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3. Die Seherin von Wismar.

Einen eigenthümlichen, in der einschlägigen Literatur bisher, so viel ich sehen kann, nicht beachteten Fall von zweitem Gesicht theilt der Greifswalder Professor Dr. med. Christian Stephan Scheffel (geb. 1693 zu Wismar, gest. 1760 zu Greifswald) in dem Einladungsprogramm zu der am 8. März 1742 stattfindenden Promotion des Candidaten der Medicin Theodor Pyl aus Ukermünde mit. * ) Da der Fall in Wismar beobachtet wurde und zu den am besten beglaubigten gehört, die aus älterer Zeit überliefert sind, dürfte eine Wiedergabe nach manchen Seiten hin von Interesse sein.

Scheffel berichtet, von den Verschiedenen Arten der Weissagung im allgemeinen und von den "Sehers", wie er sich ausdrückt, Nordsfrieslands und Rügens im besonderen ausgehend, zum Theil nach eigener Kenntniß, zumeist aber nach mündlichen und schriftlichen Mittheilungen seiner 1734 verstorbenen Mutter und seines noch lebenden Vaters, des Dr. med. Martin Scheffel (geb. 1659 zu Wismar, gest. 1754 zu Greifswald), wie folgt:

"In meinem väteriichen Hause zu Wismar diente von 1710 bis 1717 eine Magd, Lucia mit Namen, von guter Körperconstitution, heiteren Gemüths, gottesfürchtig und arbeitsam. In den ersten Jahren ihrer Dienstzeit, als ich noch zu Hause war, hatte Niemand Kenntniß von ihrer Fähigkeit, aus Visionen die Zukunft voraus zu verkünden. außer daß sie selbst bei Gelegenheit ähnlicher Gespräche erzählte, ihr früherer Herr, ein Landgeistlicher nicht weit von Wismar, sei ihr nicht lange Zeit vor seinem Tode aufgebahrt erschienen, doch fand sie keinen Gtauben. Meine Eltern bewohnten ein ziemlich großes Haus mit vielen heizbaren Zimmern, die an


*) Programma, quo Christianus Stephanus Scheffelius, Medicinae Doctor et Professor reg. ordinarius, b. t. facultatis Medicae decanus, ad disputationem inauguralem . . . Dn. Theodori Pylii, de praestantia situs parturientium in lecto, prae reliquis alias consuetis . . . ea qua decet humanitate invitat, et simul quaedam de varii generis praesagitionibus praemittit succinctamque historiam de ancilla Wismariensi praesaga subjungit. Gryphiswaldiae, Literis Struckianis. 6 Bll. 4°.
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Offiziere, deren es damals zur Zeit des Krieges in Wismar sehr viele gab, vermiethet wurden. Wenn nun ab und an eins davon leer stand, wurde meine Mutter zu öfteren Malen von der Magd benachrichtigt, daß bald wieder ein neuer Miether kommen würde, denn sie habe verschiedene Kisten, Waffen, Kleidungsstücke, Sättel und anderes in das oder jenes Zimmer hineinschaffen sehen. Die Mutter lachte ungläubig darüber und obgleich die Folgezeit ihr Recht gab, hörte doch keiner besonders auf ihre Reden. Aber bald fing man an, ihr mehr Glauben zu schenken. Ein entlegenerer Theil des Hauses, auf der Seite nach dem Marien=Kirchhof zu und mit diesem durch eine besondere Thür verbunden, hatte lange leer gestanden. Einst Nachts, als die Eltern schon zur Ruhe gegangen waren, kommt die Magd, die wer weiß welchem Antrieb folgend dorthin gekommen war, zur Mutter gelaufen und beschwört sie mitzugehen und zuzusehen (sie selbst war solchen Gesichtern gegenüber vollständig furchtlos), aus dem Kirchhofe vor der Thür halte ein Wagen, aus dem viel Gepäck, Laden und allerhand anderes hereingetragen würde und einige von den dabei beschäftigten Leuten trügen grüne Uniform. Die Mutter jedoch, etwas ängstlicher Natur, schalt das Mädchen aus und befahl ihr zu Bett zu gehen. Am dritten Tage daraus bezogen neue Einwohner, gefangene russische Offiziere, genau in derselben Weise und Uniform, wie die Magd es gesehen hatte, durch die erwähnte Thür jene Wohnung. Ungefähr um dieselbe Zeit befand sich unter den übrigen Bewohnern des Hauses ein Lieutenant Namens Koch. Dieser, der mit einem Kaperschiff aus dem Wismarschen Hafen ausgelaufen war, erhielt von einer Granate, die er bei Einbruch der Nacht in ein entgegenkommendes Fahrzeug schleudern wollte und die vorzeitig egplodirte, eine tödtliche Wunde am Schenkel. In derselben Nacht sah das im Hausflur schlafende Mädchen den Todten mit zerschmettertem Schenkel ins Haus bringen und erzählte am Morgen den Eltern, was sie erblickt hatte. Am selben Tage traf die Vorhersagung ein.

