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V.

Zur Rethrafrage.

Von

Medicinalrath Dr. Brückner in Neubrandenburg.

~~~~~~~~~~~~~~

I n Band 54 der Jahrbücher des Vereins für Meklenb. Geschichte und Alterthumskunde habe ich einen Aufsatz veröffentlicht, betitelt: "Rethra lag auf der Fischerinsel in der Tollense". - Gegen diesen meinen Aufsatz hat ebendort Herr Archivrath Schild! eine "Entgegnung" geschrieben, und Herr Archivrath Grotefend "Bemerkungen". - Ich habe beide Arbeiten mit großem Interesse gelesen. Dieselben haben mir Veranlassung gegeben, meine Untersuchungen und Ermittelungen über Rethra noch einmal einer sorgfältigen Prüfung zu unterwerfen. Meine Ansichten über Rethra und die Lage desselben haben nach keiner Richtung hin eine Aenderung erfahren können.

Herr Archivrath Schildt macht mir den Vorwurf, daß ich seine Untersuchungen über Wustrow und die Fischerinsel nicht gewürdigt habe, und da ich die Fischerinsel als die Stelle von Rethra angesehen haben wolle, daß ich dann seine Entdeckung, daß das castrum Wustrow auf der Fischerinsel gestanden haben müsse, nicht widerlegt habe, oder, wie er sagt, ihm nichts Falsches und Irriges nachgewiesen habe.

Ueber Rethra, seine Beschaffenheit und Lage finden wir mehrfach Nachrichten bei den alten Chronisten und man ist im Stande zu prüfen, wie weit diese Nachrichten etwa einer bestimmten Lokalität entsprechen.

Von dem castrum Wustrow, welches einigemal in alten Urkunden genannt wird, kennt man allgemein nur den Namen. Was

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es sonst mit demselben für eine Bewandniß gehabt hat, kann niemand angeben. Beschreibungen des castrums, oder der besonderen Lage desselben, giebt es nicht. Etwas Sicheres und Zuverlässiges über die Lage desselben zu ermitteln, ist schwer.

Nach Herrn Archivrath Schildt soll die Lage des castrums auf der Fischerinsel bewiesen werden:

1) durch Reste eines alten Walles auf der Insel und

2) durch die neu aufgefundene, von dem Herrn Archivrath untersuchte und beschriebene Brücke, die früher sicher nach der Fischerinsel hinübergeführt hat, und aus der mit Nothwendigkeit folge, "daß die Insel früher von Menschen benutzt wurde",

3) dadurch, daß wenigstens ein Theil von Wustrow müsse auf der Fischerinsel gelegen haben, weil das slavische Wort »Wustrow« Insel bedeute.

Zunächst muß ich der Angabe, daß Reste eines alten Walles auf der Insel vorhanden sind, geradezu widersprechen. Es ist dort auch nicht die leiseste Andeutung oder Spur eines alten Walles vorhanden. - Das nördliche Ende der Insel, an welchem Herr Archivrath Schildt die Spuren der Umwallung gesehen haben will, ist ein durch Wellenschlag entstandenes Abbruchsufer, welches gegen weitere Abnagung durch die Wurzeln der dort stehenden Bäume geschützt wird. Einzelne kaum vorstehende Baumwurzeln, die mit Gras und Moos überwachsen sind, wird Herr Archivrath Schildt auch wohl nicht für Reste eines alten Walles ansehen wollen; aber er glaubt, die Vermuthung aussprechen zu dürfen: "daß man vormals, um die Insel zum Anbau von Getreide oder Gemüse geeignet zu machen, den Wall am Ufer abgrub, und die tieferen Stellen in der Mitte damit ausfüllte". Also gesehen hat Herr Archivrath Schildt den Wall auch nicht; er existirt nur in seiner Vorstellung, ebenso wie der Gemüsebau, an den man in nachslavischer Zeit auf der Insel bestimmt nie gedacht haben kann. Gleich im Beginn der christlichen Zeit muß die Tollense durch Anlage der Mühlen bei Neubrandenburg zu ihrem jetzigen Niveau aufgestauet worden sein. Die Vierrademühle bei Neubrandenburg war urkundlich schon 1287 vorhanden 1 ). Damals also muß die Fischerinsel schon so feucht gewesen sein, wie sie jetzt ist. Nur in ausnahmsweise trockenen Jahren kann dieselbe überall ungehindert begangen werden. Der jetzige Fischereipächter hat allein 100 Kahnladungen Erde nach der Insel übergeführt, um nur neben dem Hause einen trockenen Platz zu gewinnen.


1) Ahlers Skizzen pag. 101.
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Es ist ganz sicher, Reste oder Spuren eines alten Walles giebt es auf der Insel nicht. Mit dieser sicheren Thatsache fällt nun schon jede Möglichkeit fort, daß auf der Insel ein slavisches castrum vorhanden gewesen sei nach Art der bekannten slawischen Burgwälle, von denen es bei uns in Wiesen und Sümpfen ja reichliche Beispiele giebt; derartiges ist auf der Insel sicher nie vorhanden gewesen.

Auch die Brücke und der aus derselben folgende Menschenverkehr nach der Insel liefern keinen Beweis dafür, daß hier gerade ein castrum Wustrow gestanden haben müsse. Die Brücke läßt doch entschieden eher an Rethra denken, als an castrum Wustrow. Nach Rethra führte eine Brücke hinüber, wie Adam ausdrücklich angiebt; Von dem castrum Wustrow kennt man nur allein den Namen. Was es sonst mit demselben für eine Bewandniß gehabt habe, wissen wir nicht. Ueber Beschaffenheit und speciell über die Lage desselben haben wir gar keine Nachrichten oder Anhaltspunkte, wie dies bei Rethra der Fall ist.

Aus dem Umstande, daß Wustrow Insel bedeutet, kann man auch nicht sicher darauf schließen, daß ein Theil des Ortes Wustrow auf der Insel gelegen habe. - Ohne alle Baulichkeiten ist z. B. die Insel im Plätlinsee, an dessen Ufern (südlich von Wesenberg) auch ein Ort Wustrow liegt.

