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I.

Bericht des Ibrahîm ibn Jakûb

über die Slawen

aus dem Jahre 973,

mitgetheilt von Dr. F. Wigger .


N achdem ich im Jahre 1859 in dem ersten Hefte meiner "Meklenburgischen Annalen" alle mir bis dahin bekannt gewordenen Nachrichten über die meklenburgischen Wenden bis zum Jahre 1066 vereinigt hatte, habe ich 20 Jahre lang vergeblich nach irgend nennenswerthen Nachträgen ausgeschaut. Jetzt ist aber endlich in einem akademischen Vortrage des Herrn de Goeje, Professors der arabischen Sprache an der Universität zu Leiden, * ) ein neuer Bericht über die wendischen Völker aus dem zehnten Jahrhundert an den Tag getreten, der sowohl durch seinen Ursprung, als durch seinen Inhalt so merkwürdig erscheint, daß ich nicht unterlassen kann, die Freunde der meklenburgischen Geschichte mit demselben - mit Genehmigung des Herausgebers - bekannt zu machen.


*) Wir benutzten einen Separatabdruck unter dem Titel: "Een belangrijk arabisch Bericht over de Slawische Volken omstreeks 965 n. Ch. door M. J. de Goeje. Overgedruckt uit de Verslagen en Mededeelingen der Koninklijke Akademie van Wetenschappen, Afdeeling Letterkunde, 2 de Recks, Deel IX. Amsterdam, 1880". 8°. - Die russische Ausgabe des Barons Rosen mit Excursen Von Kunik ist mir nicht zugänglich geworden.
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Nämlich in einer Handschrift von einem geographischen Werke des spanisch=arabischen Schriftstellers Abû Obeid al=Bekri (aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts), welche Ch. Schefer in einer Bibliothek zu Constantinopel entdeckte und abschrieb, fand der Professor de Goeje unter vielen Auszügen aus den Werken des Mas'ûdî., der um 948 schrieb, auch andere aus anscheinend nicht mehr erhaltenen Schriften, und namentlich einen umfänglichen Bericht über die Slawenvölker, welchen ein sonst nicht bekannter Jude Namens Ibrahîm ibn Jakûb (d. h. Abraham Jakobs Sohn) zur Zeit Kaiser Ottos I., zum Theil offensichtlich aus eigener Anschauung, erstattet hat.

Den vereinten Bemühungen des Professors de Goeje und zweier Petersburger Gelehrten, Kunik's und Frh. von Rosen, ist es nun gelungen, manche Verderbnisse des arabischen Textes, besonders in den Namen, aufzudecken und zu verbessern; und de Goeje hat darauf in der erwähnten akademischen Abhandlung eine holländische Uebersetzung mit vielen Erläuterungen veröffentlicht, welcher wir bei eigener Unkenntniß der arabischen Sprache folgen.

Das Räthsel, wie ein arabisch schreibender Israelit des 10. Jahrhunderts zu den Wenden im Nordosten Deutschlands gelangt sei, hat Herrn de Goeje vielfach beschäftigt. Aus mehreren sprachlichen Spuren in dem Berichte schließt er, daß Ibrahîm Heimath Spanien gewesen sei, und da es feststehe, daß Bekri, der diesen Theil seines Werkes 1066 geschrieben, officielle Actenstücke in Cordova zu benutzen Gelegenheit gefunden habe, so möge er dort diesen Bericht Ibrahims entdeckt haben. Nun wissen wir freilich aus dem Widukind (III, 56), daß der König Otto I. nach seinem großen Siege über die Magyaren im Jahre 955 auch eine Gesandtschaft von Saracenen empfing; aber de Goeje glaubt doch nicht, daß Ibrahim an dieser theilgenommen habe. Und mit Recht; denn Ibrahîm nennt in seinem Berichte Otto schon "den römischen König" (oder "Kaiser", denn auch den oströmischen Kaiser bezeichnet er als "König"), er hat denselben also sicher erst nach 963 gesprochen; es ist aber nicht wahrscheinlich, daß ein Mitglied jener Gesandtschaft 10 Jahre lang in Deutschland zurückgeblieben sein sollte. Der holländische Gelehrte entscheidet sich vielmehr dafür, daß Ibrahîm als ein ansehnlicher Kaufmann in Handelsangelegenheiten Deutschland aufgesucht habe, daneben jedoch von dem spanischen Herrscher auch mit diplomatischen Aufträgen betraut gewesen sein möge.

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Mit dem terminus a quo, welchen de Goeje hier annimmt, sind wir einverstanden, in die Jahre des "römischen Kaisers Otto" I., 963-973, fällt gewiß die Reise Ibrahîm's nach Deutschland, wo er nach seiner eigenen Angabe "die bulgarischen Gesandten in der Stadt Merseburg gesehen" hat, "da sie zum Könige Otto kamen". Dann begrenzt sich die Zeit aber noch näher dadurch, daß der Kaiser nach seiner Rückkehr aus Italien erst im Juni 965 Sachsen wiedersah und, nachdem er im August 966 noch in Merseburg verweilte, abermals nach Italien aufbrach, nachher aber erst im Frühling 973 nach Sachsen zurückkehrte, wo er zu Quedlinburg das Osterfest (23. März), in Merseburg (1. Mai) das Himmelfahrtsfest beging. Nun entscheidet sich de Goeje für den ersten Zeitraum, indem er äußert, Ibrahîm sei zu Merseburg "um 965" gewesen. Dieser Ansicht können wir jedoch darum nicht beipflichten, weil wir von einer bulgarischen Gesandtschaft an Kaiser Otto I. aus dem Jahre 965/966 keine Nachricht haben; wir entscheiden uns vielmehr für den Frühling 973.