Andere Beispiele ihrer Sehergabe mögen folgen: Meine einzige Schwester verheirathete sich 1713 mit dem damaligen Hauptmann im Jemtländischen Regiment Ackerfeldt, jetzt Major in Jemtland; diese Heirath, an die bis dahin Niemand dachte, sagte die Magd gleichfalls voraus. Bald nach der Hochzeit wurde Ackerfeldt nach Stralsund versetzt und meine Schwester begleitete ihren Gatten. Von Stralsund aus wurde er kurze Zeit nachher mit einer Abtheilung Soldaten nach Gützkow entsendet. Inter arma silent Musae; so verließ auch mein jüngerer Bruder, jetzt Artillerie=Hauptmann in

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Stockholm, gegen die ernstlichen Ermahnungen des Vaters seine Studien und flüchtete, erst 14 Jahre alt, im Jahre 1714 mit einem Degen umgürtet heimlich nach Gützkow, um unter dem Befehle des Schwagers in Kriegsdienste zu treten, doch dieser, der die Mühseligkeiten und Widerwärtigkeiten des Kriegslebens zur Genüge kennen gelernt hatte, redete ihm ab und bewog ihn nach Wismar zurückzukehren. Einige Tage vor seiner Rückkehr sieht die Magd bei Anbruch der Nacht, im Begriff die Thür zu verriegeln, den Bruder davor in seiner gewohnten Kteidung, doch ohne Degen. Voller Freuden eilt sie, dies den tiefbetrübten Eltern zu melden und verkündet seine baldige Ankunft. Wenige Tage darauf fand er sich am väterlichen Herde wieder ein, ohne Degen, denn dessen war er auf dem Wege beraubt worden.

Als Stralsund und Wismar im Jahre 1716 von den Feinden besetzt waren und Ackerfeldt sich nach Schweden begeben hatte, war meine Schwester zu den Eltern zurückgekehrt. Dieser, die voller Sehnsucht die Briefe ihres Gatten erwartete, verkündete die Magd regelmäßig an den Tagen, an denen der Postbote zu kommen pflegte, in aller Frühe vor der ersten Ankunft desselben, ob Sie einen Brief erhalten würde oder nicht. Während der ganzen Zeit, die Sie bei meinen Eltern zubrachte. hat sie niemals, einige wenige Fälle abgerechnet, etwas verkündet, was sich nicht erfüllte. Auch ihren eigenen Tod wußte sie vorher. Mehrere Male verkündigte sie sowohl meiner als auch ihrer damals noch lebenden Mutter, es würde binnen kurzer Zeit jemand in unserem Hause sterben, mit dem Zusatz: "und das bin ich." Nach Vertauf von kaum einer Woche starb sie wider Aller Erwarten, vom Fieber ergriffen, unter schweren Krankheitserscheinungen im Alter von 34 Jahren."

Es ist dies wirklich ein merkwürdiger und, man mag über solche Erscheinungen denken wie man will, der Aufbewahrung werther Bericht, nicht allein durch die Zahl der an gesellschaftlichem Rang und wissenschaftlicher Bildung hochstehenden Gewährsleute, sondern fast mehr noch durch die Art und Weise, wie die Aeußerungen des "zweiten Gesichts" hier geschildert werden. Keineswegs nur traurige Begebnisse, auch ziemlich gleichgültige und in der Mehrzahl freudige Ereignisse kündigen sich in voller Schärfe an, ja es möchte abgesehen von dem einmal erwähnten unerklärlichen Drange, sich an einen Ort zu begeben, wo sie gar nichts zu thun hatte, bei den Briefen fast scheinen, als ob die Hellseherin nach Belieben von ihrer Gabe habe Gebrauch machen können. So weicht auch der hier dargestellte Fall von den meisten Schilderungen derartiger Zustände in dem wesentlichen Umstande ab, daß der verdüsternden

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Einwirkung der unheimlichen Gabe auf das Gemüth der davon Betroffenen und der ihnen innewohnenden Furcht vor solchen Erscheinungen nicht nur mit keinem Worte gedacht, sondern ganz ausdrücklich das heitere Gemüth und die Furchtlosigkeit des Mädchens hervorgehoben wird. Die Aufforderung an die Herrin, sich selbst von dem Gesehenen zu überzeugen, bekundet eine Unbefangenheit, die ein Dichter, der die dankbare Figur eines "Spökenkiekers" in einem Werke vorführen wollte, geradezu unterdrücken müßte, um nicht psychologischer Unwahrheit gescholten zu werden, ganz abgesehen davon, daß dem Geheimnißvollen damit ein großer Theil des "Gruseligen" abgestreift würde.

Dr. Hofmeister=Rostock.