Nach allem kann man nicht behaupten, daß Herr Archivrath Schildt dargethan habe, auf der Fischerinsel habe eine Burg nach Art der bekannten wendischen castra gestanden. Ueber castrum Wustrow kann man überhaupt nur Vermuthungen hegen.

Meine Vermuthung, was es mit dem castrum Wustrow etwa für eine Bewandniß haben könne, werde ich weiter unten angeben.

Bevor ich nun näher auf die Einreden eingehe, die Herr Archivrath Schildt gegen meine Ausführungen, daß Rethra auf der Fischerinsel gelegen habe, gemacht hat, will ich noch einige allgemeine Befragungen vorausschicken.

Herr Archivrath Grotefend sagt in seinen "Bemerkungen": Jeder Untersuchung über Rethra müsse zunächst die philologische Kritik vorausgehen. Das will ich nicht bestreiten; doch sind bei Untersuchungen über die Lage von Rethra jedenfalls Lokaluntersuchungen auch von großer, ja von der allergrößten Wichtigkeit. Dieselben werden, wenn man schließlich überhaupt die Stelle von Rethra wirklich feststellen will, zuletzt doch das entscheidende Moment in die Wagschale werfen. Allein in der Studirstube kann Rethra nicht gefunden werden.

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Alle Berichte, die wir über Rethra besitzen, sind nach Hörensagen niedergeschrieben, keiner der Berichterstatter ist jemals in Rethra selbst gewesen. Da nun Nachrichten, die sich von Mund zu Mund fortpflanzen, auch in der Gegenwart nicht allemal überall ganz zuverlässig sind, so werden auch wohl die Nachrichten der alten Chronisten nicht ganz haarscharf genaue Beschreibungen von Rethra und der Lage desselben enthalten. Die Berichte weisen ja auch dem Wortlaute nach wesentlich von einander ab. Unbedingt ohne alle Kritik wird man die Nachrichten nicht aufnehmen können. Daß aber auch jedenfalls viel Wahres, der Wirklichkeit Entsprechendes, in den Berichten steckt, muß man ebenfalls zugeben. - Unter diesen Umständen kommt es darauf an, in demjenigen Landstriche, der hier allein in Frage kommen kann, dem Lande der Redarier, die Oertlichkeit ausfindig zu machen, die am besten mit den Angaben der alten Chronisten übereinstimmt. Dort wird man dann Rethra zu suchen haben.

Wenn man die alten Berichte untereinander vergleicht, so muß man zu der Ueberzeugung kommen, daß von dem Lande der Redarier bald im engeren, bald im weiteren Sinne die Rede ist. Auf die Grenzen des Redariergaues im engeren Sinne werde ich weiter unten noch specieller eingehen. - Im weiteren Sinne muß das Redarierland auch den Gau der Tolenzer mit umfaßt haben. Werden doch von Helmold (I, 21) die Redarier und Tolenzer als identisch bezeichnet, indem er die Stämme Riaduri sive Tholenzi nennt. Daß beide Stämme in einem engeren staatlichen Verbande lebten, geht auch daraus hervor, daß sie ein gemeinsames Heiligthum, nämlich Rethra, hatten und daß sie gemeinsam Kriege führten. - Wenn sich demnach eine entsprechende Stelle für Rethra im alten Gau der Tolenzer auffinden ließe, so würde man - meiner Meinung nach - mit vollkommener Berechtigung dort Rethra annehmen dürfen. Ich habe deshalb auch bei meinen Nachforschungen über die Lage von Rethra die Seen in den benachbarten Meklenburg=Schwerinschen Landestheilen in den Kreis meiner Betrachtungen hineingezogen.

Rethra muß an oder in einem der Landseen im Lande der Redarier (im engeren oder weiteren Sinne) gelegen haben, soviel steht fest; - aber man kann noch einen Schritt weiter gehen und sagen, Rethra muß an einem Orte gelegen haben, der jetzt einen deutschen Namen hat, oder gar nicht benannt ist. Rethra kann namentlich nicht an einem Orte gelegen haben, der jetzt einen slavischen Namen trägt. Hierauf hat schon 1773 Buchholz, Pastor

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zu Lychen, in einer anonymen Schrift 1 ) hingewiesen, die gegen die Ansicht von Masch, Rethra habe auf der Stelle von Prillwitz gestanden, gerichtet ist. "Es ist unbegreiflich, - schreibt er, - daß die Sachsen, wenn sie an der Stelle von Rethra eine neue Festung bauen, und den alten wendischen Namen nicht behalten wollen, dieselbe mit einem neuen Namen aus eben der Sprache sollen belegt haben. Das war wider ihre Gewohnheit wo ihnen das Wendische nicht gefiel, da gaben sie deutsche Namen." Dem kann man nur beipflichten. An Orten mit wendischen Namen werden wir Rethra nicht suchen dürfen.

Nun kann man sich den Kreis der zu untersuchenden Punkte noch mehr verengen, wenn man bedenkt, daß nach Adam eine Brücke nach Rethra hinüberführte. Man kann also Rethra, oder wenigstens den Tempel von Rethra, nur auf einer Insel suchen. - Herr Archivrath Grotefend kommt freilich in seinen "Bemerkungen" zu einem anderen Resultat, nach ihm soll Rethra ganz auf dem Festlande gelegen haben. Ich halte diese Ansicht für verfehlt, und werde später noch einmal Gelegenheit haben, diesen Punkt zu besprechen. - Die Brücke, die Adam erwähnt, trägt ein zu charakteristisches Moment in die Beschreibung von Rethra hinein, als daß man annehmen dürfte, die Brücke sei rein aus der Luft gegriffen. Es ist ja sehr möglich, daß die späteren Chronisten die Berichte der früheren gekannt haben, wie Herr Archivrath Grotefend behauptet, wenn sie dann aber neue, besonders charakteristische Momente in die Angaben hineintragen, so muß man doch immer im Auge behalten, daß diese von anderweitig ihnen zugegangenen Nachrichten herstammen dürften. Ich bin nicht der Ansicht, daß es Herrn Archivrath Grotefend geglückt ist, die Brücke an die Seite zu schieben.

