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II.
Die Bedeutung der Stadtsiedlung
für die Germanisierung
der ehemals slavischen Gebiete
des Deutschen Reiches

(mit besonderer Berücksichtigung Mecklenburgs)

von

H. Spangenberg.

 

Vignette
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D as bekannte, während der Kriegszeit im Jahre 1915 erschienene zweibändige Werk des Russen Jegorov (Die Kolonisation von Mecklenburg im 13. Jahrhundert) 1 ) sucht die bisher herrschende Ansicht zu widerlegen, daß in der Zeit vom 12. bis zum 14. Jahrhundert in Mecklenburg eine zahlreiche deutsche Einwanderung stattgefunden habe und dieser Kolonisation mit deutschen Ansiedlern hauptsächlich die Eindeutschung des mecklenburgischen Landes zu danken sei. Nach Ansicht Jegorovs ist die Kolonisation des 13. Jahrhunderts dem Wesen nach eine slavische Bewegung gewesen, eine "rein interne Bewegung innerhalb der Slavia selbst", d. h. innerhalb der ehemals slavischen Ostseeländer vom Sachsen-limes bis zur Oder. Die Bedeutung der Kirche für die Kolonisation sei nicht nur unerheblich, sondern überhaupt kaum wahrnehmbar, die Einwanderung deutscher Bauern dort, wo sie überhaupt geschehen sei, "nicht von Erfolg gekrönt worden"; die ländliche Besiedelung Mecklenburgs sei im wesentlichen ein Werk der ritterlichen Dorfherren gewesen. Jegorov bemüht sich nun, die slavische Nationalität der Ritterschaft nachzuweisen. Eine Wanderung von Ritterbürtigen nach Mecklenburg aus dem deutschen


1) D. N. Jegorov, Die Kolonisation Mecklenburgs im 13. Jahrh. Bd. 1. Material und Methode, übers. v. H. Cosack. Bd. 2. Der Prozeß der Kolonisation, übers. v. G. Ostrogorfky. Breslau 1930, XV, 438 S., XXI, 485 S. Die bisher erschienenen Kritiken sind von Werner Strecker in d. mecklenb. Jahrbüchern, Jahrg. 96, 1932 S. 210 aufgezählt worden. Bemerkenswert und meist übersehen ist A. Brückners Abhandlung "Zur slavischen und slavodeutschen Namenforschung" in der Zeitschrift für Ortsnamenforschung, herausgeg. von Jos. Schnetz, 1926 Bd. II Heft 1 S. 67-71; Brückner bemerkt hier, daß Jegorov, dessen Etymologie "grundfalsch" sei, mit Unrecht "massenhafte kryptoslavische" Ortsnamen annehme; "die slavodeutschen Ortsnamen bedürfen einer neuen wissenschaftlichen Darstellung". Über P. Kühnels bekannte Arbeit (Die slavischen Ortsnamen in Mecklenburg. Meckl. Jahrbb. Bd 46, 1881 S. 1-168) urteilt Brückner, daß "ein Dritteil seiner Namen gar nicht slavisch sein dürfte".
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Mutterlande lasse sich nur in wenigen Einzelfällen nachweisen; von der "Germanisierung als einem Resultat der Kolonisation könne nicht mehr die Rede sein". Da er also eine Masseneinwanderung Deutscher ablehnt und in der wesentlich slavischen Ritterschaft den Hauptträger der Kolonisation erkennt, gelangt er zu dem absonderlichen Schluß, daß Mecklenburg bis zum 17. Jahrhundert ein wesentlich slavisches Land geblieben und erst seit der ungeheuren Verringerung der Bevölkerung im dreißigjährigen Kriege eine Kolonisation erfolgt sei, "die nun allerdings mit einer Germanisation gleichbedeutend wurde".

Die Bewunderung, welche man anfangs dem Jegorovschen Werke zollte, ist geschwunden, seit Hans Witte in einem vom Osteuropa-Institut herausgegebenen, als Band 3 des Jegorovschen Werkes bezeichneten "Kritischen Nachwort" (1932) 2 ) das Buch als eine Tendenzschrift entlarvte; und vielleicht hat Ploen nicht ganz unrecht, wenn er es geradezu als "eine staatlich bestellte politische Arbeit" bezeichnet, die den Zweck hatte, "dem Slaventum die Wege zur Ausdehnung nach dem Westen hin zu bahnen".

Das Jegorovsche Werk will nur die ländliche Kolonisation erforschen; es fällt auf, daß er von den Städten des Landes, in denen zweifellos von alters her zahlreiche deutsche Einwanderer lebten, nur nebensächlich auf wenigen Seiten spricht und ohne jedes ausführlichere Eingehen auf die Bedeutung der Stadtgründung die vom flachen Lande her gewonnenen Ergebnisse unbedenklich auf die gesamte Kolonisationsbewegung des 13. Jahrhunderts überträgt. Man erhält den Eindruck, als habe Jegorov die städtische Entwicklung, die seine tendenziöse Auffassung vielleicht am stärksten zu widerlegen geeignet ist, nicht unabsichtlich fast ganz beiseite gelassen. Von einem anderen Standpunkt aus müsse man, so schreibt er, an die Frage der Städteentstehung in den slavischen Territorien herantreten; auch die Städte seien nicht "made in Germany" (S. 433); die Verleihung des Stadtrechtes habe mit einer "Germanisierung" auch nicht das geringste zu tun (S. 434). Die kühne Behauptung wird von ihm im wesentlichen nur durch zwei Argumente gestützt: zum ersten behauptet Jegorov, daß die mit den städtischen Interessen eng verbundenen Ritter


2) Hans Witte, Jegorovs Kolonisation Mecklenburgs im 13. Jahrh. Ein kritisches Nachwort. Breslau 1932.
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anhaltend einen starken Zug nach der Stadt verspürt hätten; er spricht "von ritterlichen hereditates innerhalb der Stadtgrenzen". Da Jegorov eine stärkere Einwanderung deutscher Bauern und Ritter leugnet, die slavische Nationalität der ältesten Ritterschaft - "dieses wichtigsten, ja fast einzigen Trägers des gesamten Kolonisationsprozesses" (S.462) 3 ) - ihm als erwiesen gilt, so glaubt er aus den "engen Beziehungen des städtischen Patriziats zur lokalen, alteingesessenen Ritterschaft" 4 ) slavische Herkunft für einen erheblichen Prozentsatz der oberen und mittleren Stadtschichten annehmen zu dürfen. Diese unbewiesene, auch mehr als Vermutung geäußerte Behauptung ist mit den überlieferten Tatsachen unvereinbar: Denn einmal wird die Niederlassung von Rittern in den Städten von Jegorov überschätzt; Ulrich Römer z. B. betont in seiner Dissertation über "Das Rostocker Patriziat bis 1400" übereinstimmend mit Lisch den überwiegend bürgerlichen Charakter des ältesten Rostocker Patriziats; "ausgesprochen gering ist die Zahl derjenigen Ritter und Knappen, die man mit Hilfe urkundlicher Belege als Rostocker Ratmannen nachweisen kann" 5 ). Ferner aber ist Jegorovs Behauptung, daß die kolonisierenden Ritter und Grundherren im 13. Jahrhundert slavischer Herkunft gewesen seien, unhaltbar. W. Biereye hat in mühsamer Kleinarbeit zunächst für das Land Parchim (vielleicht ebenfalls mit einiger Übertreibung) den Nachweis erbracht, "daß die Besiedlung dieses Landes eine Großtat allein (?) der deutschen Ritterschaft gewesen sei, an der der slavische ,Adel' nur in ganz geringem Maße beteiligt war" 6 ). Gleichartige Untersuchungen werden weitere Klärung bringen 7 ).