Denn die Hildesheimer Annalen, Lambert und Thietmar (II, 20). berichten einstimmig, daß dem Kaiser, als er das Osterfest 973 zu Quedlinburg feierte, Gesandte der Griechen, der Beneventaner, der Ungarn, der Bulgaren, der Dänen und der Slawen Geschenke überbrachten, Lambert nennt auch noch italische und "russische" Gesandte, und nach Thietmar waren auf des Königs Geheiß auch die Könige von Böhmen und von Polen, Boleslaw II. und Mießko (bei Ibrahîm Boreslaw und Misjko) dorthin gekommen. Widukind (III, 75) begnügt sich freilich damit, anzugeben, daß in Quedlinburg "eine Menge verschiedener Völker zusammengekommen" seien, fügt dann aber, was für uns von Wichtigkeit ist, hinzu, der Kaiser sei schon nach einem Aufenthalt von nur 17 Tagen aus Quedlinburg wieder aufgebrochen, um in Merseburg das Himmelfahrtsfest zu feiern. In tiefem Schmerze über den Tod seines getreuen Herzogs Hermann von Sachsen († am 27. März 973) habe er jene Orte durchwandelt. Hernach habe er Gesandte aus Afrika, die ihm ihre Erfurcht zu bezeugen und Geschenke zu überbringen gekommen seien, empfangen und bei sich behalten (Post susceptos ab Africa legatos, eum regio honore et munere visitantes, secum fecit manere); jedoch schon am Dienstag vor Pfingsten (6. Mai) sei er nach dem - unweit Merseburg belegenen-Orte Memleben gegangen, dort sei aber bereits am nächsten Tage sein unerwartetes Ableben erfolgt.

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Es erscheint uns hiernach nicht zweifelhaft, daß die bulgarischen Gesandten auf ihrem Heimwege von Quedlinburg in Merseburg mit der Sarazenengesandtschaft aus Afrika zusammengetroffen sind, und daß Ibrahîm sich bei der letzteren befand, sei es als Arzt (wofür seine medicinischen Bemerkungen gegen das Ende seines Berichtes sprechen), oder als Secretair, oder in welcher Stellung es sonst gewesen sein mag. Zu beachten ist auch, daß er einen polnischen Rechtsbrauch mit einem ähnlichen bei den Berbern zusammenstellt, den er vermuthlich kannte, weil Nordafrika seine Heimath war.

Vielleicht hat er damals auch den Polenkönig "Misjko" (Mießko) persönlich kennen gelernt, oder dessen Begleitung ausgefragt. Denn daß Ibrahîm das Land Polen selbst gesehen hätte, das darf man bezweifeln, wenngleich er nur von Bulgarien ausdrücklich sagt, daß er es nicht besucht habe; Alles, was er von Polen berichtet, kann er sehr wohl auch aus Mittheilungen Anderer wissen. Dagegen zeugt die Angabe der verschiedenen Stationen und deren Entfernungen dafür, daß er in Meklenburg und in Böhmen selbst gewesen ist. Wahrscheinlich unternahm er aus Wißbegier von Merseburg aus eine Reise nach dem "nördlichen Ocean" (der Ostsee) und kehrte später über Böhmen, die von Wenden bewohnten Ostalpen und durch das "große Land" (Italien) in seine Heimath zurück. - Wir lassen nun seinen Bericht, so weit er uns interessirt, hier folgen, wie er sich bei al=Bekri findet:

"Ibrahîm ibn Jakûb, der Israelit, erzählt: Die L ae nder der Slawen erstrecken sich von der Syrischen See (Mittelmeer) bis an den nördlichen Ocean (Ostsee). Doch haben sich Volksstämme ans dem Norden eines Theiles dieser Lande bem ae chtigt und wohnen bis auf den heutigen Tag zwischen jenen."

"Die Slawen bestehen aus vielen verschiedenen St ae mmen. In früherer Zeit waren sie alle vereinigt unter einem K oe nig, der den Titel Mâcha führte und zu einem Geschlechte gehörte, welches Walînbâba hieß und in hohem Ansehen unter ihnen stand. Hernach wurden sie uneinig und ward das gemeinsame Band zerrissen, w ae hrend sich die St ae mme zu verschiedenen Gruppen formirten, jede von diesen von einem eigenen K oe nige regiert".

Wie de Goeje anmerkt, ist dieser zweite Absatz dem Mas'ûdî entnommen und vielleicht erst eine Einschaltung (oder Randbemerkung?) Bekri's. Wir lassen diese Sage ebensowohl unerörtert, als die von dem polnischen Schriftsteller

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Boguchwal, welche wir in Jahrb. 27, S. 126 mitgetheilt haben. Den Titel Mâcha deutet unser der slawischen Sprachen kundiges Mitglied Dr. Kühnel zu Neubrandenburg aus dem altslawischen Worte mogat (spr. mogont) = dominus, δυν´αστης von dem Verbum moga = ich kann (vgl. das gothische magan = können). Den Namen Walînbâba möchten wir nicht wie de Goeje mit Wollin oder Jumne in Beziehung setzen. Dr. Kühnel möchte lesen: Walnî Bâba, "der treffliche Baba". "Denn das Adjectiv walni (poln. walny, a, e = 1)Haupt=, 2) vortrefflich, herrlich, recht gut) steht in Masculinform, und bei der Häufigkeit des Namens wäre eine Dynastie mit Oberhaupt Baba nicht undenkbar". -

Ibrahîm fährt fort:

"Gegenwärtig sind da vier K oe nige: der K oe nig der Bulgaren; Boreslav, der K oe nig von Frâga (Prag), Bowîma (Böhmen) und Krakau; Misjko, der K oe nig von dem Norden, und Nâcû[n] in dem westlichsten Theile der Slawenl ae nder".

"Dies letzte Reich grenzt gegen Westen an Sak[s]ûn (Sachsen) und einen Theil von Mermân. Die Kornpreise sind dort niedrig, und das Land ist reich an Pferden, so daß davon nach andern L ae ndern ausgef ue hrt wird. Die Bewohner sind gut bewaffnet mit Panzern, Helmen und Schwertern. Von [Merse]burg nach dem daran grenzenden Bezirksorte reist man 10 Meilen, [von dort] nach der Br ue cke [über die Elbe] 50 Meilen, und diese Br ue cke ist von Holz und eine Meile lang. Von der Br ue cke bis zur Burg des Nâcû[n] sind ungefähr 40 Meilen. Diese Burg heißt [Wîli=]Grâd, welcher Name "Große Burg" bedeutet. Wîli=Grâd ist in einem S ue ßwassersee erbauet, sowie die meisten Burgen der Slawen. Wenn sie n ae mlich eine Burg gründen wollen, so suchen sie ein Weideland, welches an Wasser und Rohrs ue mpfen reich ist, und stecken dort einen runden oder viereckigen Platz ab, je nach der Gestalt und dem Umfange, welche sie der Burg geben wollen. Dann ziehen sie darum einen Graben und h ae ufen die ausgehobene Erde auf. Diese Erde wird mit Brettern und Balken so fest gestampft, bis sie die H ae rte von Pisé (tapia) erhalten hat. Ist dann die Mauer (der Wall) bis zur erforderten H oe he ausgeführt, so wird an der Seite, welche man ausw ae hlt, ein Thor abgemessen und von diesem eine h oe lzerne Brücke über den Graben gebauet. Vor der Burg [Wîli=]Grâd bis an den Ocean betr ae gt die Entfernung 11 Meilen. Die Kriegs=

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heere dringen in das Gebiet Nâcû[n]s nur mit großer M ue he vor, da das gesammte Land niedriges Weideland, Rohrsumpf und Morast ist".