Nun kann man noch sagen, die Insel die zu Rethra gehörte, muß am Westufer eines Sees liegen, weil man nach Thietmar gegen Morgen an den See gelangte. So ist denn die Anzahl der Punkte, die man für Rethra zur Auswahl hat, eine ziemlich beschränkte.

Schon in meiner Jugend habe ich großes Interesse gehabt für Rethra und dessen fragliche Lage. Wenn ich die Berichte las, schienen mir immer Wustrow und die Fischerinsel die geeigneten Punkte für Rethra zu sein. Aber dann wurde mir gesagt, dort kann Rethra nicht gelegen haben, weil Wustrow im alten Gau der Tolenzer liegt, Rethra aber im alten Gau der Redarier lag.


1) Rethra und dessen Götzen. Sendschreiben eines Märkers an einen Mecklenburger über die zu Prillwitz gestundenen Alterthümer. Bützow und Wismar 1773.
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Als ich dann später selbständig mich mit der Rethrafrage befaßte, habe ich aus eigener Anschauung alle die Punkte kennen gelernt, die im Umkreise von 2 bis 3 Meilen um Neubrandenburg irgend einmal für Rethra gehalten worden sind, oder bei der Rethrafrage in Betracht kommen können.

Die größte Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß Rethra an der Tollense oder Liepz müsse gelegen haben, und es sind deshalb nach verschiedenen Uferpunkten dieser Seen Exkursionen bezüglich Rethras von Neubrandenburg aus unternommen worden. - An der Tollense haben wir die Oertlichkeit Wustrow=Fischerinsel untersucht und die Insel selbst angraben lassen. Zunächst sind jedoch beide Lokalitäten minder berücksichtigt worden, weil man noch unter dem Eindruck alter Anschauungen stand. - Gegraben haben wir am ausgiebigsten an der Liepz - namentlich im Liepzbruch, - auf dem Hanfwerder in der Liepz - und bei Prillwitz. Das Ergebniß war, daß wir uns sagen mußten, die Stelle von Rethra haben wir nicht gefunden.

Bei Nachforschungen über Rethra konnten dann noch in erster Linie in Betracht kommen der Rödliner See und der Wanzkaer See. Beide Seen sind von uns untersucht worden. - Die Inseln im Rödliner See sind erst in allerneuester Zeit durch Senkung des Seespiegels entstanden. - Im Wanzkaer See sind zwei Inseln, eine kleinere sumpfige und eine größere, die beackert wird, und am Westufer liegt. Wir haben letztere an vielen Punkten angegraben. Gefunden worden ist nichts. Die Insel ist nie bewohnt gewesen.

So waren alle Untersuchungen völlig resultatlos verlaufen. Aber hier in der Gegend von Neubrandenburg mußte Rethra doch gelegen haben.

Da wurde nun die Brücke aufgefunden, die vor Zeiten von Wustrow nach der Fischerinsel hinübergeführt hat. Das war ein wichtiger bedeutsamer Fingerzeig für Rethra, der genauere Nachgrabungen auf der Insel erforderlich machte, und mir die Veranlassung gab, die alten Berichte noch einmal einer genauen Prüfung zu unterwerfen.

Ich bin dann zu der Ansicht gelangt, die ich im 54. Bande dieser Zeitschrift näher begründet habe, daß Rethra kein größerer allgemein bewohnter Ort gewesen sein kann, daß vielmehr Rethra nur allein der Tempel war, der ganz isolirt auf der Fischerinsel stand. Dies ist auch heute noch meine sichere Ueberzeugung, nachdem ich meine Ansicht an den Entgegnungen der Herren Archivräthe Grotefend und Schildt habe prüfen können.

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Grundsätzlich oppositionell verhält sich Herr Archivrath Schildt gegen meine Ausführungen; er bemängelt alles, was ich doch nach reiflicher Erwägung niedergeschrieben habe. Was ihn zu dieser Opposition veranlaßt, ist die Befürchtung, daß Rethra ihm sein castrum Wustrow von der Insel verdrängen könne. Wir werden sehen, wie weit, und ob überhaupt die Einwendungen, die Herr Archivrath Schildt gegen meine Ausführungen vorgebracht hat, stichhaltig sind.

Wie ganz richtig bemerkt wird, basiren meine Erörterungen auf Thietmar, Adam und Helmold. Nun wird gesagt, daß ich die Nachrichten derselben soweit für zuverlässig und beweiskräftig halte, als sie für meinen Zweck zu passen scheinen, im übrigen würden sie von mir für falsch erklärt und "in das Reich der Fabel" verwiesen. - Ich wüßte nicht, daß ich eine andere Angabe der Chronisten beanstandet hätte, als die neun Thore, von denen Adam berichtet. Auf diese zielt Schildt auch offenbar hin, denn bei den 9 Thoren habe ich den Ausdruck gebraucht, sie gehörten in das Reich der Fabel. Ich habe die neun Thore aber doch nicht ohne Weiteres über Bord geworfen, sondern ich habe ausführlich die Gründe angegeben, weshalb mir die neun Thore verdächtig seien. Etwas Kritik über Nachrichten auszuüben, die nur nach Hörensagen niedergeschrieben sind, zumal wenn sie in sich Widersprüche enthalten, wie ich gezeigt habe, wird doch erlaubt sein. - In Bezug auf die Fraglichkeit und Unhaltbarkeit der neun Thore sekundirt mir ja auch Herr Archivrath Grotefend in seinen "Bemerkungen" in dankenswerther Weise, indem er nachweist, wie durch den Gebrauch des Wortes unaquaeque statt una das Mißverständniß mit den neun Thoren entstanden sein werde (Jahrbücher LIV, pag. 176).

Herr Archivrath Schild giebt dann zunächst in seiner Entgegnung als Gründe an, weshalb Rethra nicht auf der Fischerinsel gelegen haben könne.