3) Jegorov a. a. O. Bd. II S. 462: "So verschiebt sich sehr stark die Vorstellung von der "germanisatorischen" Rolle der Stadt; jedenfalls ist jene primitive Deutung abzulehnen, laut welcher die Kolonisationsstadt selbst ebenso wie ihre ganze Organisation eine Schöpfung ausschließlich deutscher Einwanderer darstelle."
4) Jegorov a. a. O. Bd. 1 S. 461 spricht von dem städtischen Ritter, "der sich dem lokalen regierenden Patriziat anschließt, möglicherweise es sogar schafft".
5) Ulr. Römer, Das Rostocker Patriziat bis 1400. Mecklenb. Jahrbb., Jahrg. 96, 1932 S. 84; Lisch, Über das Rostocker Patriziat. Mecklenb. Jahrbb., Jahrg. 11 S. 170, 182 ff.
6) W. Biereye, Mecklenb. Jahrbb., Jahrg. 96, 1932 S. 188. Vgl. auch Friedr. Bertheau, Die Ansiedlung niedersächsischer Familien in den Städten Mecklenburgs und Vorpommerns im 13. Jahrh., Niedersachsen 1915, Jahrg. 20 Nr. 10 S. 151-153; Hans Witte a. a. O. S. 58 ff., 68 ff., 183 ff., 210 ff.
7) Vgl. Witte a. a. O. S. 227.
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Das zweite Argument, mit welchem Jegorov den germanisatorischen Einfluß der Stadt bestreitet, ist die ebenfalls unbewiesene Behauptung, daß die Stadt in den ehemals slavischen Gebieten "vorkolonisatorischen Ursprungs" sei (S. 439); er leugnet damit die Berechtigung der allgemein herrschenden Ansicht, daß die Slaven wohl Märkte, aber noch keine Städte gekannt haben, und führt auf diese Weise Schöpfungen der deutschen Kolonisation teilweise in die slavische Zeit zurück. Jegorov steht mit der Annahme einer präexistenten slavischen Stadt nicht ganz allein. Tymienieczki z. B. will in den slavischen Burgzentren ihren stadtähnlichen Charakter nachweisen; Karl Maleczyncki stellt für die Zeit vor der Kolonisation einige Elemente fest, die im Westen den Inhalt des Stadtrechts darstellen, wie z. B. die Tätigkeit eines Dorfrichters, den Ausdruck ius forense etc., nicht aber das Vorhandensein wirklicher Städte. Diese und ähnliche Hypothesen sind von H. Witte (S. 54), Richard Koebner u. a. 8 ) mit gewichtigen Gründen widerlegt worden. "Völlig selbständig", schreibt Ad. Zycha, "verlief in Böhmen einerseits die noch städtelose slavische Entwicklung, andererseits an der Wende des 13. Jahrhunderts rasch einsetzend die deutsche Städtebildung." In Polen 9 ), wie in Ungarn, in den ehemals slavischen Gebieten des deutschen Reiches gab es vor der deutschen Kolonisation keine Städte oder stadtartige Gebilde. Wohl bestanden slavische Marktplätze mit einer der slavischen Wirtschaft eigentümlichen Organisation, und diese slavischen Marktorte erhielten sich vereinzelt noch bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Dann aber werden sie in der Überlieferung kaum noch erwähnt. Eine Nachricht zum Jahre 1252 ist nach Hoffmann die letzte Spur slavischer Marktorganisationen gewesen; kein einziger von den slavischen Markt-


8) Karol Maleczynsky, Die ältesten Märkte in Polen und ihr Verhältnis zu den Städten vor der Kolonisation nach dem deutschen Recht. Breslau 1930 (Rez. von W. Maas in der Vierteljschr. f. Soz.- und Wirtschgesch., 1928 Bd. 21 S. 337-339 und von Weise in den altpreuß. Forsch. Bd. 8 S. 137-141). Vgl. vor allem Rich. Koebner, Deutsches Recht und deutsche Kolonisation in den Piastenländern, Vjschr. f. Soz.- u. Wirtschgesch.,1932 Bd. 25 S. 313-352, insbes. S. 345, 348: "Der Markt der alten Zeit war kein Siedlungsraum und eben darum auch keine "Stadt" gewesen; der Fürst hatte ihn lediglich seinen Monopoleinrichtungen vorbehalten." Vgl. auch Witte a. a. O. S. 54.
9) Vgl. Karl Heidrich, Die deutsche Kolonisation in Polen im Mittelalter. Maschinenschrift-Diss. Breslau 1926.
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plätzen bildete, soweit bekannt, den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer mecklenburgischen Stadt 10 ).

Die Entstehung des mecklenburgischen Städtewesens gehörte der Kolonisationszeit vom 12. bis 14. Jahrhundert an. Von den 42 Städten, die Mecklenburg-Schwerin heute besitzt, entstanden nicht weniger als 38 (einschl. Rostocks und Wismars) bis zum Ende des 14. Jahrhunderts. Die älteste, zugleich die einzige im 12. Jahrhundert (1160) gegründete Stadt Mecklenburgs war Schwerin. Dann ruhte die Städtegründung länger als 50 Jahre bis zur Gründung von Rostock (vor 1218). Zwischen 1218 und 1275, in dem Zeitalter der eigentlichen Städtegründung, entstanden 29, innerhalb des folgenden Jahrhunderts von 1275 bis 1370 nur noch 7 Städte; und zwar kann man drei verschiedene Stadttypen unterscheiden, die zeitlich, wie Hoffmann für Mecklenburg festgestellt hat 11 ), einander folgten: die ältesten Städte Mecklenburgs gingen hervor aus organisch entstandenen Kaufmannssiedlungen, welche Stadtrecht erhielten (Schwerin, Rostock, Wismar, Parchim, Plau, vielleicht auch Boizenburg und Güstrow); der zweiten Gruppe gehörten hauptsächlich die in der eigentlichen Gründungsperiode (bis 1275) entstandenen Städte an. Sie traten als Neugründungen aus frischer Wurzel ins Leben neben einer landesherrlichen Burg, neben slavischen oder auch deutschen Dörfern - es sind im ganzen etwa 16 Städte. Die Städte der dritten Gruppe erwuchsen aus Dörfern, durch Stadtrechtsverleihung an ein Bauerndorf - im ganzen 13, vielleicht sogar 16 Städte. Die eigentümliche, vermutlich für einen großen Teil des Kolonisationsgebietes typische Erscheinung, daß in der Zeit von 1275 bis 1370 im allgemeinen nur noch Dörfer zu Städten erhoben wurden, erklärt sich offenbar aus der Tatsache, daß im 14. Jahrhundert der Strom der Ansiedler aus dem Mutterlande allmählich versiegte. Das 13. Jahrhundert, "neben dem 19. Jahrhundert die wichtigste Epoche in der Geschichte des deutschen Städtewesens", war nicht bloß für Mecklenburg die "klassische Zeit" der Städtegründung. Damals entstanden die meisten Gründungsstädte des Reiches: Die Mark Brandenburg z. B. besaß bis zum Beginn des 13.


10) Karl Hoffmann, Die Stadtgründungen Mecklenburg-Schwerins in der Kolonisationszeit vom 12. bis zum 14. Jahrh. (auf siedlungsgeschichtl. Grundlage). Rostocker Diss., Jahrbb. f. mecklenb. Gesch. Jahrg. 94, 1930 S. 176, 177.
11) K. Hoffmann a. a. O. S. 160 ff.
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Jahrhunderts etwa 12 Städte, in der Zeit von 1230 bis 1265 allein folgten 21 Neugründungen der beiden Markgrafen Johann I. und Otto III.; 18 neumärkische Städte entstanden zwischen 1250 und 1314. Die heute im Gebiete des Königreichs Sachsen vorhandenen 143 Städte bestanden etwa zur Hälfte schon 1300 als Siedlungen mit Marktverkehr oder mit vollem Stadtrecht. In Schlesien gab es im 13. Jahrhundert schon 63 Städte, in Hessen nach Schraders Berechnung 62, fast die Hälfte des heutigen Bestandes (137). Von den 88 Städten, "welche das heute zur Schweiz gehörige Gebiet im Mittelalter aufweist, entstanden 3/4, d. i. 64 Städte, im 13. Jahrhundert" 12 ); im 14. Jahrhundert kamen noch etwa 10 dazu.

Die Tatsache, daß die ganz überwiegende Mehrzahl der heute nachweisbaren Städte in den ehemals slavischen Gebieten des Reiches während der Kolonisationszeit des 12. bis 14. Jahrhunderts entstand, kann nicht bezweifelt werden. Dagegen bleibt die Frage offen, in welchem Verhältnis die Bevölkerung der ältesten Zeit, namentlich in den größeren Städten, sich aus slavischen Elementen und deutschen Ansiedlern zusammengesetzt hat, - denn Kolonisation und Germanisation brauchen nicht identisch zu sein; und da die germanisatorische Bedeutung der Kolonialstadt von slavischen, insbesondere polnischen Historikern neuerer Zeit bestritten, jedenfalls nicht voll anerkannt wird, ist es notwendig, eine positive Antwort auf die auch von der deutschen Forschung noch nicht eingehend behandelte Frage zu suchen, inwieweit die mit der Städtegründung einsetzende, das ganze innere Leben des Deutschen Reiches in revolutionärer Weise umgestaltende Bewegung die Eindeutschung der ehemals slavischen bzw. preußischen Gebiete befördert hat.