Zu diesem für uns wichtigsten Abschnitte aus dem Berichte Ibrahîms bemerkt de Goeje zunächst schon, daß der Name Nacûr verschrieben sei, und er hat in demselben den Wendenfürsten Naccon, welcher anderweitig bekannt genug ist, wiedererkannt. Wir zweifeln nicht an der Richtigkeit dieser Wahrnehmung, zumal auch (im Mekl. Urk.=Buch I, 244, 254 und 255) in den Jahren 1218 und 1219 wieder ein edler Wende mit dem Namen "Nacon" erscheint, und ein nach Nacon benanntes Dorf Naquinstorp und Nacunstorp (Nr. 385) genannt wird. Wahrscheinlich ist also Nakun eine Nebenform von Nacon oder Naccon, und von Bekri oder dem Abschreiber nur r für n verschrieben. Naccon erscheint in den bisher bekannten Geschichtsquellen * ) zuerst mit seinem Bruder Stoignew im Jahre 954. Der Graf Wichmann empörte sich damals gegen seinen Oheim, den Markgrafen Hermann Billung von Sachsen, und gegen seinen Verwandten, den König Otto, ward aber von Hermann über die Elbe (trans Albiam) getrieben und verleitete Naccon und seinen Bruder zum Kriege, während gleichzeitig der Markgraf Gero einen siegreichen Kampf gegen die Ukerer führte. Naccon und Stoignew bezeichnet Widukind unbestimmt (III, 50) als "duos subregulos barbarorum", d. h. als Wendenfürsten; denn andere nicht deutsche Völkerschaften als Wenden gab es an der Unterelbe, in der Nachbarschaft Hermanns, nicht; und es können, genauer gesprochen, hier nur Fürsten der Obotriten, Polaben und Wagrier gemeint sein, gegen welche die sächsische Mark errichtet ward. Darauf unternahm der Markgraf Hermann um Fastnacht 955 einen Zug gegen sie, und suchte sie in der Burg "Suithleiscranne" zu überraschen; es gelang ihm aber nur, etwa 40 Mann vor der Burg zu tödten. Die Slawen vergalten nach Ostern diesen Angriff mit einem Zuge unter Wichmanns Führung nach der Burg "Cocarescemiorum", in welche Hermann, weil er sich zum Widerstande zu schwach fühlte, seine Leute sich hatte zurückziehen lassen, gewannen dieselbe durch eine Capitulation und tödteten dann die ganze Besatzung wegen angeblichen Friedensbruches. Im August schlugen die Wenden einen Angriff des Markgrafen Dietrich glücklich ab. Die Lage Deutschlands war eine sehr gefährdete, da gleichzeitig die Ungarn einen großen


*) S. meine Mekl. Annalen I, S. 32 flgd.
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Einfall machten. Da gelang es bekanntlich am 10. August dem Könige Otto den Ungarn in Baiern eine große Niederlage zu bereiten, so daß er sich nun mit vereinter Kraft gegen die nördlichen Slawen wenden konnte. Wichmann und Ekbert wurden geächtet. Gesandte der Slawen verstanden sich zu nichts weiter als zum üblichen Tribut; der König begehrte aber zugleich Genugthuung für die erwähnte Niedermachung der "Cocarcscemier". Als sich die Slawen hierauf nicht einließen, rückte er mit Feuer und Schwert (ohne Zweifel von Havelberg her) in ihr Land ein; er fand unter Stoignews Führung die Obotriten und Witzen (Circipaner und Tolensaner) vereinigt sich gegenüber an der "Raxa" (der Reke, dem Oberlaufe der Elde östlich vom Plauersee * ) und besiegte sie am 16. October mit Hülfe der Rujaner in einer sehr schweren Schlacht, wobei Stoignew sein Ende fand. Doch war die Macht der Wenden damit noch nicht gebrochen, 957, 959 und 960 sah sich König Otto noch zu neuen Feldzügen genöthigt, und im Nordosten, in den neugegründeten Bisthumssprengeln von Havelberg und Brandenburg, setzte hernach, als der König Otto nach Italien zog, der Markgraf Gero noch seine Kämpfe gegen die Wenden fort, während dem Markgrafen gegen die Obotriten, Polaben und Wagrier, dem nunmehrigen Herzog von Sachsen, Hermann Billung, der Schutz des nordwestlichen Deutschlands anvertrauet war.

Der Wendenfürst Naccon tritt nun, einstweilen wenigstens, in unsern bisherigen Quellen ganz zurück; 967 werden uns als "subregulus" der Wagrier (Waari) Selibur, als "subregulus" der Obotriten Mistaw von Widukind (III, 68) genannt. Sie waren mit einander in Zwiespalt; Selibur verband sich mit dem obengenannten Aufrührer Wichmann, ward aber vom Herzog Hermann bezwungen, und seine Herrschaft seinem Sohne übergeben. Hieraus könnte jemand den Schluß ziehen, daß damals schon Mistaw Herrscher der Obotriten gewesen wäre; allein, wo Adam (II, 14) von den ersten Zeiten des erst um 968 gegründeten Bisthums Oldenburg in Wagrien spricht, dessen Sprengel östlich bis Demmin reichen, also etwa die slawische Mark Herzog Hermanns umfassen sollte, nennt er als damalige Wendenfürsten innerhalb dieses Gebietes "Missizlaw, Naccon und Sederich". Aus dem Berichte Ibrahîms ersehen wir nun mit Bestimmtheit, daß im Jahre 973 Naccon noch als "König" die nordwestlichen Wenden regierte und in der alten Hauptburg der