1) Wustrow castrum cum villa habe nicht im Gau der Redarier gelegen. Auf diesen Punkt komme ich sogleich zu sprechen, und ferner sagt er:

2) Ein wendischer Ort, der sonst den Namen Rethra führte, kann nicht später Wustrow genannt sein. Der Name Rethra konnte in einen anderen wendischen so schwer verwandelt werden, daß ich an diese Möglichkeit nicht glaube, bis ich unumstößliche Beweise dafür habe. - Aber ich habe ja auch gar nicht behauptet, daß speciell Wustrow Rethra sei! Nach meiner Darlegung ist die Fischerinsel allein Rethra.

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Nun behauptet Herr Archivrath Schildt, meine Angabe, die Fischerinsel habe im alten Gau der Redarier (im engeren Sinne) gelegen, sei falsch. Es wird mir der Rath ertheilt, mich zu belehren aus unseren Jahrbüchern Band VII, pag. 1-19, und aus Boll "Stargard" I, pag. 48. - In den Jahrbüchern steht an der citirten Stelle auch nicht eine Silbe über die Grenzen des Radver. Ich vermuthe, daß Jahrbuch III, 1-19, gemeint ist. Dort bezeichnet Lisch ganz im Allgemeinen die Tollense als die Grenze des Radver; ob das Ost= oder Westufer derselben gemeint sei, wird nicht gesagt. - Boll spricht an der bezeichneten Stelle über die natürlichen Grenzen des Landes Stargard und bezeichnet als solche: "das breite Wiesenthal von der Pommerschen Grenze bis Neubrandenburg herab, dann den See Tollense, die Liepz und den auf der Feldmark von Weisdin entspringenden und in die Liepz laufenden Bach". Ueber eine specielle Grenzlinie spricht sich Boll an dieser Stelle nicht aus. Daß Franz Boll nun nicht gerade das Ostufer der Tollense und Liepz als Grenze des Radver betrachtet, hätte Herr Archivrath Schildt aus der von ihm in »castrum Wustrow« (Jahrbücher LII, pag. 30) citirten "Beschreibung der Tollense von Ernst Boll" ersehen können. Der in dieser Abhandlung vorkommende Aufsatz "über die Lage von Rethra bei Prillwitz und über die sogenannten Prillwitzer Idole" ist ganz allein, - wie dies auch Ernst Boll angiebt, - aus der Feder von Franz Boll geflossen. Boll spricht in diesem Aufsatz die Ansicht aus: Rethra dürfte auf der tief in die Liepz einschneidenden Halbinsel des Liepzbruches gelegen haben. Die Halbinsel des Liepzbruches hat nun in der Liepz die gleiche Lage, wie die Fischerinsel in der Tollense, d. h. beide liegen dem Westufer näher, als dem Ostufer. Bolls Ansicht spricht also für mich, nicht für Herrn Schildt. - Nun habe ich aber auch noch einen ganz bestimmten Grund, der mich veranlaßt, die Grenze zwischen Radver und Tolenz am Westufer der Tollense zu suchen. Daß die terra Wustrowe, die in dem Vertrage von Cremmen genannt wird, ein Theil der alten Provinz Tolenz, und zwar der am weitesten östlich gelegene war, wird man nicht bestreiten können, und da kann ich denn die eigenen Worte des Herrn Archivraths Schildt als Beweis für die Richtigkeit meiner Ansicht anführen. "Das Land Wustrow," - sagt er (Jahrb. 52, pag. 32), - "lag an dem ganzen Westufer des Tollense=Sees". Wenn hier also die Ostgrenze von Tolenz war, muß hier die Westgrenze des Radver gewesen sein.

Es hat sicher Schwierigkeiten, aus so alter Zeit eine ganz bestimmte Grenzlinie festzustellen. In der Rethrafrage ist - nach

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meiner Ansicht - ein Streit über eine specielle Grenze zwischen Tolenz und Raver ziemlich gegenstandslos. Man bedenke, daß Helmold die Einwohner beider Gaue als identisch bezeichnet, und die Gauen selbst einen staatlichen Verband hatten, wie dies bereits oben erörtert wurde.

Zu meiner Ausführung, Rethra müsse nahe der Grenze von Tolenz und Radver gelegen haben, und eine solche Lage habe die Fischerinsel, schreibt Herr Archivrath Schildt: "Dies lasse ich gerne gelten", aber als tadelnde Bemerkung setzt er dann noch hinzu: "Dies hat die Fischerinsel mit manchen anderen Orten gemein, und zweitens steht es noch nicht unzweifelhaft fest, daß Rethra an der Gaugrenze gelegen hat." Abgesehen von dem Widerspruch, den die Worte des Herrn Schildt selbst in sich tragen, so wird durch dieselben doch nicht die Tatsache widerlegt, daß gerade die Fischerinsel (und von dieser spreche ich nur) nahe der Grenze der Gaue gelegen hat. Herr Schildt mag sich die Grenzen denken wie er will, das wenigstens wird er immer zugestehen müssen, daß westlich von der Tollense Tolenz war, und östlich Radver. Die Breite der Tollense bei der Fischerinsel kann allerhöchstens 2,5 Kilometer betragen. Die Insel lag also sicher in der Nähe der beiderseitigen Gaugrenzen.

Zu meinem Hinweis darauf, daß Rethra auf der Fischerinsel auch die vom Chronisten angegebene insulare Lage habe, sagt Herr Schildt, daß er dies unbedenklich zugeben könne, fügt dann aber noch die Bemerkung hinzu, eine insulare Lage habe auch jede andere Insel. Diese Thatsache bestreite ich gewiß nicht, aber sie widerspricht doch nicht dem, daß gerade die Stelle, die ich für Rethra halte, eine insulare Lage hat.