I.

Die Bedeutung des Städtewesens für die Germanisierung Mecklenburgs.

Die Einwanderungsbewegung in den Städten ist die Grundlage für die Germanisation gewesen. Die Stärke dieser Einwanderung können wir, da die literarischen und urkundlichen Quellen keine ausführliche Nachricht geben, hauptsächlich nur aus den Familiennamen der ältesten städtischen Einwohner und zwar aus den sogenannten "Herkunftsnamen" erschließen, welche den Taufnamen mit dem Herkunftsort verbinden. Die


12) Ulr. Stutz, Zeitschr. der Sav.-Stift. G. A. 1929 Bd. 49 S. 636.
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Zahl der germanistischen Untersuchungen für das Kolonisationsgebiet ist verhältnismäßig ansehnlich, beschränkt sich aber im wesentlichen auf größere Städte: Kiel (K. Weinhold, 1866), Anklam (P. Manke, 1887-1889), Bremen (Carstens, 1906), Breslau (H. Reichert, 1908), Hamburg (G. Mahnken, 1925), Liegnitz (H. Bahlow, 1926), Lübeck (Alm. Reimpell, 1929), Greifswald (H. Nüske, 1928), Barth (K. Müller), Stralsund (H. Bahlow) 13 ). Das mecklenburgische Gebiet ist bisher lediglich in einer sehr verdienstlichen Dissertation von Frl. Helene Brockmüller 14 ) berücksichtigt worden, welche für einen Zeitraum von rund 50 Jahren (1250-1304) einige tausend Namen der ältesten Rostocker Bürger untersucht, unter denen sich 2263 Träger von Herkunftsnamen befinden. Da die Gesamtzahl der von H. Brockmüller behandelten Rostocker Personennamen 4734 beträgt, überwiegt die Zahl der Herkunftsnamen (2263) im Vergleich


13) K. Weinhold, Die Personennamen des ältesten Kieler Stadtbuches 1264-1288. Jahrbb. f. Landeskunde der Herzogtümer Schleswig-Holstein Bd. 9, Kiel 1866; Paul Manke, Anklamer Personennamen. Schulprogr. Anklam 1887-1889; K. Carstens, Beiträge zur Geschichte der bremischen Familiennamen. Marburg 1906; H. Reichert, Die deutschen Familiennamen nach Breslauer Quellen des 13. und 14. Jahrh. Wort und Brauch, Heft 1, Breslau 1908; G. Mahnken, Die hamburgischen niederdeutschen Personennamen des 13. Jahrh. Dortmund 1925; Hans Bahlow, Studien zur ältesten Geschichte der Liegnitzer Familiennamen, Liegnitz 1926; Allm. Reimpell, Die Lübecker Personennamen bis zur Mitte des 14. Jahrh., Diss. Hamburg 1929 (Rez. von H. Bahlow im Theutonista 1930 S. 79, 80); Hugo Nüske, Die Greifswalder Familiennamen des 13. und 14. Jahrh. (1250-1400), Diss. Greifsw. 1929; Kurt Müller, Barther Personennamen im Spätmittelalter (1324-1505), Diss. Greifswald 1933; Hans Bahlow, Die Stralsunder Bürgernamen um 1300, Baltische Studien N. F. 36, 1934 S. 1-59. Die Literatur ist nur zum kleinen Teil verzeichnet bei Dahlmann-Waitz (Häring), 9. Aufl. 1931 S. 24 Nr. 450 ff. - Vgl. auch Ad. Bach, Deutsche Herkunftsnamen in sachlicher Auswertung. Rheinische Vierteljahrsbll. Jahrg. 1 (1931) S. 358-377 (für Frankfurt a. M., Friedberg und Wetzlar); Ernst Günther Krüger, Die Bevölkerungsverschiebung aus den altdeutschen Städten über Lübeck in die Städte des Ostseegebietes. Zeitschr. d. Ver. f. Lübeckische Gesch. Bd. 27 (1933) S. 101-158 und Bd. 28 (1934). Die Abhandlung von H. Strunk, Über den niederdeutschen Anteil an der Altdanziger Bevölkerung. Altpreuß. Forsch. Jahrg. 4 (1927) S. 41 ff. sucht nur die niederdeutsche Wanderung (aus dem niederfränkischen, niedersächsischen und friesischen Sprachgebiet) mit Verwertung des Bürgerbuches für die Jahre 1364 bis 1434 festzustellen.
14) Helene Brockmüller, Die Rostocker Personennamen bis 1304. Diss. Rostock 1933. Über die wendischen Bewohner Rostocks vgl. Lisch und Mann, Meckl. Jahrbb. (1856) Bd. 21 S. 27 ff., 42.
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zu den Berufs- und Übernamen verhältnismäßig sehr stark 15 ). "Die Zahl der mit Herkunftsnamen benannten Personen", schreibt Bahlow, "beträgt in Hamburg 842 oder rund 40 v. H., in Lübeck 3329 oder rund 53 v. H., in Rostock 2263 oder rund 48 v. H. (in Barth 305 oder rund 35 v. H.), in Stralsund 1158 oder rund 40 v. H., in Greifswald 521 oder rund 40 v. H. Also fast jeder zweite Beiname verrät die Herkunft des Trägers bzw. seiner Familie 16 ). Mit Hilfe der Orts- und Ländernamen Rostocker Bürger des 13. Jahrhunderts ermittelt H. Brockmüller diejenigen Gebiete Deutschlands, welche an der Besiedlung der Kolonialstadt Rostock beteiligt waren und veranschaulicht ihr Ergebnis auf S. 83 durch folgende Tabelle:

Tabelle der Herkunftsnamen Rostocker Bürger
(etwa 1250-1304).

Deutsche Länder.
Tabelle der Herkunftsnamen Rostocker Bürger (etwa 1250-1304) Deutsche Länder

16) Hans Bahlow, Der Zug nach dem Osten im Spiegel der niederdeutschen Namenforschung, insbesondere in Mecklenburg. Teutonista, Zeitschr. f. deutsche Dialektforschung und Sprachgeschichte IX 4 (1933) S. 224.
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Außerdeutsche Länder.
Tabelle der Herkunftsnamen Rostocker Bürger (etwa 1250-1304) Außerdeutsche Länder

Nach dieser Tabelle sind an der Besiedlung Rostocks überwiegend (mit 886 Namensträgern) mecklenburgische Dörfer und Städte beteiligt gewesen - wie überhaupt die Forschung des letzten Jahrzehnts ergeben hat, "daß der Zuzug nach den Städten zu 45 bis 50 v. H. aus der nächsten und näheren Umgebung derselben erfolgte" 17 ); nächst Mecklenburg folgen in großen Abständen die folgenden Gebiete: Westfalen (mit 207), Ostfalen (mit 98), Nordalbingien zwischen Weser und Elbe (mit 90), Holstein und Lübeck, Hamburg, Lauenburg (mit 87), Pommern (mit 87), Brandenburg mit Alt- und Ukermark (mit 59), Rheinland (mit 49), Westpreußen und Ostpreußen (mit 14), Ostfriesland und Oldenburg (mit 12 Namensträgern). Das Verhältnis der mecklenburgischen zu den nicht-mecklenburgischen (d. h. deutschen [740] und außerdeutschen [124] nach Herkunftsorten benannten) Namensträgern beträgt: 886: 864. Die Siedler aus dem Westen mögen hauptsächlich Kaufleute, die Einwanderer aus Mecklenburg vor allem Gewerbetreibende gewesen sein. Slaven glaubt Frl. H. Brockmüller mit Hilfe der von ihr benutzten Quellen nur etwa 25 feststellen zu können 18 ).