*) S. Beyer in Jahrb. 32, S. 88.
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Obotriten, Wîligrâd, d. i. Meklenburg, seinen Sitz hatte. Sederich mag, ihm unterthänig, Fürst der Wagrier gewesen sein; denn Ibrahîm stellt den Naccon, indem er ihn dem Mießko von Polen und dem Boleslaw von Böhmen zur Seite setzt, als den obersten Fürsten der nordwestlichen Wenden hin. Dem Missislaw begegnen wir anscheinend noch später bei Helmold (I, 13) als einem Sohn des "regulus Obotritorum nomine Billug", welcher Letztere sich in zweiter Ehe mit einer Schwester des Bischofs Wago von Oldenburg vermählt hatte und sich zum Christenthum bekannte, während sein Sohn demselben abgeneigt war und auch den bereits altersschwachen Vater verleitete, von jener Ehe zurückzutreten. Es scheint uns hiernach, daß Naccon bei seinem Uebertritt zum Christenthum den Namen Billug (wohl = Billung, von dem Herzog) annahm, wie später Gottschalks Vater Pribignew (Saxo X, 523) den deutschen Taufnamen Uto; in dem Namen Mistaw aber scheint uns der Name Mississlaw oder Mistizlaw zu stecken.

Leider giebt Ibrahîm nicht an, wie weit gegen Osten Naccons Reich sich erstreckte, und auch die Namen der Westgrenze sind uns nicht unentstellt überliefert. Der Vermuthung de Goeje's, daß statt Saknûn vielmehr Saksûn (Sachsen) zu lesen sei, wird man ohne Bedenken zustimmen; schwieriger ist dagegen der andere Name: "Mermân" zu deuten. Kunik und v. Rosen möchten " G ermân" = Germanien lesen; allein wo sollte Ibrahîm diesen Namen gehört haben? Jirecek hat "Mormân" vorgeschlagen, weil so später die Normannen in slawischen Büchern genannt werden (wie poln. M ikolai für N ikolai); aber die Normannen nennt später Ibrahîm selbst "Russen". Am annehmlichsten erscheint noch de Goeje's Vermuthung, daß H ermân zu lesen und das Gebiet, die Markgrafschaft Hermanns, des Sachsenherzogs, zu verstehen sei, wenngleich der Herzog gerade um dieselbe Zeit, als jene afrikanische Gesandtschaft Merseburg erreichte, am 27. März verstorben, und sein Sohn Bernhard sein Nachfolger geworden war. Der Kern der Markgrafschaft war das südliche Lauenburg (das Sadelband), allerdings hier die Westgrenze des Obotritengebietes (insonderheit Plabiens); unter den Sachsen an der Westgrenze des Wendengebietes dürften dann die Sachsen in Holstein, die Grenznachbarn der Wagrier, zu verstehen sein.

Da Ibrahîm von Merseburg auf dem gewöhnlichen Wege nach Meklenburg gezogen sein wird, möchte es von Interesse sein, wenn sich aus seinen Bemerkungen diese Straße

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mit einiger Sicherheit ermitteln ließe. Nun ist erstens aus seinen Angaben, nach welchen er die Entfernung von Merseburg bis zum Orte Meklenburg (1 Meile von Wismar), die in grader Linie 42 geographische Meilen beträgt, auf 100 Meilen schätzt (obwohl er zunächst fast ganz in gerader Linie längs der Saale und Elbe nordwärts zog, auch hernach eine bedeutenden Umwege zu machen hatte), so viel klar, daß seine Meilen kaum halb so lang zu rechnen sind, als die geographischen. Seine erste Station von Merseburg, die also fünf geographische Meilen nördlich von dieser Stadt zu suchen ist, nennt er nicht; denn in "majalîh" steckt, wie de Goeje bemerkt: "mà jalîhi = wat er aan grenst"; darum übersetzten wir oben "nächst angrenzenden Bezirksort". Zu beachten wird aber weiter sein, daß nach Ibrahîm die Entfernung von Merseburg bis zur Brücke (über die Elbe) 60, von der Brücke bis Meklenburg 40 seiner Meilen betrug. Nach dieser Proportion (3 : 2) darf die Brücke nicht in der Gegend von Dömitz, etwa bei der alten Fährstätte Broda, auch nicht in der Nähe von Lenzen gesucht werden, sondern nur unweit Havelberg und Werben, etwa bei Quitzöbel, unterhalb der Einmündung der Havel. Dieses liegt nämlich in gerader Linie von Merseburg 25, von dem Orte Meklenburg 17 geographische Meilen entfernt, so daß wir damit wieder auf die Proportion 3 : 2 gelangen. Werben kommt auch sonst als ein Ort vor, wo die deutschen Fürsten mit den wendischen Zusammenkünfte hielten; und aus der Gegend von Havelberg führte schon zur Römerzeit, wie das Römergrab bei Gr.=Kelle a. d. Müritz unweit Röbel und manche Münzfunde beweisen, durch die Wittstocker Heide nach der Müritz und weiter nach Demmin und der Peene eine Verbindungsstraße zwischen Elbe und Ostsee. Auf dieser Straße muß 955 auch König Otto I. nach der Raxa, wie oben erwähnt, gezogen sein, und die von Ibrahîm etwa 1/2 deutsche Meile lang geschätzte hölzerne Brücke, über deren Entstehung und Beschaffenheit uns anderweitige Nachrichten fehlen, mochte noch aus den Jahren 955-960 stammen, vielleicht aber auch erst aus den folgenden, aus denen uns (bis 967) Kriegszüge gegen die Redarier * ) berichtet werden. Als Otto III. im Jahre 995 seinen großen Zug gegen die meklenburgischen Wenden unternahm, finden wir ihn am 16. August in Magdeburg, am 18. in Leizkau; am 10. September gab er über eine zu "Michelenburg" verhandelte Sache eine Urkunde, am 3. Oct.


*) Mekl. Annalen S. 38,
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eine andere über eine im Tollenserlande geführte Verhandlung (actum in pago Tholensani), und die nächste, vom 6. Oct. zu Havelberg * ), wie dann später auch der heil. Otto die Straße von Havelberg nach der Müritz einschlug, und 1147 die Kreuzfahrer von Havelberg aus durch die Wittstocker Heide nach Malchow ** ) und weiter nach Demmin zogen. Es ist hiernach kaum zweifelhaft, daß auch Ibrahîm im Jahre 973 diese Hauptstraße wählte; ob er aber auch noch die "Reke" (bei Eldenburg a. d. Müritz) überschritt und dann nordwestlich nach Meklenburg abbog, oder ob sich etwa von der großen Straße schon vorher ein näherer Weg nach der "Großen Burg" abzweigte, müssen wir bei dem Mangel an Nachrichten über die Verbindungswege in unserm Lande aus jener Zeit dahingestellt sein lassen.