Daß nun die Insel, auf der Rethra stand, in einem großen See müsse gelegen haben, habe ich daraus herzuleiten gesucht, daß Thietmar für den betreffenden Landsee den Ausdruck mare gebraucht, dazu schreibt Herr Schildt mit gänzlicher Umgehung des Wortes mare: "Die Lage in einem großen See mag in Bezug auf Adams: undique lacu profunde inclusa halbwegs gelten, wenn man es nicht so genau nimmt. Sonst ist für den Begriff profundus das Wasser zwischen der Fischerinsel und dem Westufer nicht tief genug, und profundus selbst mit "groß" nicht gerade genau übersetzt". - (Herr Schildt übersieht, daß der "große" See allein aus dem Worte mare zu folgern ist, und zwar deshalb, weil Thietmar für einen Landsee diesen Ausdruck gebraucht). - "Mit Thietmars Bericht, - fährt Herr Schildt fort, - ist aber für die Fischerinsel keine Uebereinstimmung vorhanden, und

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Helmold sagt nichts von einem großen See und von einer Insel in demselben". - Glaubt etwa Herr Schildt, daß Thietmar, Adam und Helmold verschiedene slavische Tempelstätten bei ihren Beschreibungen im Sinne haben? Daß alle dasselbe Heiligthum beschreiben, wenn sie auch verschiedene Nachrichten über dasselbe hatten, daran ist mit Grund doch nicht zu zweifeln. - Daß nun aber gerade alle so verschieden lautenden Nachrichten mit der Fischerinsel, Wustrow gegenüber, in den wesentlichen Punkten zusammenstimmen, darin liegt mit der stärkste Beweis dafür, daß ich die Stelle von Rethra richtig angegeben habe.

Mit diesem Zusammenstimmen aller Nachrichten über Rethra hängt es nun auch zusammen, daß die Insel Rethra an dem Westufer eines Sees gelegen haben muß, welches, wie Herr Schildt sagt, Adam und Helmold nicht verlangt haben. - Die Entdeckung, daß die Insel Rethra am Westufer eines Sees müsse gelegen haben, ist nicht mein Verdienst es hat darauf der verstorbene Archivrath Beyer zuerst aufmerksam gemacht. Ich werde mich hier kurz fassen können. Man möge die Gründe, die Beyer bestimmt haben, und denen ich vollständig beistimme, nachlesen in unseren Jahrbüchern Band 32, pag. 136.

Daß eine Brücke slavischer Anlage nach der Insel hinüberführte, giebt Herr Schildt zu, aber er betrachtet diese Brücke als einen Beweis dafür, daß auf der Insel das castrum Wustrow, und nicht etwa der Tempel Rethra lag. - Vom castrum Wustrow wird nun aber nirgends berichtet, daß dorthin eine Brücke führte, während wir doch sicher diese bestimmte Nachricht über Rethra haben. Da wird jeder Unbefangene doch sagen müssen, die Brücke legt entschieden ein bedeutendes Gewicht für Rethra in die Wagschale, nicht aber für castrum Wustrow, über dessen Beschaffenheit und specielle Lage man überhaupt nur Vermuthungen hegen kann. Meine Vermuthungen, was es etwa mit dem castrum Wustrow für eine Bewandniß möge gehabt haben, werde ich weiter unten mittheilen.

Die urbs tricornis des Thietmar habe ich auf Wustrow bezogen und gesagt, daß in Folge der Terrainbeschaffenheit der dortigen Gegend die Gebäude des Ortes, der hier zur Slavenzeit stand, ebenso eine winkelförmige Stellung gehabt haben dürften, wie jetzt die Gebäude von Wustrow, und daß man deshalb wohl gesagt haben könne, der Ort sei tricornis. Dazu bemerkt Herr Schildt: "ebensogut ist es nach meiner Ansicht mancher Ort". Aber von manchen anderen Orten ist doch nicht die Rede. Ich spreche doch überall immer nur speciell von den örtlichen Verhält=

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nissen bei Wustrow und der Fischerinsel, und suche die Uebereinstimmung der dortigen Verhältnisse mit den Beschreibungen von Rethra nachzuweisen.

Nach Thietmar muß man bei Rethra von einem am Ufer liegenden Orte gegen Morgen an den See gelangen. Das ist nun bei Wustrow der Fall, und die Lage entspricht somit der alten Nachricht; aber, sagt Herr Schildt: "das ist bei allen Orten der Fall, die am Westufer eines Sees liegen." - Das ist nun wieder dieselbe Entgegnung, auf die wir schon mehrfach gestoßen sind! Es handelt sich ja doch nicht um alle möglichen Orte; es soll doch nur immer von mir für die Lokalität Fischerinsel=Wustrow nachgewiesen werden, daß gerade hier die örtlichen Verhältnisse mit den Berichten der Chronisten zusammenstimmen. Herr Schildt kommt aber immer wieder mit derselben Einrede hervor.

Wenn ich als Beweis, daß eine slavische Anlage auf der Insel vorhanden gewesen sein muß, anführe, daß wir dort slavische Scherben gefunden haben, so meint Herr Schildt: "slavische Reste finden sich meist überall, wo einmal Slaven gewohnt haben." Diese Entgegnung hat wieder große Familienähnlichkeit mit früheren und der, die wir soeben betrachtet haben. - Durch die Auffindung der slavischen Scherben auf der Fischerinsel soll ja eben nur erhärtet werden, daß gerade dort Slaven waren.

Wenn ich auf den großen Wald zu sprechen komme, von dem nach Thietmars Angabe Rethra rings umgeben war, und auf die schönen Waldungen hinweise, die heute noch die Tollense größtentheils umgeben, so beliebt Herr Schildt die Waldungen Bäume zu nennen, und zu sagen: "Reste eines großen Waldes kann es auch anderswo gebend - Dies ist nun wieder dieselbe Einrede, die uns bereits hinreichend bekannt ist. - Schließlich glaubt Herr Schildt auch noch bezweifeln zu sollen, daß bei Wustrow überhaupt früher mehr Wald gewesen sei, wie jetzt. Er fragt: "Wann ist der Wald um Wustrow ausgerodet, dessen Raum jetzt große Kornfelder und Wiesen einnehmen?" Wenn man die Schmettausche Karte vom Jahre 1793 mit der neuen Generalstabskarte vergleicht, wird man sich überzeugen, welche ansehnliche Waldfläche allein in den letzten 100 Jahren bei Wustrow verschwunden ist. Ich selbst habe noch einen Wald ganz in der Nähe des Dorfes gekannt, der erst in den letzten 40 Jahren beseitigt wurde und jetzt Acker ist.

