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I.

Über die Grenzen der Staatshoheit
von Mecklenburg-Schwerin
und Lübeck in der Lübecker Bucht.

 

Rechtsgutachten

des

Staatsministers i. R. D. Dr. Langfeld=Schwerin.

 

Vignette
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I.

Zwischen dem Freistaat Mecklenburg-Schwerin und der freien Stadt Lübeck ist eine Meinungsverschiedenheit entstanden über die Grenzen ihrer Staatshoheit an der Lübecker Bucht, insbesondere hat die Stadt Lübeck geltend gemacht, daß ihr die Staatshoheit auch an dem Wassergebiete der Ostsee zustehe, welches die mecklenburgische Küste von der Landesgrenze beim Priwall ab ostwärts bis zur Mündung des Baches Harkenbeck bespült, während Mecklenburg an dieser Wasserfläche, soweit sie als Küstengewässer anzusehen ist, die Staatshoheit für sich beansprucht.

Eine Entscheidung dieses Rechtsstreites soll durch die nachstehenden Ausführungen versucht werden.

II.

Für die Entscheidung sind die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechtes über die Bestimmung der das offene Meer berührenden Grenzen eines Staatsgebietes maßgebend.

Nach Artikel 4 der Reichsverfassung gelten diese Regeln als bindende Bestandteile des Deutschen Reichsrechtes. Gegen ihre Anwendung auf den vorliegenden Fall kann nicht eingewandt werden, daß nach der Reichsverfassung (vgl. Art. 6 Ziff. 1, Art. 78 Abs. 1 ) die Beziehungen zum Auslande Sache des Reiches sind, und deshalb jene völkerrechtlichen Normen nur noch für die Grenzen des Reichsgebietes gegenüber dem Meere, nicht aber auch für die Bestimmung der Meeresgrenze zwischen deutschen Ländern zur Anwendung kommen können. Denn nach Artikel 2 der Reichsverfassung besteht das Reichsgebiet "aus den Gebieten der deutschen Länder". Die letzteren waren vor dem Eintritt in den Norddeutschen Bund, aus dem das Deutsche Reich hervorgegangen ist, völkerrechtlich selbständige Staaten. Ihr Gebiet, mit dem sie in den Norddeutschen Bund und später in das Reich übergegangen sind, bestimmte sich nach den Regeln des Völkerrechtes auch für ihre Beziehungen zueinander. Es muß deshalb auch heute noch für die Bestimmung der Seegrenze zwischen den Ländern Mecklenburg und Lübeck auf die völker-

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rechtlichen Grundsätze zurückgegriffen werden, die bei ihrem Eintritt in den Norddeutschen Bund bestanden haben. Seitdem sind Änderungen dieses Gebietes nicht erfolgt, insbesondere nicht nach Maßgabe des Artikel 18 Abs. 1 Satz 2 der neuen Reichsverfassung vom 11. August 1919.

III.

Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechtes über die Grenzen zwischen Staatsgebiet und offenem Meere sind folgende:

1. Eine rechtliche Herrschaft an dem offenen Meere ist nicht möglich. Schon nach dem auf dem römischen Rechte beruhenden gemeinen Rechte war das Meer eine res extra commercium, an der eine rechtliche Herrschaft ausgeschlossen war, eine res communis omnium, die dem Gebrauche aller hingegeben ist 1 ).

Der Freiheitsbegriff des Mittelalters, welcher als Grenzen seiner Betätigung nur die von der Natur oder der persönlichen Schwäche des Handelnden gegebenen Schranken anerkannte, hat freilich sich durch jenen Rechtssatz nicht gebunden gefühlt. Daraus erklärt es sich, daß nicht nur die großen, Seeschiffahrt treibenden Nationen, sondern auch kleine deutsche Territorialherren, deren Gebiet an die See stieß, sich besondere Rechte an dem Meere anmaßen konnten. Ein Beispiel ist das der Stadt Rostock vom Landesherrn eingeräumte Recht, die Fischerei auf der Ostsee, soweit sie sich auf diese hinauszubegeben getrauen sollten, auszuüben. Seitdem jedoch die von Hugo Grotius vertretene Rechtsansicht 2 ) von der bindenden Kraft völkerrechtlicher Normen überhaupt und von der völkerrechtlich gesicherten Freiheit des Meeres insbesondere Gemeingut der Kulturnationen geworden war, ist diese Ansicht auch an die Stelle alter, hiervon abweichenden mittel-


1) Vgl. Windscheid, Pandekten 1, § 146, und Heffter, Das europäische Völkerrecht der Gegenwart, 8. A. 1888, § 74 S. 163, sowie v. Martens, Das internationale Recht der zivilisierten Nationen, 1883/86, § 97: "Als unbestrittenes Dogma des positiven Völkerrechtes gilt gegenwärtig, daß das offene Meer vollkommen frei ist und kein Staat sich Hoheitsrechte über dasselbe anmaßen darf, selbst wenn er tatsächlich die Möglichkeit, anderen Staaten dort Gesetze vorzuschreiben, haben sollte." - Vgl. auch Schücking, Das Küstenmeer im internationalen Rechte, 1897, S. 2.
2) Vgl. seine Schriften: Mare liberum seu de jure quod Batavis competit ad Indica Commercia (1609) und De jure belli ac pacis libri irres (1625).
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alterlichen Rechtsanschauungen getreten. Es hat sich deshalb auch für den an das mecklenburgische und lübische Gebiet grenzenden Teil der Ostsee der allgemeine völkerrechtliche Grundsatz der Freiheit des offenen Meeres gegenüber abweichenden partikulären Rechtsbildungen durchgesetzt.