Der Name der "Großen Burg" lautet in dem uns überlieferten Texte an der ersten und der dritten Stelle freilich bloß Grâd, an der zweiten Stelle jedoch vollständig Wîli-Grâd; und die Uebersetzung "Große Burg" beweist an der ersten Stelle und der Zusammenhang an der dritten Stelle, daß Ibrahîm selbst auch hier Wîli-Grâd geschrieben haben muß. Die Bedeutung des Namens macht es unzweifelhaft, daß diese Burg keine andere ist, als diejenige, welche mit dem ins Deutsche übersetzten Namen "Michelenburg" (d. h. Große Burg) zuerst in der oben erwähnten Urkunde K. Ottos III. vom Jahre 995 erscheint und dann bei allen bisher bekannten Schriftstellern und in allen Urkunden ausschließlich diesen deutschen Namen führt - Meklenburg bei Wismar. Dazu paßt dann auch ganz Ibrahîms Angabe über die Lage der "Großen Burg" in einem ,,Süßwassersee". Denn gewiß war die heutige, selbst nach der schwierigen Einschüttung des Eisenbahndammes noch sehr feuchte "große Sumpfwiese" südlich vom Kirchdorfe Meklenburg, aus welcher der mächtige wendische Burgwall hervorragt, vor 900 Jahren noch ein See. Und wenn dieser Wall in seiner Ausdehnung von etwa 200 Schritt Länge und 150 Schritt Breite *** ), wie man ihn von der nahe vorüberführenden Eisenbahn aus erblickt, noch jetzt die Bewunderung der Reisenden erregt, obwohl unsere Zeitgenossen doch gewohnt sind große Erdarbeiten zu sehen, so kann man sich


*) Mekl. Annalen S. 50.
**) Ann. Magdeb. 1147. - Meil. Annalen, S. 113, 126.
***) Vgl. Lisch in Jahrb. 6, S. 79 f., 97 f., und insonderheit Jahrb. 12, S. 450 f., wo auch eine Ansicht von dem Burgwall und seinen Umgebungen beigefügt ist.
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vorstellen, welchen tiefen Eindruck dieser in den See eingeschüttete Wall auf den fremdländischen Wanderer machte; und man begreift, daß er sich bewogen sah, gerade hier eine auf Erkundigungen bei den Eingebornen beruhende Beschreibung des wendischen Burgbaues einzuschalten.

Diese Ansicht von der Identität Meklenburgs mit WîIigrâd kann auch nicht dadurch erschüttert werden, daß Ibrahîm die Entfernung der "Großen Burg" vom "nördlichen Ocean" auf 11 seiner, also auf etwa 5 geographische Meilen berechnet, während in Wirklichkeit Meklenburg kaum eine geographische Meile von der Wismarschen Bucht entfernt liegt. Denn wenn der Reisende von Wißbegier getrieben ward, von Merseburg aus nordwärts bis an den "Ocean", die Ostsee, vorzudringen: so bot ihm beim Dorfe (Alt=)Wismar die von der Insel Poel dem Auge fast verschlossene Bucht keinen rechten Ausblick in die offene See, und er mag, um solchen zu genießen, längs des Salzhaffs nördlich bis Alt=Gaarz oder gar bis zu der "Landzunge Buch" (zwischen Meschendorf und Arendsee) gewandert sein, wo an letzterer Stelle er die weiteste Aussicht auf das Meer fand.

Jedenfalls widerlegt auch Ibrahîm die ohnehin unglaubwürdige Angabe des (1253 verstorbenen) Bischofs Boguchwal von Posen (Jahrbuch 27, S. 128), wonach der in Rede stehende Burgwall von den Wenden nach dem 1/2 Stunde entfernten Dorfe Lübow ("Lubowe"), von den Deutschen aber nach dem Wendenkönige Mikkol - er meint Niklot, den im J. 1160 gefallenen Wendenfürsten - Mikelborg benannt wäre. Eine Beziehung der Ortschaft Meklenburg zu Lübow mag in christlich er Zeit dadurch entstanden sein, daß bei der alten romanischen Kirche zu Lübow Meklenburg, bevor es selbst eine Kirche erhielt, eingepfarret war; dem Namen Michelenburg aber begegneten wir oben schon mehr als ein Jahrhundert vor Niklots Regierungszeit. - Eine in Wismar ansässige, ohne Zweifel aus dem Dorfe Meklenburg stammende und, wie so häufig, nach der Heimath benannte Familie führt (nach Mittheilung Dr. Crull's) noch jetzt den Namen Willgroth (d. i. Wiligrod = Wîligârd, wie Starigrod neben Starigard vorkommt). Diesen Familiennamen hatte Dr. Beyer schon richtig gedeutet, und aus demselben (Jahrb. 37, S. 142) auf den wendischen Burgnamen "Wiligrod" geschlossen - eine Vermuthung, welche jetzt durch Ibrahîm eine glänzende Bestätigung gefunden hat.

Von Meklenburg scheint Ibrahîm gerades Weges nach Merseburg zurückgekehrt und den Heimweg durch Böhmen

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und über die von Wenden bewohnten Steyrischen und Krainer Alpen genommen zu haben; wenigstens sind, wie wir schon oben bemerkten, seine Nachrichten über Polen so kurz und unbedeutend, daß man annehmen muß, sie beruhen nicht auf eigener Anschauung. Immerhin werden auch die Abschnitte des arabischen Berichtes über die Böhmen und die Polen und deren Nachbarn hier, schon der Vergleichung halber, nicht unwillkommen sein. Ibrahîm wendet sich nun zunächst nach Böhmen:

"Was Boreslaws Land betritt, so erstreckt sich dieses der L ae nge nach von der Stadt Prag (Frâgâ) bis zur Stadt Krakau, eine Entfernung von drei Wochen; und es grenzt in der L ae nge an die Lande der T ue rken (d. h. Magyaren). Die Stadt Prag ist von Stein und Kalk gebaut und ist der größte Handelsplatz in den Slawischen L ae ndern. Russen und Slawen kommen mit ihren Waaren dahin von der Stadt Krakau, und Moslems, Juden und T ue rken kommen aus dem türkischen Gebiete mit Handelswaaren und Byzntinischen M ue nzen (mithkâls) und empfangen dafür von den Slawen Biberfelle und anderes Pelzwerk. Dieses Land ist von allen L ae ndern des Nordens das beste und an Nahrungsmitteln reichste. F ue r 1 Peñsê * ) kauft man so vielen Weizen, als ein Mann auf einen Monat bedarf, und um denselben Preis so viel Gerste, als man braucht, um ein Pferd 40 Tage lang zu füttern. Zehn H ue hner gelten gleichfalls nur 1 Peñsê. In der Stadt Prag macht man die S ae ttel, Z ae ume und Schilde, welche in diesen L ae ndern gebraucht werden. Im böhmischen Lande verfertigt man d ue nne, sehr lose wie Netze gewebte T ue chlein, die man zu nichts brauchen kann, die jedoch bei ihnen den festen Werth von 1/10 Peñsê haben und im Handel und Verkehr gebraucht werden. Sie gelten bei ihnen als baares Geld, und man bestizt davon Kisten voll. Um dieSe T ue chlein sind die kostbarsten Gegenst ae nde zu kaufen, wie Weizen, Sklaven, Pferde, Gold und Silber. Eine merkwürdige Erscheinung ist es, daß die Einwohner Böhmens von dunkler Hautfarbe sind und schwarzes Haar haben; der blonde Typus kommt nur wenig unter ihnen vor."

"Der Weg von Merseburg nach Boreslaws Land ist folgender: von dort nach Burg Faliwi 10 Meilen, von dort nach Irb=grâd (Nóbo-Grád = Naumburg verbessert de Goeje) 2 Meilen. Diese Burg ist von Stein


*) ,,pecunia: peniez": Hanka, Vetustiss. vocab. Latino-Boemica, p. 46.
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und Mörtel [erbauet] und liegt ae hnlich (wie Merseburg) an dem Flusse Saale (Çalâwa), und in diese f ae llt der Fluß Nûda. (oder Nauda = Unstrut?). Von der Burg Nwb=Grâd bis zur Salzsiederei der Juden, die auch an dem Flusse Saale liegt, 30 Meilen; von dort nach der Burg Nûrandjîn, die am Flusse Moldâwa liegt . . ., und von dort bis zum Ende des Waldes 25 Meilen. Dieser Wald ist von hier bis zum andern Ende 40 Meilen lang; der Weg geht ue ber Berge und durch Wildnisse. Am Ende dieses Waldes liegt ein Morast von ungefähr 2 Meilen, ue ber welchen eine Brücke bis an die Stadt Prag geschlagen ist."

Wir enthalten uns aller weiteren Bemerkungen zu diesem Abschnitt und müssen namentlich die Bestimmung der "Salzsiederei der Juden" und anderer geographischer Namen ortskundigen Forschern überlassen. Bei den die Leinentüchlein betreffenden Worten erinnert de Goeje an Helmolds Angabe (I, 38), wonach die Ranen (Rujaner) keine Münzen hatten, sondern auf dem Markte als Tauschmittel Leinewand brauchten (quicquid in foro mercari volueris, panno linteo comparabis); und er findet für den ausgedehnten Flachsbau bei den Wenden auch darin einen Beweis, daß zu ihrem alten Bischofszins auch "quadraginta resticuh (restes) lini" von jedem Pfluge gehörten Helmold I, c. 10 und 14). - Da dem Ibrahîm die dunkle Gesichtsfarbe und das schwarze Haar bei den Böhmen auffiel, mag er bei den Wenden an der unteren Elbe überall oder doch vorherrschend eine helle Gesichtsfarbe und blondes Haar gefunden haben. -

Er fährt fort:

pMisjko's Land (Polen) ist das gr oe ßte der slawischen L ae nder. Da herrscht Ueberfluß an Korn, Fleisch, Honig und [Fischen] * ). Dieser Fürst fordert die Steuern in byzantinischen Münzen (mithkâls) und bezahlt damit seine Mannen, jedem eine feste Summe monatlich. Er hat n ae mlich 3000 geharnischte Krieger, von welchen hundert so viel werth sind wie tausend andere. Von ihm empfangen sie ihre Kleidung, Pferde und Waffen und Alles, was sie brauchen. Wird einem von ihnen ein Kind geboren, so empfängt er von dem Augenblicke der Geburt an eine Zulage f ue r den Unterhalt desselben, gleichviel, ob es männlichen oder weiblichen Geschlechts ist. Wenn der


*) Prof. de Goeje verbessert: harth = Ackerland in hût = Fisch, weil Kazwini, der in seiner Kosmographie II. S. 415 übereinstimmend erzähle, den Ausdruck samk = Fisch setze.
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Bursche ausgewachsen ist, verheirathet ihn der Fürst und bezahlt für ihn das Ehegeld (das er nach Kazwîni von dem Vater des Bräutigams nahm) an den Vater des M ae dchens. Wenn das M ae dchen mannbar ist, so verschafft der Fürst ihr einen Mann und giebt an ihren Vater das Ehegeld. Das Ehegeld ist nun bei den Slawen sehr groß, gerade so wie es bei den Berbern gebr ae uchlich ist. Bekommt also ein Mann zwei oder drei Töchter so werden diese Ursache, daß er reich wird; hat er hingegen zwei oder drei Söhne, so wird er arm."

"An Misjko's Reich grenzen im Osten die Russen und im Norden die Preußen (Brûs). Diese letzteren wohnen am Meere und sprechen eine besondere Sprache, w ae hrend sie die ihrer Nachbaren nicht verstehen. Sie sind bekannt wegen ihrer Tapferkeit. Kommt ein feindliches Heer in ihr Land, so warten sie nicht auf einander, bis sie vereinigt sind, sondern jeder stürmt auf den Feind los ohne sich um jemand zu k ue mmern, und hauet mit seinem Schwerte, bis er f ae llt, oftmals kommen namentlich die Russen (d. h. Normannen) von Westen her zu Schiff in ihr Land, um zu pl ue ndern.

Westw ae rts von den [B]rûs liegt die Stadt der Frauen. Diese besitzen Aecker und Sklaven. Sie werden von ihren Sklaven geschw ae ngert, und wenn eine von ihnen einen Knaben gebiert, so t oe dtet sie denselben. Sie reiten zu Pferd, f ue hren selbst Krieg und sind voll Muths und Tapferkeit. Ibrahîm ibn Jakûb, der Israelit, sagt: "Und dieser Bericht ue ber diese Stadt ist wahr; Otto der römische König (Kaiser), hat es mir selbst erz ae hlt."