Ueber die isolirte slavische Baustelle auf der Insel bemerkt Herr Schildt, er sei bei der Excursion am 4. Juni 1887 zugegen gewesen, und wisse, daß damals nur einige wenige Stellen durch Grabung untersucht seien. - Nur einmal allerdings hat uns Herr Schildt

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bei unseren Excursionen mit seiner Gegenwart beehrt; wenn er aber den Bericht über eine Excursion puncto Rethra einsehen wollte, der von mir in den Verhandlungen der Berliner anthropolog. Gesellschaft 1883, pag. 34 ff. Veröffentlicht ist, wird er sich überzeugen (pag. 40), daß wir auch sonst noch auf der Insel haben graben lassen.

Schließlich bestreitet Herr Schildt auch noch, daß die Anzahl der Tagereisen, die nach Adam Rethra von Hamburg entfernt sein soll, mit der Fischerinsel stimmt Adam giebt an 4 Tagereisen bis Rethra (II, 18), und 7 Tagereisen bis Jumne=Wollin (II, 19). Gelangte man in 7 Tagen bis Wollin, konnte man bestimmt in 4 Tagen die Tollense erreichen. - Herr Schildt aber sagt, bis an die Fischerinsel müsse man wenigstens 8 Tagereisen veranschlagen, und der Annalista Saxo gebe bis Rethra 14 Tagereisen an. - Ich muß gestehen, es ist mir nicht recht verständlich, was Herr Schildt mit seiner Einrede bezweckt. Will Herr Schildt damit beweisen, daß entweder Rethra an einem Punkte zu suchen sei, der etwa in der Mitte liegt zwischen der Tollense und Hamburg oder will er Rethra nach Hinterpommern verlegen?

Bei Gelegenheit der kritischen Besprechung einer archäologischen Excursion nach Feldberg i. M. hat Virchow (Verhandlungen 1881, pag. 272) nach Winter (die Prämenstratenser, Anhang 14) die Stationen der Tagereisen von Hamburg nach Jumne angegeben:

1. Tagereise bis Ratzeburg,
2. " " Schwerin,
3. " " in die Gegend Güstrow=Krakow=Malchow,
4. " " Broda am Tollensesee,
5. " " Pasewalk,
6. " " Stettin,
7. " " Jumne=Wollin.

"Eine Tagereise - sagt Winter - war wirklich ein objectives Längenmaß. Man mußte seine Tagereisen nach den Stationen einrichten, die man auf der Straße hatte, und an denen man für die Nacht Obdach fand."

Es sind nun alle Einreden des Herrn Schildt gegen meinen Aufsatz über Rethra der Reihe nach betrachtet worden. Ich überlasse es dem Urtheil anderer, ob Herr Schildt mit seinen Einreden glücklich gewesen ist oder nicht.

Herr Schildt hat seine "Entgegnung" offenbar in der Meinung geschrieben, ich wolle durch Rethra das castrum ganz von der Insel verdrängen. Das ist nun nicht der Fall. Herr Schildt citirt in seiner "Entgegnung" einen Aufsatz von mir, der in den

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Verhandlungen der Berliner anthropologischen Gesellschaft 1887, pag. 492 ff. abgedruckt ist, und behauptet, auch dort habe ich auf seine Ausführungen über castrum Wustrow keine Rücksicht genommen. Er kann diesen Aufsatz unmöglich aufmerksam gelesen haben. Ich habe in jenem Aufsatze zunächst der Auffindung der Brücke (mit Hinweisung auf die Arbeit des Herrn Schildt über castrum Wustrow) gedacht, und spreche dann meine Vermuthung darüber aus, was es etwa mit dem castrum für eine Bewandniß gehabt haben könne. - Von einem castrum Wustrow ist erst die Rede nach der Zerstörung des Tempels Rethra, und da konnte man vielleicht annehmen, daß die schöne Brücke Veranlassung gegeben habe, auf dem Grunde des alten Tempels ein Gebäude zu errichten, welches man wegen seiner minder zugänglichen Lage eine Burg nannte. Ich kam zu dieser Vermuthung durch eine Angabe in Bolls Chronik von Neubrandenburg (pag. 83). Ich habe die dort verzeichnete Nachricht in dem oben citirten Aufsatze (Verhandl. 1887, pag. 496), wie folgt, mitgetheilt: "In den Zeugenverhören - vom Jahre 1602 und 1603 - in dem Processe des Raths zu Neubrandenburg gegen die Landesherrschaft wird der Burg auf dem Werder in der Tollense gedacht; nannte man zu Anfang des 17. Jahrhunderts - und wahrscheinlich noch in Folge von Tradition - das auf der Insel stehende Gebäude eine Burg, so kann hier nur an Burg Wustrow gedacht werden". Aber an eine Burg nach Art der bekannten slavischen Wallburgen durfte nicht gedacht werden, weil durchaus keine Spuren einer Umwallung vorhanden sind. - Was 1602 auf der Insel Burg genannt wird, war ein dem Fischereibetriebe dienendes Haus, ähnlich dem, welches jetzt dort steht.

Daß das castrum Wustrow auf der Fischerinsel zu suchen sei, hat bereits Beyer (Jahrb. XXXVII, pag. 63) angenommen. Er hält castrum Wustrow und die Tempelburg Thietmars und Adams für identisch.

Zwischen meiner und Beyers Hypothese über castrum Wustrow hat man die Wahl. Ich bin neuerdings mehr geneigt, Beyers Annahme für die richtige zu halten. Es ist sehr wohl möglich, daß man den Tempel Rethra nach Analogie anderer Tempelburgen auch eine Tempelburg genannt hat, obgleich er von einem Walle nicht umgeben gewesen sein kann.

Die "Bemerkungen" des Herrn Archivrath Grotefend habe ich mit besonders großem Interesse gelesen" allein mit dem Endresultat, zu dem Herr Archivrath Grotefend gelangt, bin ich doch nicht einverstanden.