Die älteste Bevölkerung der wahrscheinlich im Jahre 1226 gegründeten Stadt Wismar scheint sich ganz ähnlich zusammen-


17) Vgl. Hans Bahlow a. a. O. S. 225.
18) Die Tatsache, daß die Wenden eigne Gerichtsbarkeit hatten, daß im Jahre 1267 ein Wendenvogt erwähnt wird und andere Erwägungen weisen auf eine erheblich größere Zahl slavischer Einwohner hin.
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gesetzt zu haben, wie diejenige Rostocks. Fr. Techen zählt im ältesten Wismarer Stadtbuch, das vom Jahre 1250 bis 1272 reicht, 203 verschiedene, von Ortsnamen gebildete Familiennamen und 417 Personen, die Herkunftsnamen tragen 19 ).

Hiervon gehören

nach Mecklenburg 205 Personen = 49,2 %,
nach Sachsen und Friesland 51 Personen = 12,2 %,
nach Westfalen 46 Personen = 11   %,
nach Holstein und Lauenburg 25 Personen =   6   %,
nach Niederrhein, Holland, Flandern 15 Personen =   3,6 %,
nach Altmark, Mittelmark, Priegnitz 13 Personen =   3,1 %,
nach Dänemark, Schleswig 14 Personen =   3,4 %.

In der um 1290 beginnenden und bis 1340 reichenden Bürgermatrikel zählt Techen 600 Herkunftsnamen und 1810 nach ihnen benannte Personen, von denen

nach Mecklenburg 1178 Personen = 65,1 %
nach Sachsen und Friesland 150 Personen =   8,3 %,
nach Westfalen 164 Personen =   9,1 %,
nach Holstein, Lauenburg 124 Personen =   6,9 %,
nach Niederrhein, Holland, Flandern 23 Personen =   1,3 %

gehören. Nach dieser Zusammenstellung hat die Zahl der aus Mecklenburg selbst gebürtigen Stadtbewohner Wismars seit 1290, wie es scheint, noch zugenommen.

Die Einwohnerschaft der mittleren und vollends der kleinen Städte Mecklenburgs, deren Familiennamen noch nicht genauer untersucht worden sind, wird im allgemeinen sehr viel stärker, als es bei den hansischen Seestädten der Fall ist, aus Mecklenburg selbst Zufluß erhalten haben 20 ). Natürlich ist es schwer, vielleicht unmöglich, zu entscheiden, ob die Einwanderer aus


19) Friedr. Techen, Die Gründung Wismars. Hansische Geschichtsbll. Jahrg. 1903 Bd. 11 (1904) S. 121-134: vgl. die Zuammenstellung auf S. 132 ff.; Ders., Geschichte der Stadt Wismar, Wismar 1929 S. 4 (hier nur kurze Zusammenfassung).
20) K. Bertheau, Die Ansiedlung niedersächsischer Familien in den Städten Mecklenburgs und Vorpommerns im 13. Jahrh. Niedersachsen 1915 Jahrg. 20 S. 152: "Meistens sind die Bewohner der kleineren Städte nach benachbarten Dörfern benannt, wie in Parchim von Dambeck, Brüsewitz und Brüsow." Kühl, Geschichte von Ribnitz S. 140 spricht von "vielen wendischen Familiennamen, die auf ein Abwandern von den benachbarten Dörfern in die Stadt deuten.
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mecklenburgischen Ortschaften slavischer oder deutscher Herkunft gewesen sind.

Die Zusammensetzung der ältesten Stadtbevölkerung aus deutschen und slavischen Elementen mag in großen, mittleren und kleinen Städten verschieden gewesen sein; doch wird der deutsche Teil der Bevölkerung als Inhaber der Bürgermeister- und Ratsherrnposten wie anderer höherer städtischen Ämter regelmäßig die herrschende Schicht gewesen sein. Man wird dies annehmen dürfen, wenn auch spezielle Untersuchungen über die Herkunft der Beamtenfamilien für Mecklenburg gar nicht, für andere Teile des Kolonisationsgebietes bisher nur ganz vereinzelt vorliegen 21 ) und die Entscheidung dadurch erschwert wird, daß im 13. Jahrhundert im allgemeinen die Familiennamen noch nicht festgeworden sind und häufig daher nur die Vor- oder Taufnamen der consules usw. in den Urkunden genannt werden. Der Reiz zur Ansiedlung Altdeutscher hat in den beiden Hansastädten Rostock und Wismar am stärksten gewirkt, aber auch in den Landstädten (Güstrow, Teterow, Waren, Parchim, Plau, Goldberg, Röbel, Penzlin usw.) 22 ) weisen die überlieferten Personennamen der consules usw. überwiegend oder teilweise auf deutsche Abstammung der städtischen Beamtenschaft hin. Vielleicht hat sich die Forderung deutscher Herkunft erst allmählich durchgesetzt. Es fällt wenigstens auf, daß die zunftmäßig organisierten gewerblichen Verbände, zu denen in ältester Zeit auch Slaven gehörten 23 ), erst


21) Nach Wilh. Polthier, Die Herkunft und Zusammensetzung der Greifswalder Ratsfamilien in geographischer und sozialer Hinsicht. Diss. Greifsw. 1923 waren die Ratsfamilien Greifswalds durchaus deutscher, insbesondere niedersächsischer und niederfränkischer Herkunft.
22) Vgl. K. Hoffmann a. a. O. S. 125 (Güstrow), S. 139 (Teterow), S. 146 (Waren), S. 98 (Parchim), S. 103, 104 (Plau), S. 107 (Goldberg), S. 136 (Röbel), S. 138 (Penzlin).
23) So werden z. B. die Speckschneider Rostocks auch "Slavi" genannt (M.U.B. Bd. 7 Nr. 4608); "im Jahr 1330 ward die Befugnis der Wenden (Slavi lardum vendentes), Speck zu verkaufen, den Knochenhauern gegenüber, vom Rathe geordnet" (Lisch, Jahrbb. Bd. 21 S. 29, S. 42). Die Küter d. i. Schlächter, die sich auf das Verarbeiten der Eingeweide beschränkten, waren ebenfalls Wenden, während zum vornehmeren Schlächtergewerbe, den Knochenhauern, nur Deutsche Zutritt hatten. Fr. Bertheau. Zeitschr. d. hist. Ver. f. Niedersachsen, Jahrg. 77, 1912 S. 153 vermutet hiernach, daß die Wenden nur die weniger angesehenen Gewerbe betrieben.
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in späterer Zeit, wie es scheint, und mit wachsendem Nachdruck die Forderung "echter und rechter Geburt von guden deutschen Leuten" erheben 24 ).

Die deutschstämmige Bevölkerung ist zum mindesten in den großen Städten Mecklenburgs, wie gewiß auch anderer Länder des Kolonisationsgebietes, das ausschlaggebende, herrschende Element gewesen. Man darf daher ohne weiteres annehmen, daß die von jenen Städten inkorporierten, in der Bannmeile gelegenen Dörfer 25 ), welche Bürgerrecht erhielten, schnell dem germanisierenden Einfluß der innerhalb der Stadtmauern angesessenen Bürgerschaft erlegen sind. Darüber hinaus aber haben größere Städte durch planmäßige Kolonisation außerhalb der städtischen Feldmark den deutschen Einfluß weit in das Land hineingetragen. Die eine Form dieser Kolonisation ist die namentlich in Schlesien und Großpolen weit verbreitete sog. "Stadt-Landsiedlung": Die Städte als solche hatten in Großpolen von Anfang an den Beruf, auch das Land zu besiedeln; in Schlesien erhielten die Stadtlokatoren oftmals schon im Gründungsprivileg den Auftrag, das Territorium mit Dörfern zu besetzen 26 ). Die Form dieser "Stadt-Landsiedlung"