Wir bemerken hierzu nur, daß, wie de Goeje anführt unter Rûs bei den arabischen Schriftstellern des neunten Jahrhunderts ausschließlich die Normannen zu verstehen sind, später auch die Russen. Er verweist dabei auch auf Liutprand, der in seiner Antapod. I,11 (Pertz, Scr. III, p. 277) bemerkt: Constantinopolitana urbs - habet - ah aquilone Hungarios, Picenacos, Chazaros, Rusios, quos alio nomine Nordmannos apellamus, atque Bulgarios -. Hernach hat de Goeje Rûs in Brûs verbessert; er erinnert an König Aelfreds "Maegdà-land" im Norden der "Horithi", und vermuthet nach dieser Sage, daß später "Frauenburg" auf einer alten Tempelstätte der Siwa erbauet sei.

Ibrahîm erzählt weiter:

"Im Westen von dieser Stadt wohnt ein slawischer Stamm, welcher das Volk der Ubâba heißt. Das Gebiet

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derselben ist sumpfig und liegt im Nordwesten an Misjko's Reich. Sie haben eine große Stadt am Ocean mit 12 Thoren und einem Hafen. Für diesen Hafen besitzen sie vortreffliche Verordnungen. Sie sind im Kriege mit Misjko begriffen, ihre Macht ist groß. Sie haben keinen König und sind niemandes Unterthanen; ihre Aeltesten sind ihre Herrscher".

Kunik und de Goeje stimmen darin überein, daß mit jener Stadt Danzig gemeint sei; für Ubâba aber möchte letzterer lieber Kûjàba setzen, während Kunik an die Kassuben denkt. Uebrigens beschließt hiemit Ibrahîm seine Nachrichten, welche sich auf die Nordslawen allein beziehen; die Pommern kennt er offensichtlich nicht, auch von den Liutizen weiß er nichts, wenn er sie nicht mit zu Naccons Reich zählte. Er geht nun zunächst zu den Südslawen über:

"Was das Reich der Bulgaren betrifft, so sagt Ibrahîm ibn Jakûb: Ich bin nicht in ihrem Lande gewesen; aber ich habe die bulgarischen Gesandten in der Stadt Merseburg gesehen, da sie zum K oe nige Otto kamen. Sie trugen dicht anliegende Kleider und waren mit langen G ue rteln umg ue rtet, die mit goldenen und silbernen Kn oe pfen verziert waren" u. s. w.

Von den Bulgaren wendet sich Ibrahîm westwärts zu den Slawenstämmen, welche im Norden der "See von Venetien (Banàdjia)" "ein hohes Bergland mit schwer zu passirenden Wegen" (die Alpen) bewohnen und von allen Nachbarvölkern als die tapfersten gefürchtet werden. Dann giebt er schließlich allgemeine Bemerkungen über die Wenden, welche wir hier vollständig folgen lassen:

"Im Allgemeinen sind die Slawen unverzagt und streitlustig; und wenn sie nicht unter einander uneins w ae ren, in Folge der mannigfaltigen Verzweigung ihrer St ae mme und Zersplitterungen ihrer Geschlechter, so würde sich kein Volk auf Erden mit ihnen messen k oe nnen. Die von ihnen bewohnten L ae nder sind die fruchtbarsten und reichsten von allen, und sie legen sich mit Eifer auf den Ackerbau und andere Zweige von Betriebsamkeit dazu, worin sie alle nordischen Völker ue bertreffen. Ihre Waaren gehen zu Lande und ue ber See zu den Russen und nach Constantinopel".

"Die meisten St ae mme aus dem Norden" [welche sich zwischen die Slawen eingedrängt haben] "sprechen slawisch in Folge ihrer Vermischung mit ihnen; die

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vornehmsten von diesen sind die Trsjkîn, die Ongliîn * ), die Petsjenegen, die Russen und die Khazaren".

"In dem ganzen Norden ist Hungersnoth nicht die Folge vom Ausbleiben des Regens und von anhaltende Dürre, sondern vom Ueberflusse an Regen und von anhaltend hohem Wasserstande. Regenmangel gilt bei ihnen nicht f ue r sch ae dlich, indem sie der Feuchtigkeit des Bodens und der großen K ae lte halber deswegen kein Sorge hegen. Sie s ae en in zwei Jahreszeiten, im Sommer und im Frühling, und ernten zweimal. Dasjenige, was sie am meisten bauen, ist Hirse. Die K ae lte ist bei ihnen der Gesundheit zutr ae glich, auch wenn sie heftig ist ** ) die W ae rme dagegen sch ae dlich. Sie können in die Langobardischen Lande nicht reisen wegen der Hitze, welche dort groß ist und die Slawen umbringt. Denn sie befinden sich allein wohl bei derjenigen Temperatur, bei welcher die Mischung [der vier Elemente des Körpers] in geronnenem Zustande ist. Schmilzt diese und wird sie heiß, dann ger ae th der K oe rper in Auszehrung, und der Tod ist die Folge. Sie haben zwei Seuchen, von welchen fast Keiner verschont bleibt, homra und an-nawâcîr. Sie vermeiden den Genuß junger H ue hner, weil derselbe ihrer Meinung nach sch ae dlich ist und homra bef oe rdert; aber sie essen Rindfleisch und G ae nsefleisch, und dies bekommt ihnen gut. Sie tragen weite Kleider, aber die Aermel sind unten enge".