Ich will mir erlauben, einige Punkte in seinen Ausführungen näher zu besprechen. - Ich will nicht darüber streiten, ob statt

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visu nimis horribile, wenn meine Uebersetzung richtig wäre, es, wie Herr Grotefend sagt, dann dort heißen müßte horribilia; ich will einmal zugeben, daß horribile Adjectivum, und selbstverständlich auf mare zu beziehen ist. Dann lautet also die Uebersetzung von: tertia (porta) tramitem ad mare juxta positum et visu nimis horribile monstrat: das dritte Thor führt hin auf einen Weg zum nahe liegenden, schrecklich anzublickenden mare. Was ist nun das schrecklich Anzublickende an dem mare? Sicherlich doch der Götzentempel, der in dem See liegt. Damit wäre man also genau wieder zu derselben Bedeutung der Worte gelangt, die Bolls von mir acceptirte Uebersetzung giebt. Grotefend meint zwar, die Tollense müsse früher, als sie noch überall von "einer silva ab incolis intacta et venerabilis - einem Urwalde - umgeben" war, einen ganz anderen Anblick, und da es sich hier um den Ausdruck visu horribile handelt, also einen schrecklichen Anblick gewährt haben; man könne von der jetzigen Umgebung des Sees nicht auf den Eindruck schließen, den der Anblick des Sees in der Vorzeit gewährt habe. Darauf habe ich zu erwidern, daß die Tollense an beiden Ufern noch größtentheils von bewaldeten Höhen begrenzt ist, und daß es dort mehrere vielbesuchte Aussichtspunkte giebt, von denen aus man nur Himmel, Wald und Wasser sieht, - von denen aus man also ganz denselben Anblick hat, wie er in der Vorzeit gewesen sein muß. Ich habe noch nie Jemand gefunden, der diesen Anblick schrecklich oder schaudervoll genannt hätte. Man kann das schön, großartig, erhaben nennen, nimmermehr aber schrecklich oder schaudervoll. So wird denn wohl, - zumal wenn der Berichterstatter, der den Ausdruck horribili bei der Beschreibung der Stätte des slavischen Götzenkultus gebraucht, ein christlicher Domherr ist, - die natürlichste und ungezwungenste Erklärung des mare visu nimis horribile immer die bleiben, daß dem Chronisten das Schaudervolle an dem See der Anblick des Götzentempels war, den man vom Lande aus erblickte.

Herr Archivrath Grotefend meint auch, Rethra müsse mitten in einem großen Urwalde und nicht dicht am Wasser gelegen haben. Mit dieser Auffassung scheinen mir die Worte Thietmars: »mare juxta (junxta) positum« nicht vereinbar zu sein, denn sie besagen doch, daß die beschriebene Oertlichkeit hart am Wasser lag.

Auch dem, Was Herr Archivrath Grotefend über das kleinste Thor gesagt hat, und dessen schwere Zugänglichkeit, weil man es nur über ein sumpfiges Ufer und im Einbaum hatte erreichen können, auch dem kann ich nicht beipflichten. - Die Slaven, welche überhaupt Ansiedelungen in Wiesen und Sümpfen liebten, waren be=

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sonders gute Wasserbaumeister, - man denke an die einen halben Kilometer lange Brücke vom Festlande nach der Fischerinsel, - und da sollten sie nicht im Stande gewesen sein, wenn auch über ein sumpfiges Ufer, durch ein kleines Steg sich die Landung leicht zu machen?

Das Fahren im Einbaum darf man sich auch nicht besonders gefahrvoll vorstellen. In meiner Jugend noch wurde die Fischerei auf der Tollense nur im Einbaum betrieben. Ich selbst habe als heranwachsender Knabe den Einbaum gelenkt, auch bei minder gutem Wetter. Daß jemals mit dem Einbaum auf der Tollense Unglück vorgekommen sei, habe ich nie vernommen. - Von der Wasserseite aus war das kleinste Thor bestimmt ebenso leicht zu erreichen, wie von der Landseite. Die unsichere Landung war nicht der Grund, der es weniger zugänglich machte. Ich halte deshalb noch immer das, was Herr Archivrath Grotefend einen circulus vitiosus zu nennen beliebt, für den geraden und richtigen Weg nach Rethra. Man ging durch die beiden großen Thore in den Ort hinein, und durfte das kleinere Thor nach dem Tempel zu nur passiren, wenn man opfern, oder Orakel vernehmen wollte.

Ein sehr schweres bedenken erregt es, daß Grotefend die Insel und die Brücke, von denen Adam spricht, für Rethra ganz beseitigen will. Grotefend meint, Adam habe seine Nachrichten aus Thietmar (in der glossirten Text=Ueberlieferung des Corveyer Codex) geschöpft, und dabei habe er den Wald ganz "weggelassen", und aus dem mare in Verbindung mit dem schwer zugänglichen Thore eine Wasserumgürtung "gemacht", und eine Brücke "beigegeben".

Selbst, wenn Adam den Thietmar benutzt hätte, so kann man doch nicht annehmen, daß ein Domherr, dem man doch einen angemessenen Bildungsgrad wird zugestehen müssen, die Nachrichten, die er vor sich hatte, in so völlig entstellter Form wiedergegeben habe. Nun meint doch auch Grotefend selbst, daß Adam in Bezug auf den Namen des Götzen ein "besseres Wissen" gehabt habe, als Thietmar. Warum soll er nicht in Bezug auf andere Nachrichten auch besser unterrichtet gewesen sein? Stimmt doch die Lokalität, die ich als Rethra bezeichne, - speciell in Bezug auf insulare Lage und Brücke, - vollständig mit den Angaben Adams überein.