2. Es entsteht jedoch die Frage: Was ist unter dem "offenen" Meere im Sinne dieser Rechtsnorm zu verstehen?

Die allgemein anerkannte Lehre des Völkerrechtes unterscheidet von dem offenen Meere die "Küstengewässer" und die "Eigengewässer" 3 ).

a) Küstengewässer ist der Saum des Meeres, welcher die Küste eines Landes bespült. Dieser Meeresteil unterliegt der Staatsgewalt des Uferstaates, aber nur in einzelnen Beziehungen. Der Uferstaat kann in Ausübung seiner Pflicht, Land und Bürger gegen die aus dem freien Zugang über das Meer her drohenden Gefahren zu schützen, auf dem Küstenmeer Abwehr- und Sicherungsmaßnahmen treffen. Dies gilt nicht nur von der Verteidigung gegen militärische Angriffe, sondern auch von dem Schutt gegen Einschleppung von Seuchen und Krankheiten sowie von der Verhütung von Zolldefrauden und Verfehlungen gegen die Finanzgesetze. Der Uferstaat hat andererseits die friedliche Handelsschiffahrt und Fischerei auf dem Küstenmeer zu dulden, kann jedoch die Fischerei und Küstenschiffahrt auf diesem Meeresteile seinen eigenen Staatsangehörigen vorbehalten. Auf dem Boden dieser Rechtsanschauung steht auch das Reichsgesetz vom 22. Mai 1881, betr. die Küstenschiffahrt (RGBl. S. 97), indem es im § 1 bestimmt:

"Das Recht, Güter in einem deutschen Seehafen zu laden und nach einem anderen deutschen Seehafen zu befördern, um sie daselbst auszuladen (Küstenfrachtfahrt), steht ausschließlich deutschen Schiffen zu."

im § 2 aber zuläßt, daß ausländischen Schiffen dieses Recht durch Vertrag oder Kaiserliche Verordnung eingeräumt werden kann.

Die Grenze des Küstenmeeres bilden nach der Landseite die Linie des tiefsten Standes der Ebbe, nach der Seeseite eine dem Ufer parallel laufende Linie in Entfernung von 5 Seemeilen


3) Vgl. Schücking a. a. O. S. 3 ff., aber auch: Heffter a. a. O. §§ 75, 76; v. Martens a. a. O. §§ 99, 100; Heilborn, Völkerrecht, und v. Holtzendorff, Encyklopädie der Rechtswissenschaft, 1904, II §§ 12, 18 S. 1004, 1008; v. Lißt, Das Völkerrecht, in Birkmeyers Encyklopädie der Rechtswissenschaft, 1901, § 5 S. 1274.
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= 5,565 Kilometern. Diese Grenzbestimmung hat in der völkerrechtlichen Theorie und Praxis allgemein die früher üblich gewesene unbestimmte Normierung "auf Kanonenschußweite" verdrängt 4 ).

Die Normalgrenze des Küstenmeeres von 3 Seemeilen muß jedoch eine Einschränkung erleiden, wenn sie hinübergreift in das nach dem gleichen Maßstabe begrenzte Küstenmeer eines anderen Staates. Dieser Fall ist gegeben, wenn zwei Staaten durch einen Meeresteil getrennt werden, der eine geringere Breite hat als sechs Seemeilen, oder wenn die Uferlinie von zwei am Meere aneinander stoßenden Staaten nach innen gebogen ist, so daß die vom Ufer des einen Staates gezogene senkrechte Linie von drei Seemeilen sich mit der vom Ufer des anderen Staates gezogenen Senkrechten Linie von drei Seemeilen schneiden muß. In der völkerrechtlichen Literatur besteht jedoch Einverständnis darüber, daß in diesen Fällen die Küstengewässer der beiden Staaten beschränkt werden. Im ersten Falle, wenn die Staaten durch einen schmalen Meeresarm getrennt werden, wird die Grenze gegeben durch die Mittellinie zwischen beiden Staaten. Im zweiten Falle, wenn die Seegrenzen des Küstengewässers beider Staaten sich schneiden, wird die Grenze gegeben durch eine Linie, die von der Ufergrenze der Staaten ab so in das Meer geführt wird, daß jeder Punkt der Linie von dem Ufer beider Staaten gleich weit entfernt ist 5 ).