*) Beide Namen sind noch nicht gedeutet. Die Vermuthung Kunik's daß die Ongliîn als Ουγγροι (Ungarn) aufzufassen sein möchten, kann ich mir nicht aneignen.
**) Von der Kälte in den Wendischen Ländern erzählt der schon oben erwähnte Zeitgenosse Ibrahîms, Mas'ûdi, in einem von de Goeje a. a. O. S. 27 übersetzten Bruchstücke: "Die Länder der Slawen sind sehr kalt, und die Kälte ist bei ihnen am heftigsten, wenn die Nächte vom Monde erhellt und die Tage heiter sind. Dann ist die Kälte groß und friert es so stark, daß die Erde wie Stein ist und alle Getränke erstarrt sind. Brunnen und Ströme bedecken sich mit einer steinharten Rinde. Wenn man Wasser aus der Nase laufen läßt, so wird der Bart mit Eisplättchen wie Glas bedeckt, die man abbrechen muß, wenn man sich an einem Feuer erwärmt oder unter Dach kommt. Wenn dagegen die Nächte dunkel, die Tage bewölkt sind, dann verschwindet der Frost und nimmt die Kälte ab. Doch gehen dann viele Schiffe mit Allen, die darauf sind, verloren, da von den Eisschollen der Ströme Stücke wie Berge gegen sie anstoßen. Manchmal weiß ein Jüngling oder kräftiger Mann auf einen solchen Eisklumpen zu springen und sich auf diese Weise zu retten".
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Die beiden Benennungen der unter den Slawen endemischen Krankheiten wagen wir nicht zu übersetzen. Baron Rosen erklärt homra = Rose, und de Goeje schließt sich ihm an, bemerkt jedoch, daß in Spanien die Masern noch den arabischen Namen alfombra tragen, und nach Dozy homra wohl vorzugsweise Rose, aber auch eine Art von ekelhaften Geschwürchen bezeichne. Das Wort an-nawâcîr ist dem Professor de Goeje nicht anderweitig bekannt; nach Dozy bezeichnet es Eitergeschwüre, besonders am anus. Rosen vermuthet al-bawàcîr und versteht darunter Hämorrhoiden; doch ist es kaum glaublich, daß die Wenden bei ihrer damaligen Lebensweise an diesem Uebel schon allgemein gelitten hätten. Von der Verbreitung der Hautkrankheiten bei den Slawen zeugt vielleicht auch, was Mas'ûdî bei de Goeje a. a. O. S. 27 von den Bädern derselben erzählt: "Bäder haben die Slawen nicht; aber sie machen eine Stube von Holz, und verstopfen die Fugen mit etwas, was auf ihren Bäumen wächst und dem Wassermoos gleicht, und was sie moch "[altslav. muchu, altböhm. (Hanka p. 14) meh, in der Lausitz moch = Moos] "nennen. Sie gebrauchen dies auch zu ihren Schiffen anstatt des Pechs. In einer Ecke dieser Stube erbauen sie einen Feuerheerd von Steinen und lassen darüber eine Oeffnung, um den Rauch hinauszuleiten. Wenn dann der Heerd erhitzt ist, so machen sie das Luftloch dicht und schließen die Thüre. In dieser Stube sind Wassergefäße, woraus sie nun Wasser auf den glühenden Heerd gießen, so daß die Dämpfe aufsteigen. Jeder hat ein Bündel Heu in der Hand, womit er die Luft bewegt und zu sich heranholt. Dann öffnen sich die Poren, und das Ueberflüssige (Auszuscheidende) ihrer Körper kommt heraus und läuft in Strömen an ihnen herunter, sodaß dann keine Spur von Ausschlag oder Geschwür mehr an einem von ihnen zu sehen ist. Sie nennen diese Stube itba" [altsl. istuba, altböhm. (Hanka p. 45) gystba, in der Lausitz istwa].

Ibrahîm setzt seine vermischten Nachrichten fort:

"Die Könige halten ihre Frauen abgeschlossen und sind auf dieselben sehr eifersüchtig. Bisweilen hat Einer 120 und mehr Gattinnen".

"Ihre vornehmsten Fruchtb ae ume sind Apfel=, Birn= und Pflaumenb ae ume".

Statt "Pflaumenbäume" giebt de Goeje: perzikenboomen; doch wählte Ibrahîm wohl nur das entsprechende Wort, weil

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ihm eine Benennung für die gewöhnliche Pflaume fehlte. Pfirsiche gediehen wohl schwerlich in den Slawenländern.

"Es giebt dort einen [schwarzen] Vogel mit grünem Schimmer, der alle T oe ne von Menschen und Thieren nachahmen kann. Man f ae ngt ihn und man jagt ihn" (mit ihm?). "Sein Name ist im Slawischen sbâ. Ferner ist da ein Feldhuhn, welches im Slawischen tetra heißt. Das Fleisch desselben schmeckt vortrefflich. Es l ae ßt sein Balzen aus den Wipfeln der B ae ume auf 1 Parasang Entfernung und weiter hören. Von diesen Vögeln giebt es zwei Arten, schwarze und gefleckte, welche sch oe ner als Pfauen sind".

Daß der erste der genannten Vögel: sbâ der Staar sei, darf man aus dem Namen schließen. Denn dieser heißt nach Kühnel im Polnischen noch jetzt szpak (schpak), und im Litthauischen spaka-s (nach Fick, Wörterbuch der indogerm. Sprachen). Da diese Benennung in den südslaw. Sprachen nicht nachgewiesen ist, so darf man annehmen, daß Ibrahîm den Staar hier im Norden kennen gelernt hat. De Goeje verändert, weil auch er den Staar versteht, garib (= fremd) in girbîb (= schwarz), und vermuthet auch, daß Ibrahîm nicht geschrieben habe, man fange und jage den Staar, sondern man fange ihn und jage mit ihm, d. h. brauche ihn als Lockvogel auf der Jagd. Das Wort tetra ist an sich vieldeutig. Denn im Altslawischen bedeutet tetrevi (fem. tetrja) den Fasan (Fick II, 566), im Litthauischen teterva-s das Birkhuhn, tytara-s den Truthahn, dagegen nach Kühnels Mittheilung im Russischen teterev (ferm. teterja), im Polnischen cietrzew (spr. tschetrscheff) den Auerhahn. Daß dieser hier mit dem "schwarzen" Feldhuhn (richtiger: Waldhuhn) gemeint ist, geht aus der Beschreibung hervor. Dagegen lassen wir dahin gestellt, ob das "gefleckte" Huhn etwa das von C. L. Brehm (Handbuch der Naturgeschichte aller Vögel Deutschlands, Ilmenau 1831, S. 504) beschriebene "gefleckte Auerhuhn" (Tetrao maculatus), oder das Birkhuhn (Tetrao tetrix) oder eine andere verwandte Art oder Gattung sein mag.

Die Slawen haben verschiedene Saiten= und Blaseinstrumente. Eins der letzteren ist ue ber zwei Ellen lang. Eins ihrer Saiteninstrumente hat 8 Saiten und ist innen (unten?) flach, nicht gebogen".

"Ihr Wein und kr ae ftiger Trank wird aus Honig bereitet."

 

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