24) Die Rostocker Zunftrollen fordern dort, wo sie von den Lehrlingen handeln, daß diese vor der Aufnahme angesichts der Zunftvorsteher Ihre echte und rechte Geburt "von guden dudeschen luden" bezeugten; vgl. z. B. die Rollen der Grapen- und Kannengießer (Rostocker Stadtarchiv, liber arbitriorum II fol. 26 b), der Goldschmiede (Art. 9), der Böttcher (Art. 10) und anderer Gewerbe. Der gleiche Brauch galt in der Mark Brandenburg z. B. bei den Schustern in Freienwalde 1414 (Riedel, Cod. dipl. brand. 1 XII 386, VII), bei den Pelzern in Neuruppin 1434 (Riedel 1 IV 324 ff. XLIV), und Webern in Neuruppin 1440 (a. a. O. 1 IV 331 ff. L). Die Pelzer und Weber forderten echt deutsche Geburt "durch eine Reihe von 4 Ahnen hindurch". Vgl. auch Bruno König, Die Handwerksprivilegien der Breslauer Bischöfe. Zeitschr. f. Gesch. und Kulturgesch. Österreichisch-Schlesiens, Jahrg. 3, 1907/8 S. 23; I. Höhler, Die Anfänge des Handwerks in Lübeck. Archiv f. Kulturgesch., 1903, Bd. 1 S. 163 ff. etc.
25) Die Stadtmark der Stadt Posen umfaßte innerhalb der Bannmeile nicht weniger als 17 Dörfer.
26) Vgl. Rich. Koebner, Deutsches Recht und deutsche Kolonisation in den Piastenländern. Vierteljahrschr. f. Soz.- und Wirtschgesch., 1932 Bd. 25 S. 313-352. Koebner führt hier auf S. 335 Beispiele aus Tzschoppe = Stenzel (Nr. 45, 51, 60) an. "Przemysl II. hat 1282 bei der Neugründung von Kalisch und 1290 im kleinpolnischen Miechow dem Stadtvogt zugleich die Lokation der Um- (  ...  )
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scheint sich nicht auf den Osten beschränkt zu haben, denn auch für Mecklenburg ist urkundlich überliefert, daß Fürst Heinrich Borwin II. 1226 die als "cultures" bezeichneten Unternehmer der Stadtgründungen von Parchim und Plau verpflichtete, die beiden Städte auszubauen und zugleich das Land (Parchim und Plau) zu kolonisieren 27 ); und, wie es scheint, beschränkte sich die kolonisierende Tätigkeit der Städte nicht auf Dorfgründungen. Es ist wahrscheinlich, daß Rostock z. B. an der Gründung der in der Herrschaft Rostock gelegenen Städte, die sämtlich an einem direkt nach ihrer Mutterstadt führenden Wege lagen, durch Initiative der Stadt und kapitalreicher, aus Ratsfamilien stammender Kaufleute beteiligt war. In den meisten Landesstädten dieser Herrschaft kamen Namen von Ratsmännern vor, die auch in Rostock von Ratsgeschlechtern geführt wurden. Der bekannte Rostocker Ratmann Arnold Kopmann oder ein Vorfahre desselben scheint Lokator der Stadtgemeinde Sülze gewesen zu sein 28 ).

Eine zweite, offenbar sehr verbreitete Form der bürgerlich-städtischen Kolonisation ist bisher wenig beachtet worden: Die Bürger der seit dem 12. Jahrhundert entstandenen, durch günstige Lage an der See oder an Handelsstraßen bevorzugten Gemeinden, die sich rasch mit Ansiedlern füllten und durch den Handel bereicherten, fanden auf dem Lande geeignete Anlage ihres durch Fernhandel und Kleinverkauf erworbenen Kapitals. Schon Caro 29 ) stellte fest, daß ländlicher Grundbesitz einen ansehnlichen Teil des Vermögens deutscher Stadteinwohner ausmachte. Julius Lippert 30 ) und besonders Ad.


(  ...  ) gebung übertragen" (S. 338). Koebner verweist auf S. 330 auch auf Erzbischof Wichmann von Magdeburg, der "den Platz Jüterbogk als ein Ordnungszentrum vorgesehen, das der Kolonisation des Landes einen Rückhalt geben soll." Vgl. auch Heinr. Bechtel, Mittelalterliche Siedlung und Agrarverhältnisse im Posener Lande. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Gutsherrschaft. Schmollers Jahrb., 1925, Jahrg. 49 S. 115-145, insbes. S. 133/134.
27) Karl Hoffmann a. a. O. (Meckl. Jahrbb., 1930) S. 96, 102, 158.
28) K. Hoffmann a. a. O. S. 57 ff.
29) G. Caro, Ländlicher Grundbesitz von Stadtbürgern im Ma. Jahrbb. f. Nat. und Stat. Bd. 86 (III Folge Bd. 31) Jena 1906 S. 721-743: Ders., Neue Beiträge zur deutschen Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte, Leipzig 1911 S. 130 ff.
30) Jul. Lippert, Bürgerlicher Grundbesitz im 14. Jahrh. Mitt. d. Ver. f. Gesch. der Deutschen in Böhmen, Jahrg. 40, 1901 S. 1-50, 169-211, bes. S. 173, 191.
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Zycha 31 ) führten dann für Böhmen den Nachweis, daß zahlreiche Kaufleute Prags ganz überwiegend deutscher Herkunft während des 13. und 14. Jahrhunderts in einem Umkreise von 3 km. im Durchmesser um die Stadt herum geradezu "allen Landbesitz an sich brachten, der sich nicht im Besitz der toten Hand oder als Deputatland in den Händen der hohen Landesämter befand"; und Prag war nicht die einzige Stadt Böhmens, welche das flache Land in ihrem Umkreise in Besitz nahm. Gewiß bezweckte dieser bürgerliche "Agrarkapitalismus" zum großen Teil Anlage erworbenen Kapitals in Rentenform; doch hören wir auch von Landerwerbungen, die nach Art der Lokation erfolgten, indem unternehmende Bürger kaufweise Herrschafts-und Stiftsgrund zur Neubesiedlung übernahmen; sie erhielten dann bisweilen Freihufen und andere Vorrechte des Lokators; und häufig kam es gewiß schon damals vor, daß Kaufleute, deren Familien im Handel ihrer Vaterstadt reich geworden waren, aus Ehrgeiz oder anderen Gründen ein ritterliches Leben als fürstliche Lehnmannen vorzogen und mit der Standeserhöhung, welche die Ritterwürde verlieh, in die Schicht der landesherrlichen Ritterschaft emporstiegen 32 ). Eine mehr oder minder ausgedehnte kolonisatorische Tätigkeit ging also auch von Einzelbürgern der Städte aus. Der Völkerwanderung, welche zur Zeit der Entstehung des Städtewesens die Dörfer entleerte, folgte im 13. und 14. Jahrhundert eine Rückwanderung von den Städten aus auf das flache Land.


31) Ad. Zycha, Über den Ursprung der Städte in Böhmen. Mitt. d. Ver. f. Gesch. der Deutschen in Böhmen, 1914 Bd. 52 S. 2 ff., 263 ff., 559 ff., bes. S. 570 ff. und Bd. 53 (1915) S. 124-170. Vgl. auch Rich. Koebner, Vierteljahrschr. f. Soz.- und Wirtschgesch. 1932 Bd. 25 S. 313-352, bes. S. 333, 336: "Der bürgerliche Landerwerb jenseits der Grenzen (der Stadtmark) hat nicht immer, aber doch sehr häufig kolonisatorische Bedeutung", S. 338; G. Pfeiffer, Das Breslauer Patriziat im Mittelalter, Darstellungen und Quellen zur schles. Gesch. Bd. 30, 1929; Martin Hefenbrock, Lübecker Kapitalsanlagen in Mecklenburg bis 1400, Diss. Kiel 1929; Hagedorn, Verfassungsgeschichte der Stadt Magdeburg bis zum Ausgange des 13. Jahrh., Geschbl. f. Stadt und Land Magdeburg, 1882 Bd. 17 S. 311 ff.
32) Vgl. R. Koebner a. a. O. S. 329 Anm. 1; Jul. Lippert a. a O. S. 175, 191; Ulr. Römer a. a. O. S. 78 ff.; A. Hagedorn, Verfgesch. der Stadt Magdeburg. Geschbll. f. Stadt und Land Magdeburg, 1885 Bd. 20 S. 91, 92.
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Die Erforschung dieses wichtigen, keineswegs dem Kolonialgebiet eigentümlichen Vorganges hat sich bisher im wesentlichen auf böhmisches und polnisches Gebiet beschränkt, in der Landesgeschichte Mecklenburgs und anderer deutscher Kolonialländer dagegen noch keine Beachtung gefunden; doch kann es nicht zweifelhaft sein, daß Bürger Rostocks 33 ), Wismars und anderer mecklenburgischer Städte Renten, Liegenschaften, Landgüter usw. im Umkreis des gesamten mecklenburgischen Gebietes schon seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, mehr noch im 14. Jahrhundert erwarben und damit zugleich die Germanisation des flachen Landes gefördert haben.

