig, wie die Chézy meinte, war das doch wohl nicht. Denn sie hat in der Tat ihre Tagebücher, wie auch ihre Briefe, zu ihren schriftstellerischen Arbeiten sehr stark benutzt. Manche von ihren Erzählungen sind ganz oder größtenteils selbst erlebt. So besonders die Natalie, die ihre Jugendgeschichte enthält, und die "Erinnerungen aus Franziskas Leben", in denen Kopien von ihrer Mutter und ihr selbst, Eduard Hitzig und Graf Sivers vorkommen. Hier ist es auch einmal möglich, durch Vergleich mit dem Petersburger Tagebuch den Grad der Übereinstimmung zwischen beiden festzustellen. In der Novelle heißt es:

Novelle:   Tagebuch:
Wir schwiegen beide, solange der   Es war Abendfeier in der Natur,
Wagen durch die Gassen rollte,   als wir wieder ins Freie kamen.
allein sowie wir ins Freie kamen,   Er fing an mit mir zu sprechen,
fing er ohne alle Vorbereitung an,   und in dem Augenblick war alle
mit mir von seiner Lage zu reden,   meine Bangigkeit verschwunden.
und bei dem ersten Worte war alle   Mir war, als sei ich gestorben und
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meine Bangigkeit verschwunden.   rede wie sein Schutzengel mit ihm
Mir war, als sei ich schon gestor-   - er zeichnete mir das Bild einer
ben und rede als sein Schutzengel   Gattin, wie er sie sich wünschte -
mit ihm. Er erwähnte den Wunsch   nun ja, es war mein Bild, Zug
seiner Mutter, ihn mit Lady Cae-   für Zug - und wo, fragte er
cilie verheiratet zu sehn, allein er   mich, die Augen zu mir aufhebend,
schilderte mir auch, wie ihn, seinem   wo soll ich diese Gattin finden, da
Sinn und seinen Gefühlen nach,   mein Herz nicht verstanden wird,
eine alltägliche Ehe schon so un   und jede Frage ohne Antwort
glücklich machen müsse, als sei es   bleibt? Ich habe meine Frau un-
eine schlechte: er zeichnete das Bild   endlich geliebt, und eben daher
einer Gattin, wie er sie sich wün   würde mich eine gewöhnliche Ehe
sche; es war nicht Caeciliens Bild,   schon so unglücklich machen, als
es war das meinige Zug für Zug,   sei es eine schlechte. . . . Ich konnte
wie ich wußte, daß ich in seiner   ihm nun alles, alles sagen, ohne
Seele lebte . . . . Ich fühlte, daß   Rückhalt alles - er mußte fühlen,
der Schmerz, mit dem ich kämpfte,   wie wert er mir war, und daß ich
mir das Recht gab, ganz wahr   nicht glücklich sein kann, ohne ihn
gegen ihn seien zu dürfen . . . ich   glücklich zu wissen. . . . Wir nah-
tat es ohne irgendeinen Rückhalt   men Abschied voneinander für diese
. . . er mußte fühlen, daß er mir   Welt, ja ich hätte ihn glücklich ge-
teuer, sehr teuer war, daß ich nicht   macht, ich wäre es durch ihn ge-
glücklich zu sein vermochte, ohne   worden. Allein Gott spricht durch
ihn glücklich zu wissen . . . Wir   unsere äußeren Verhältnisse und
nahmen noch an diesem Abend   noch durch einen anderen Umstand
Abschied voneinander auf lange   es aus, daß wir nicht füreinander
Zeit, vielleicht auf immer. "Leben   bestimmt sind, ich wünsche nicht
Sie denn wohl, Franziska," sagte   einmal, daß es anders wäre. Aber
er mir, "Ihr Andenken bleibt   nun soll mir auch die grausame
meine schönste, meine unvergeß-   Vernunft nichts einreden gegen
lichste Erinnerung, der Segen mei-   den Schmerz dieser Trennung, ich
ner Lebensfreuden, die Weihe mei-   will ihn rein fühlen. "Leben Sie
ner Tugenden. Sie werden, wo Sie   dann glücklich," sagte er, "Ihr
auch leben, alle edlen Menschen an   Andenken bleibt meine unvergeß-
sich ziehen . . . aber keiner wird   lichste und schönste Erinnerung.
Ihr Andenken bewahren, wie es   Sie werden, wo Sie auch leben,
in meiner Brust bis zum letzten   alle edlen Menschen an Sich ziehen,
Schlage meines Herzens lebt." Er   aber nie wird jemand Ihr Anden-
küßte mir die Hand, ich gab ihm   ken inniger bewahren als ich."
die andre auch, und segnete ihn   Er küßte mir die Hand, ich gab
und sein edles Leben, und dann   ihm die andre auch, aber ich
schieden wir. -   konnte ihm nicht meine Lippen
  bieten, wie er es zu wünschen
  schien, ohne es fordern zu wollen.