Wattenbach, den auch wohl Grotefend als einen unserer bedeutendsten Geschichtsforscher anerkennen wird, hat über Adam als Schriftsteller andere Anschauungen, wie Herr Grotefend. Wattenbach in seinem "Deutsche Geschichtsquellen im Mittelalter" (II, pag. 58), führt alle Quellen an, die Adam bei Ausarbeitung seiner Hamburger Kirchengeschichte benutzt hat, - (Thietmar ist nicht darunter) -

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und bemerkt über Adams Werk (pag. 59): "ein großer Theil desselben ist eine Frucht gelehrter Studien, und mit Fleiß und Sorgfalt aus den eben berührten Quellen, die er stets gewissenhaft anführt, zusammengesetzt. Je mehr er sich dann seiner eigenen Zeit nähert, desto reicher werden seine Mittheilungen aus mündlicher Ueberlieferung, zuletzt aus eigener Erfahrung und Kenntniß". - Adam starb 1075; die letzte Zerstörung Rethras geschah erst im Jahre 1150, der Götzendienst zu Rethra bestand also noch bei Adams Lebzeiten. Da kann es doch nicht zweifelhaft sein, daß seine von Thietmar abweichende Nachrichten ihm von anderer Seite her zugegangen sein müssen. Wird doch seine Sorgfalt als Schriftsteller von Wattenbach ausdrücklich hervorgehoben.

Nun gelangt Grotefend durch völlige Beiseiteschiebung des Adam und alleinige Betonung Thietmars zu seinem Resultat: Rethra müsse allein auf dem Festlande gelegen haben. Dies Resultat, zu dem Herr Grotefend gelangt, ist, weil auf einseitigen Nachrichten gestützt, nach meiner Ueberzeugung verfehlt.

Meine Untersuchungen über Rethra haben, - wie bereits angegeben wurde, - zu dem Ergebniß geführt, daß Rethra kein größerer allgemein bewohnter Ort gewesen sein kann, daß vielmehr Rethra nur allein der Tempel war, der ganz isolirt auf der Fischerinsel stand. Dies Resultat meiner Untersuchungen entspricht sowohl den Angaben Thietmars, als auch denen Adams und Helmolds. Ich habe dies im 54. Bande dieser Zeitschrift ausführlich und eingehend begründet.

Nachdem ich alle Orte, die bei der Rethraforschung in Betracht kommen können, aus eigener Anschauung kennen gelernt habe, hat sich für mich die vollkommen feste Überzeugung ergeben: die Fischerinsel ist die einzige Stelle, an welcher der Tempel Rethra gestanden haben kann.

Wenn man meinen Ausführungen keinen Glauben schenken will, sollte man sich bemühen an Ort und Stelle eine andere Lokalität nachzuweisen, die besser mit den Angaben der Chronisten harmonirt. Daß man dies nicht können wird, dessen bin ich vollkommen sicher.

An einer ferneren Discussion über Rethra werde ich mich schwerlich weiter betheiligen. Ich halte dies für unfruchtbar. Jeder der Herren wird wohl zunächst bei seiner Meinung beharren wollen. Ich für meine Person bin fest überzeugt, daß meine Ansicht die richtige ist, und will ich getrost deshalb die endgültige Klärung der Zukunft überlassen.

 

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A uf die vorstehende Abhandlung glaube ich erwidern zu müssen, daß ich es dem Urtheil der Leser überlassen kann, zu entscheiden, ob ich in meinem Aufsatz im Jahrbuch 54 (S. 168-174) zu dem gereizten Ton, den Herr Medicinalrath Dr. Brückner gegen mich anschlägt, Veranlassung gegeben habe.

Für diejenigen Leser, welchen meine Arbeit nicht zur Hand ist, möchte ich bemerken, daß ich Ausdrücke, wie z. B. "die Untersuchungen nicht gewürdigt," nicht gebraucht, auch dem Herrn Medicinalrath nicht "den Rath ertheilt" habe, sich "zu belehren", wie es nach dessen Darstellungen (S. 261 und 268) scheinen muß. Auch habe ich mich nicht "grundsätzlich oppositionell" gegen die B.'schen Ausführungen verhalten, wie der Herr Medicinalrath (S 267) behauptet, denn dann hätte ich am Schlusse meines Aufsatzes nicht sagen können: "Vielleicht findet Herr Rath Brückner bei seinem eifrigen Forschen neue Beweisgründe und überzeugt mich durch dieselben zu seiner Ansicht. Ich würde ihm dann sehr dankbar sein, denn ich halte die Fischerinsel an sich für einen recht passenden wendischen Tempelplatz und möchte es ganz gern glauben, daß sie die Stelle des berühmten Radegasttempels war."

Da nun in der vorstehenden B.'schen Abhandlung neue Beweisgründe für das Fischerinsel=Rethra nicht gebracht sind, so bleibe ich immer noch, wie der Herr Medicinalrath dies übrigens auch im Voraus (S. 276) annimmt, bei meiner alten Ansicht, die sich eben nur durch Gründe ändern läßt.

Fr. Schildt.     

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H err Rath Brückner sagt in seiner vorstehenden Schrift: "Allein in der Studirstube kann Rethra nicht gefunden wergen". Mit diesem Ausspruche bin ich durchaus einverstanden, deshalb überließ ich auch (Band LIV, S. 180) das Suchen "den des Ortes und des Alterthums Kundigeren", aber ich forderte vor allem Suchen philologische und historische Kritik der überliefernden Quellen, um zu wissen, was in der Natur zu suchen sei. Einer solchen Kritik aber entspricht es nicht, wenn man die Quellen nicht aus ihnen

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selbst heraus beurtheilt. sondern, durch Ortsbeobachtungen voreingenommen, aus den zum Theil sich widersprechenden Quellen nur das zu diesen Ortsbeobachtungen stimmende herausgreift, den Rest als werthlos bei Seite läßt.

Das wollte ich vermieden wissen, als ich philologische und historische Quellenkritik forderte, und ich wollte deshalb versuchen, meinerseits den durch diese Hülfsmittel zu ermittelnden Kern der Quellen darzulegen. Zu entscheiden, ob es mir gelungen, steht selbstverständlich den Lesern der Jahrbücher zu. Daß ich nicht alle Leser überzeugen würde, habe ich vorausgesetzt, umsomehr aber konnte ich meine Ansicht denen nicht vorenthalten, die ohne Voreingenommenheit der Frage gegenüberstehen.

Daß dieses die Mehrzahl der Leser ist, glaubte ich und glaube ich auch noch, voraussetzen zu dürfen.

Grotefend.     

 

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