Die Kolonialstadt auf ehemals slavischem Boden ist die Pflegestätte deutschen Lebens im weitesten Sinne gewesen. Diese Tatsache kommt vor allen Dingen in der Verleihung deutschen Stadtrechtes zum Ausdruck, "einem der bedeutendsten Prozesse der Kulturexpansion und -assimilation". Die Slaven haben vor der Kolonisationszeit ein eigenes Stadtrecht nicht entwickelt. Das den Stadtsiedlungen verliehene deutsche Recht aber, mochte es Lübecker oder Magdeburger, Freiburger oder Rostocker oder ein anderes Recht sein (Rostock war die Tochterstadt von Lübeck), verpflanzte nicht etwa bloß deutsche Rechtsinstitute auf slavischen Boden; ebenso wie das den neugegründeten Dörfern verliehene jus teutonicum (flamingicale oder franconicum) keine bloße Rechtsordnung enthielt, sondern im Gegensatz zum jus polonicum ganz einfach die Verhältnisse der Dörfer nach deutscher Art bezeichnete, so ging auch mit der Verleihung des Stadtrechtes die ganze Lebensform der freien deutschen Stadtgemeinden, die materielle und geistige Kultur, mit dem Recht und Schöffengericht auch das Prozeßverfahren, mit dem wirtschaftlichen und sozialen Leben das Schul- und Bildungswesen, das künstlerische und geistige Schaffen nach deutscher Art auf die neue bürgerliche Gemeinde über. Die einzelnen Phasen dieser Entwicklung lassen sich nicht mehr erkennen. Aber das Ergebnis liegt klar zutage. Eine Vorstellung von der Bedeutung desselben wird sich gewinnen lassen, wenn wir versuchen, wenigstens die hauptsächlichsten Auswirkungen jener revolutionären Umgestaltung hervorzuheben, die sich im deutschen Mutterland wie auf kolonialem


33) Vgl. P. Meyer, Die Rostocker Stadtverfassung. Mecklenb. Jahrbb. (1929) Bd. 93 S. 47 ff.
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Boden des Nordens und Ostens vollzog, als sich das Reich seit dem 11. Jahrhundert vom Westen und Süden bis zur Nord- und Ostgrenze mit deutschen Städten bedeckte.

II.

Allgemeine Bedeutung des deutschen Städtewesens.

Die deutsche Kolonisation der ehemals slavischen bzw. preußischen Gebiete des Ostens und Nordens, "die größte und folgenreichste Wandlung, die das deutsche Reich während des ganzen Mittelalters in seiner inneren Gestaltung erfahren sollte", hat in den zeitgenössischen Quellen nur einen ganz dürftigen Niederschlag hinterlassen. Da die literarische Überlieferung fast ganz versagt, erhalten wir Kunde über die Stadtgründungen und -erhebungen im wesentlichen nur aus den urkundlichen Quellen, namentlich den Lokationsverträgen, welche das rechtliche Verhältnis zwischen Grundherrn und Lokator regeln, aber über die Vorgeschichte der einzelnen Gründungen, die inneren Triebkräfte der Bewegung, die Motive und Ziele der Gründer nur ganz selten knappe Auskunft geben.

Die Zeit der Städtegründungen verändert schon äußerlich den Boden des Reiches. Nicht nur entstanden innerhalb einer fast rein agrarischen Bevölkerung hunderte von größeren und kleineren Städten mit Festungsanlagen zum Schutz der Bürger, mit dichtgedrängter Bevölkerung, Gewerbe und Handel; auch das flache Land wurde von der Bewegung aufs stärkste erfaßt. Die bäuerliche Bevölkerung geriet in Bewegung. Wie in unserer Zeit die Anziehungskraft der Großstadt wirkt, so drängten im 12./13. Jahrhundert die Bewohner des Landes, auch zahlreiche Hörige und Unfreie, in die Städte, wo sie neben äußerem Schutz Freiheit der Person und des Eigentums, bessere Erwerbs- und Bildungsmöglichkeiten, Freuden der Geselligkeit und erhöhten Genuß des Daseins fanden. Die Worte Schmollers sind kaum übertrieben: "Es war wie eine Vö1kerwanderung vom platten Lande nach den Städten" 34 ). Auch


34) G. Schmoller, Straßburgs Blüte und die volkswirtschaftliche Revolution im 13. Jahrh., in: "Deutsches Städtewesen in älterer Zeit". Bonner staatswirtschaftliche Untersuchungen, Heft 5, Bonn 1922 S. 167.
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hiervon schweigt die literarische Überlieferung. Nur ein sprechendes Zeugnis der Bevölkerungsverschiebung ist noch heute erhalten: die große Masse der im Umkreis der Städte und in den Stadtfeldmarken selbst gelegenen Wüstungen. Die Zahl derselben ist auffallend groß; nach den Ausführungen Jos. Lappes, der die Wüstungen der Provinz Westfalen in einem verdienstlichen Buche behandelt, sind z. B. im Territorium der früheren Reichsstadt Mühlhausen i. Th. mehr als zwei Drittel der Ortschaften verschwunden; "in Nordthüringen machen die 500 Wüstungen mehr als das Doppelte der bestehenden Ortschaften aus". In der Altmark ist nur noch der dritte Teil der vorhandenen Siedlungen erhalten 35 ). Diese merkwürdigen Tatsachen sind nicht bloß zu erklären aus Verwüstungen der Kriege, etwa des dreißigjährigen Krieges; "denn einerseits bestehen fast alle Orte, die vor dem dreißigjährigen Kriege genannt werden, auch heute noch, andererseits lagen die Siedlungen, die heute verödet sind, schon vorher wüst; und wenn Dörfer zerstört wurden, sind sie in der Regel wieder aufgebaut worden 36 ). Auch Feuersbrünste, elementare Ereignisse, wie Sturmfluten u. dgl., das Auskaufen der Bauernstellen (Bauernlegen) wirkten nicht entscheidend ein. Die weitaus größte Zahl der Wüstungen ist, wie es scheint, in der Zeit der Stadtgründungen dadurch entstanden, daß einzelne Dörfer durch Vereinigung zu größeren Gemeinden zusammengelegt und viele Städte durch Aufnahme einzelner Bauern und Angliede-


35) Jos. Lappe, Die Wüstungen der Provinz Westfalen. Veröffentlichungen der histor. Kommission für die Prov. Westfalen, Münster i. W. 1916 S. 1, 2; vgl. bes. S. 70-85 (Die Wüstungen in der Umgebung der Städte), S. 86-121 (Die Sondergemeinden in den Städten); vgl. auch F. Curschmann, Die Aufgaben der histor. Kommission bei der Erforschung der mittelalterl. Kolonisation Deutschlands, Altpreuß. Forschungen Jahrg. 4, 1927 S. 15 ff., S. 27 ff. (Wüstungsverzeichnisse und Flurnamensammlungen; bes. für die Prov. Sachsen); er zählt S. 28 ff. die bis dahin erschienenen Wüstungsverzeichnisse auf, soweit sie das Kolonisationsgebiet betreffen; Festschrift für Rud. Kötzschke zum 60. Geburtstag "Deutsche Siedlungsforschungen", Leipz. 1927 S. 17 ff. (S. 141-160: Das Wüstungsproblem); Alex. Coulin, Die Wüstung, Zeitschr. f. vergleichende Rechtswiss., Stuttg. 1915. Bd. 32 S. 326 ff.; Werner Spieß, Die Entstehung der deutschen Städte mit bes. Berücksichtigung der Stadt Frankenberg in Hessen. Deutsche Geschbll. Bd. 20, 1923 Heft 7/12 S. 97-110, insbes. S. 103 ff. Vgl. Dahlmann-Waitz, Quellenkunde z. dtschen Gesch. 9. Aufl. 1931 Nr. 181, 188, 191, 195.
36) Jos. Lappe a. a. O. S. 8, 9.
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rung ganzer Ortschaften vergrößert worden sind. Die meisten Wüstungen Westfalens, sagt Lappe, "sind in der Umgebung der Städte festgestellt"; es liegt auf der Hand, "daß die Häufung der Wüstungen an diesen Punkten durch die Stadt selbst verursacht sein muß". So erwähnt z. B. Werner Spieß, daß sich in der nächsten Nähe des hessischen Städtchens Frankenberg mehr als ein halbes Dutzend Wüstungen befindet 37 ). Die "Fluren der beiden Städtchen Barby und Kalbe (Nordthüringen) umschließen nicht weniger als je 17 Wüstungen". "Man wird nicht irren, wenn man annimmt, daß in den meisten Landstrichen die Zahl der wüsten Orte die der heute vorhandenen erreicht oder übertrifft" 38 ). Auch in Mecklenburg, dem noch ein Verzeichnis seiner Wüstungen fehlt, sind zahlreiche Wüstungen außerhalb der Stadtgebiete und innerhalb der Stadtfeldmarken vorhanden: in Rostock 5, in Wismar 4, in Plau 6, in Schwerin 3, in Grabow 3, in Güstrow, Teterow, Grevesmühlen, Bützow je 1 usw. 39 ). Das ungewöhnlich große Ausmaß der Landflucht wird auch durch die bisher vorliegenden Untersuchungen über die ältesten bürgerlichen Familiennamen bestätigt, nach denen Mecklenburg selbst an der Besiedlung Rostocks den verhältnismäßig größten Anteil gehabt hat. In den mittleren und kleinen Städten wird der Prozentsatz noch erheblich höher gewesen sein.