Warum hat nun Amely Bölte die sämtlichen von ihr benutzten Tagebücher (mindestens vier) vernichtet? Es scheint doch so, daß sie dadurch eine Nachprüfung ihres Buches und der Charakteristik ihrer Tante verhindern wollte. Das ist ihr auch gelungen. Die Erfindungsgabe Fanny Tarnows ist, wie sie selbst wußte, nicht groß gewesen. Ich will aber auf den Inhalt ihrer Romane nicht eingehen, sie sind tot, wie die ihres Meisters Fouqué. Nur zur Probe gebe ich ganz kurz den Inhalt der Erstlingsnovelle Allwina.

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von Rosen: Allwina lernt einen polnischen Grafen kennen, mit schönen dunklen Augen und einer prachtvollen Uniform, dem ihr Herz auf den ersten Blick zufliegt. Durch ihr wundervolles Tanzen und ihr zauberhaft graziöses Gespräch hingerissen, entbrennt auch er in Leidenschaft. Da er aber in die polnische Revolution verwickelt ist, und ihre Tante auch nicht wünscht, daß sie sich nach Polen verheiratet, so kommt es zum herzzerreißenden Abschied auf ewig. Aber nach einiger Zeit kauft sich der polnische Graf durch Vermittlung der guten Tante ein Rittergut in der Nähe der Eltern Allwinas, und diese wird ihm dort zu ihrer Überraschung eines Tages unter Pauken und Trompeten, blühenden Blumengewinden und Tränen seligsten Entzückens reich geschmückt an das Herz gelegt. Ich glaube, das gäbe heute noch einen wunderhübschen Film. - In den späteren Geschichten stirbt die edelmütige Heldin, nachdem sie dem Glück entsagt, meist an einer romantischen Krankheit, wovon sie eine reiche Auswahl bietet, mit Bevorzugung des gebrochenen Herzens. "Es hat wohl nie eine subjektivere und sentimentalere Schriftstellerin gegeben als sie, und dennoch halten wir sie für eine wahrhaftige Dichterin. Wahr und ergreifend ist von ihr der unsäglichste aller Jammer, der einer ungleichartigen Ehe geschildert," schreibt Franz Horn im Jahre 1819, "Ihre Thorilde v. Adlerstein ist das nächtlichste aller Bücher, selbst die Tugend erscheint hier als schwarzverschleierte Gestalt."

Die phantastisch-romantischen Elemente ihrer Dichtungen, das Zauberhafte, Dämonische, die weiche Mondscheinstimmung, die tränenreiche Entsagung, stehen aber unausgeglichen neben den realistischen, aus dem Leben genommenen Szenen, geistvollen Bemerkungen, feinen Beobachtungen, hübschen Naturschilderungen. Dadurch tritt die dürftige Erfindung und schwache Komposition erst besonders deutlich hervor. Einen gegebenen Stoff weiß die Tarnow gewandt, klar und spannend vorzutragen. Sie ist nicht nur gefühlvoll, sondern auch geistreich und anmutig, allerdings ohne Humor. So sind die vortrefflichen Berichte, die sie über Rußland und Petersburg an Cotta sandte, noch heute mit Genuß zu lesen. Es wäre nicht schwer, aus ihren anschaulichen Schilderungen, anmutigen Plaudereien und gemütvollen Briefen ein Bändchen zusammenzustellen, das sie der unverdienten Vergessenheit entreißen würde, in die sie nicht ohne Schuld ihrer Biographin versunken ist. Mehr allerdings als ihre Schriftstellerei bedeutet ihre lebensprühende, bezaubernde, für die jüngere Romantik so überaus charakteristische Person. Von hier aus gesehen ist Fanny Tarnow in der Tat eine der glänzendsten Frauengestalten ihrer Zeit.

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