Die Landflucht hat schwere Schäden hervorgerufen; aber andererseits ist durch Aufnahme der teilweise slavischen Bevölkerung in den Städten die Germanisierung wesentlich gefördert worden.

Das Deutsche Reich verliert seit der Entstehung der Städte seinen mehr oder weniger ausschließlich agrarischen Charakter. "Aus einem Bauernvolk", schreibt Schmoller, "wird ein Volk mit Städten, Großhandel, Gewerbe und Kolonien; aus der Naturalwirtschaft wächst die Geld- und Kreditwirtschaft heraus. Es ist eine wirtschaftliche Revolution,. die ich fast für größer halten möchte als jede spätere, die das deutsche Volk seither erlebt hat. Die beiden großen Zeiten wirtschaftlichen und tech-


37) Werner Spieß, Verfassungsgesch. der Stadt Frankenberg im Ma., Marb. Diss. 1922 (handschriftlich) S. 10.
38) F. Curschmann a. a. O. S. 29.
39) Jahrbb. XII 1847 S. 181; Mecklenb. Urk.-Buch IV Index "Kämmereigüter" S. 436 ff.; Lappe a. a. O. S. 71 Anm. 4.
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nischen Fortschritts seither, die Renaissance mit Pulver, Kompaß und Buchdruckerei und das 19. Jahrhundert mit Dampfmaschinen und Eisenbahnen haben auch wunderbar tief gegriffen." ... "Aber doch könnte man versucht sein zu behaupten, diese beiden wirtschaftlichen Fortschrittsepochen seien mehr nur sekundäre Fortsetzungen des 13. Jahrhunderts" 40 ). Mit Recht spricht Schmoller von einer wirtschaftlichen "Revolution" jener Zeit. Die Städte werden die stärkste Wirtschaftsmacht. Die Entwicklung des Geld- und Kreditwesens in den Städten bringt auch die Landesherren in Abhängigkeit von den neuen Geldmächten, den "Mittelpunkten des Mobiliarkredits". Das Gewerbewesen, die eigentlichste Schöpfung der städtischen Wirtschaft, entwickelte sich in vielseitigster Gliederung. Das Handwerk erhob sich zu Leistungen höchsten künstlerischen Wertes, die noch heute das Stadtbild bestimmen. Neben dem Handwerk gedieh der Handel. Die Großkaufleute Rostocks, Wismars, Lübecks und anderer durch Verkehrslage begünstigten Städte trieben Fernhandel und häuften Reichtümer an.

Die Bedeutung der wirtschaftlichen "Revolution", von der Schmoller spricht, kann nicht leicht übertrieben werden. Aber die Umwälzung beschränkt sich nicht auf die Wirtschaft. Man kann mit gleichem Recht auch von einer sozialen Revolution jener Zeit sprechen, in der neben den bis dahin politisch maßgebenden Ständen, dem höheren Klerus und dem Adel bzw. der Ritterschaft, der dritte Stand, das Bürgertum, sich für Jahrhunderte zum maßgebenden Faktor und Kulturträger im deutschen Volk erhebt. Will man die wichtigste soziale Leistung der Kolonisationszeit mit kurzen Worten beschreiben, so wird man sagen dürfen: sie bestand in der Schöpfung eines freien Bauern- und Bürgerstandes in den kolonisierten Gebieten. Die slavische Zeit kannte weder Städte im deutschen Rechtssinne noch einen freien Bürger-, Handwerker- und Kaufmannsstand; auch der Begriff der Gemeinde war ihr fremd. Vor der deut-


40) G. Schmoller, Straßburgs Blüte und die volkswirtschaftliche Revolution im 13. Jahrh. Deutsches Städtewesen in älterer Zeit (Bonner staatswissenschl. Untersuchungen Heft 5, 1922) S. 163; Ders., Die Straßburger Tucher- und Weberzunft, Straßb. 1879 S. 407: "Die volkswirtschaftliche Veränderung überhaupt, die das deutsche Volk im 13-14. Jahrh. erlebte, ist wohl, abgesehen von der Gegenwart, die größte historisch nachweisbare. Erst im 13. Jahrh. gewann das städtische Leben einen beherrschenden Einfluß auf die ganze Volkswirtschaft."
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schen Kolonisation gab es in den ehemals slavischen Gebieten des Reiches nur Märkte, in denen die landesherrlichen Monopole "das Eigentum an allen Einrichtungen, die zur regelmäßigen Ausstattung des Marktes gehörten" 41 ), an Brot-, Fleisch- und Schuhbänken, Schenken, an der Fischerei usw. umfaßten. Das deutsche Stadtrecht, mit dem zugleich das slavische Marktrecht verschwand, ließ "die gewerbliche Nutzung der Monopole auf die Bürger übergehen"; sie brachte die Rechte und Pflichten der bürgerlichen Siedler in ein heilsames Gleichgewicht und schuf durch diese und andere Maßnahmen das Fundament zur Entstehung der deutschen Stadt, als eines eigenen Friedens- und Rechtskreises, "eines in sich rechtlich geschlossenen, in seinen inneren Angelegenheiten selbständigen genossenschaftlichen Gemeinwesens". Die Stadt in diesem Sinne war, wie auch das Rittertum, eine den Slaven unbekannte, der germanisch-romanischen Völkerwelt des Abendlandes eigentümliche Erscheinung. Die "deutschen Ritter", sagt Ranke, "standen gegen Letten und Slaven in einem steten Gegensatz"; niemals hat sich das Rittertum "über andere Nationen erstreckt. Weder an dem Rittertum noch an der Entwicklung der Städte haben andere Nationen jemals teilgenommen. Noch im Jahre 1501 baten die Russen zu Moskau, ihnen einen Ritter, einen eisernen Mann, wie sie sagten, zu senden, und staunten ihn als ein Wunder an" 42 ).

Die Epoche der Städtegründung vollendete den gesellschaftlichen Aufbau des deutschen Volkes, wie er sich von der Höhe des Mittelalters bis ins 19. Jahrhundert wenig verändert erhalten hat 43 ). Seitdem gliederte sich das Volk in ständische Gruppen: in eine ziemlich gleichartige Schicht ritterlich lebender Grundherren, in einen nach seiner wirtschaftlichen und rechtlichen Stellung im wesentlichen einheitlichen Bauernstand und ein freies, auch rechtlich vom Lande geschiedenes Bürgertum. Es war die soziale Grundlage für die Entstehung einer landständischen Verfassung.


41) R. Koebner a. a. O. S. 347.
42) L. v. Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494-1535, Leipzig-Berlin, 1824 S. XXIX, XXXI.
43) Vgl. Otto Brunner, Bürgertum und Städtewesen im deutschen Mittelalter. In: Das Mittelalter in Einzeldarstellungen, Wien 1930 S. 157.
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Die Erhebung des Bürgertums in den aufblühenden Städten lenkte mit der sozialen und wirtschaftlichen Revolution auch das staatliche Leben in neue Bahnen; sie erschütterte den Lehnstaat in seinem Bestand und bereitete den Boden für eine neue Staatsform, die Entstehung der ständischen Verfassung. Zwei Gewalten vornehmlich durchbrachen das Gefüge des zur Zeit überwiegender Naturalwirtschaft entstandenen Lehnstaates: die Verselbständigung des Fürstentums (die Entstehung der Landesherrlichkeit in den deutschen Fürstentümern) und die mächtige Entfaltung des Städtewesens mit seiner Geldwirtschaft und neuen Kultur. Das Bürgertum, der dritte Stand, der in der Lehnsordnung keinen Platz mehr fand, erwies sich seit dem 12./13. Jahrhundert in ähnlicher Weise als revolutionäres Element, wie der mit der Großindustrie entstandene vierte Stand, die Arbeiterschaft, im 19. Jahrhundert; es sprengte allmählich die mit den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht mehr übereinstimmende, daher unwahr gewordene und überlebte Form des Lehnstaates. Dadurch erlitten Reich und Länder eine vollständige Änderung ihrer staatsrechtlichen Grundlagen. Die größeren, durch politische Selbständigkeit und Reichtum ausgezeichneten Stadtgemeinden erhoben sich neben den beiden älteren politisch einflußreichen Ständen, dem Klerus und Adel bzw. der Ritterschaft, als selbständige Glieder des staatlichen Organismus, sie übernahmen mit der Erwerbung der wesentlichen Hoheitsrechte staatliche Funktionen und bildeten innerhalb ihrer Mauern zugleich eine Verwaltung aus, wie sie das deutsche Reich bis dahin nicht gekannt hatte. Die Selbstverwaltung war "das eigentümlichste Gebiet der städtischen Autonomie". Die Städte bauten den Bereich der inneren Verwaltung, den man damals als "Polizei" zu bezeichnen pflegte, die Lebensmittel-, Teuerungs-, Bau-, Straßen- und Verkehrs-, Feuer-, Luxus- und Sicherheitspolizei in eigenartiger Weise aus; die kommunale Verwaltung umfaßte auch das Unterrichtswesen, Kranken- und Armenpflege, Gebiete, welche bis dahin ganz oder teilweise die Geistlichkeit sich vorbehalten hatte.

Die mehr oder minder große politische Selbständigkeit, das Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht ermöglichten es den Stadtgemeinden, wenigstens den mächtigeren und reichsten, nicht bloß Wirtschaft und Recht, Gewerbe- und Zunftwesen, sondern auch Bildung und Schulwesen, die lebenswichtigen Gebiete des staatlichen Lebens, nach eigenem Interesse zu

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gestalten. Bürgerliche Schulen entstanden neben den geistlichen. Das gewerbliche Bürgertum pflegte zugleich die Kunst in technischen Leistungen von hohem Wert, hochragenden Domen und Münstern, die mit Stadtmauern und Markt, Rathaus und Bürgerhäusern das neue eigenartige Bild einer deutschen Stadt bestimmen. Die Sorge für Bildungswesen und Kunst, im früheren Mittelalter ein Vorrecht des Klerus, seit der Kreuzzugszeit zugleich der ritterlichen Laien, fiel nunmehr auch dem Bürgertum zu; dadurch verstärkte sich das Laienelement, das am Kulturleben teilnahm. Das bürgerliche Dasein hat damals auch auf dem Kolonialboden im Norden und Osten des Reiches deutsche Prägung erhalten; und wie es scheint, hat die Reformationszeit den germanisatorischen Prozeß zu einem gewissen Abschluß geführt. Die religiösen Gedanken entwickelten damals eine solche Kraft, daß die nationalen Gegensätze dagegen zurücktraten. Die "gemeinschaftsbildende Kraft des Protestantismus" ließ die Verschiedenheit der Herkunft verschwinden. "Die in Preußen - und im heutigen Memelgebiet - angesiedelten Litauer sind nicht zum wenigsten durch die protestantische Glaubensgemeinschaft hindurch zu Preußen geworden - von ihren katholischen Volksgenossen im alten polnischen bzw. russischen Staatsgebiet durch eine tiefe kulturelle Kluft getrennt" 44 ). Auch diese folgereiche, noch wenig beachtete Bewegung hat von den Städten, "den stehenden Heereslagern der Kultur" (wie Herder sie nennt), ihren Ausgang genommen.

Das Städtewesen auf kolonialem Boden ist in dem eben angedeuteten umfassenden Sinne deutsches Einfuhrgut gewesen.

Dieser allgemeine tiefgreifende Wandel, den die städtische Kultur verursachte, vollzog sich ganz wesentlich während der Kolonisationszeit des 12. und 14. Jahrhunderts. Es ist sehr merkwürdig, daß sogar in der äußeren Ausdehnung der Stadtgemeinden seit dem 14. Jahrhundert ein langdauernder Stillstand eintrat. Die Städte haben seit der zweiten Hälfte des


44) H. Rothfels, Das Problem des Nationalismus im Osten (in: Deutschland und Polen, herausgeg. von A. Brackmann, 1933) S. 261 und Max Hein ebendas. S. 129. Vgl. auch Bauer, Die Glaubensspaltung in Ost- und Westpreußen und ihre nationalpolitischen Auswirkungen. Korrespondenzbl. des Gesver., Jahrg. 77, 1929, Sp. 17-33. Ob und wie weit die protestantische Glaubensgemeinschaft auch in Mecklenburg ausgleichend gewirkt hat, bedarf noch der Untersuchung.
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14. Jahrhunderts, wie Püschel an 15 Beispielen, Lübeck, Rostock, Wismar, Stralsund, Magdeburg usw., nachgewiesen hat 45 ), ihren räumlichen Umfang im wesentlichen bis zur Zeit der großstädtischen Entwicklung und Industriealisierung des 19. Jahrhunderts beibehalten. Diejenigen Städte, die sich in der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert erweiterten, haben sich, wie z. B. Hamburg und Bremen, insbesondere die modernen Residenzstädte Berlin, Königsberg, Dresden, Neustrelitz 46 ) u. a., meist unter Ausnahmebedingungen entwickelt.

Die völkische Grundlage der Germanisotion ist in den großen, mittleren und kleinen Städten zweifellos sehr verschieden gewesen. Man kann sie mit Hilfe der Namenforschung (der Herkunftsnamen, die nur einen Teil der Namen aller feststellbaren Bürger ausmachen) vielleicht annähernd feststellen für einige größere Städte, für Rostock, Wismar, Stralsund, Lübeck u. a., wo ausnahmsweise die Stadtbuchführung mit ihren Eintragungen bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht 47 ), und dadurch wenigstens eine ungefähre Vorstellung von der Zusammensetzung der Bevölkerung gewinnen. Noch weniger aber als die ethnische Grundlage ist der Prozeß der Eindeutschung selbst, der sachlich und zeitlich nicht minder ungleich verlaufen sein wird, nach seiner Entwicklung und seinen äußeren Erscheinungsformen genauer festzustellen. Es bleibt daher nur übrig, aus dem augenfälligen Gegensatz slavischer und deutscher Zeit, aus der Summe all jener Produktionen, welche die deutsche Kultur mit dem Stadtrecht hervorbrachte,


45) Alfr. Püschel, Das Anwachsen der deutschen Städte in der Zeit mittelalterlicher Kolonialbewegung (Abhandl. z. Verkehrs- und Seegeschichte, herausgeg. von Dietr. Schäfer Bd. 4), Berlin 1910; Fritz Curschmann, Jahrbb. f. Natök. und Stat. 3. Folge, Bd. 44, 1912 S. 110; G. Schmoller, Deutsches Städtewesen S. 168; Hampe, Der Zug nach dem Osten, Heidelberg 1920 S. 44.
46) Endler, Geschichte der Landeshauptstadt Neustrelitz 1733 bis 1933, 1933.
47) Die Rostocker Stadtbücher sind vom Jahre 1257/8 an fast lückenlos erhalten; das älteste Wismarer Stadtbuch reicht von 1250-1272; das älteste Stralsunder Stadtbuch beginnt mit dem Jahre 1270, vgl. F. Fabricius, Das älteste Stralsunder Stadtbuch (1270-1310) Berlin 1872. Das älteste Oberstadtbuch von Lübeck (Grundbuch) beginnt nach Auskunft des Lübecker Staatsarchivs "1284 oder eigentlich schon Ende 1283. Das älteste Niederstadtbuch (öffentliche Buchung privater Rechtsgeschäfte) beginnt 1311" usw.
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sich wenigstens - wie es in diesen Aüsführungen versucht worden ist - eine annähernd richtige allgemeine Vorstellung von dem Umfang und den tiefgreifenden Wirkungen des mit der Germanisation beginnenden Kulturwandels zu bilden. Die Städte sind die eigentlichen Träger dieser Bewegung, das Rückgrat der Germanisation in den ehemals slavischen bzw. preußischen Gebieten des Reiches gewesen.

 

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