Da die Anerkennung des Hoheitsrechtes an dem Küstenmeere auf dem Zwecke, das Land an der Seeseite zu schüren, beruht, so ergibt sich, daß die Rechte am Küstenmeer aus der Staatshoheit über das Landgebiet herausgewachsen sind. Das Küstenmeer eines


4) So die überwiegende Meinung, u. a. Heffter a. a. O.§ 75 S. 164, Bluntschli, Das moderne Völkerrecht, 1878, § 301; v. Martens a. a. O. § 89; Heilborn a. a. O. § 12, § 18; Zorn, Grundzüge des Völkerrechts, 1903, S. 69; Schücking a. a. O. S. 13; v. Lißt a. a. O. S. 1276 und im "Völkerrecht, systematisch dargestellt", 1902, § 9. Für eine schwankende Grenzbestimmung ist nur Störck in v. Holtzendorffs Handbuch des Völkerrechts, 1885 ff., II S. 475 ff. Nach ihm reichen die Grenzen des Staatsgebietes "ebenso weit, als die staatliche Verwaltungstätigkeit überhaupt zu reichen vermag", und ist die Seegrenze des Küstengewässers verschieden zu bemessen, je nach den in Frage stehenden staatlichen Verwaltungsakten, mögen sie behandeln Fischerei oder Steuerkontrolle, Sanitätsmaßnahmen u. a.
5) Heffter a. a. O. § 76 a; Bluntschli a. a. O. §§ 301,303; v. Martens a. a. O. § 89.
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Staates ist rechtlich nicht anders zu beurteilen als "eine Fortsetzung seines Uferlandes" 6 ).

Der berechtigte Staat kann deshalb das Küstenmeer getrennt von den durch dieses gedeckte Landgebiet ebenso wenig rechtswirksam veräußern wie Teile des offenen Meeres. Dagegen würde der berechtigte Staat in der Lage sein, im Wege der Vereinbarung mit dem Nachbarstaate, dessen seewärts belegene Grenze seines Küstenmeeres sich mit der seines eigenen Küstengewässers schneidet, die auf dem allgemeinen Völkerrechte beruhende Bestimmung der Grenze der aufeinander übergreifenden Küstengewässer anderweitig zu regeln, insbesondere dadurch, daß er zugunsten des Nachbarstaates auf den diesem an sich als Küstengewässer gebührenden Meeresteil verzichtet, der jenseits der Mittellinie liegt und deshalb dem verzichtenden Staate zugefallen ist.

b) Von dem offenen Meer ist weiter zu unterscheiden das "Eigenmeer", auch "Territorialmeer i. e. S." genannt. Dazu gehören:

α) Meeresbuchten und durch vorgelagerte Inseln oder Landzungen gebildete Haffe, deren Einfahrt so eng ist, daß sie vom Lande aus gesperrt werden kann;
β) kleinere Buchten, Reeden und Häfen, mögen sie von Natur oder künstlich geschaffen sein, wenn sie von dem Staatsgebiet desselben Staates umgeben sind und beherrscht werden können;
γ) Flußmündungen, d. i. der Teil des Meeres, in welchem Fluß und Meer sich vereinigen und dessen Grenze dem Meere zu "durch die äußerste Linie zwischen den letzten beiden Uferpunkten des Flusses" bestimmt wird, mögen die Punkte sich auf dem natürlichen Ufer oder auf einem künstlichen Bauwerk, z. B. einer Mole, befinden 7 ). Eigenmeere unterliegen in vollem Umfange der Herrschaft des sie umfassenden Staates.

3. Das Recht des Staates an dem Küstenmeere wie an dem Eigenmeere ist kein privatrechtliches, sondern ein öffentlich-rechtliches. Es ist kein Eigentum (dominium), sondern Staatsgewalt (imperium), wie das römische Recht sie schon an dem Meeres-


6) v. Martens a. a. O. S. 99.
7) Heffter a. a. O. § 76, § 77; Störck a. a. O. S. 419, 420; v. Martens a. a. O. § 100; Zorn a. a. O. § 9; v. Lißt in Birkmeyers Encyklopädie § 5; Heilborn a. a. O. § 18.
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ufer anerkannte (vgl. 1. 14. D. de acquirendo rerum dominio 41, 1: "Litora publica non ita sunt, ut ea, quae in patrimonio sunt populi, set ut ea quae primum a natura prodita sunt et in nullius adhuc dominium pervenerunt"). Es ist ein Ausfluß der Staatsgewalt wie die Herrschaft des Staates über die aus Festland oder Inseln bestehenden übrigen Teile seines Gebietes 8 ).

In völkerrechtlicher Beziehung äußert sich diese Herrschaft oder Gebietshoheit vorzugsweise im negativen Sinne, nämlich als Recht "zur Ausschließung jeder anderen nebengeordneten Staatsgewalt von einem bestimmten Teile der Erde" 9 ).

Dieses Recht ist unbeschränkt in Ansehung des Eigenmeeres, dagegen in Ansehung des Küstenmeeres mit der Legalservitut der Duldung fremder Schiffahrt und Fischerei belastet. Im Unterschiede zu der Staatshoheit an dem Festlande kann man deshalb auch sagen: "Der Staat hat eine beschränkte Gebietshoheit in den Küstengewässern" 10 ).

IV.

Die Lübecker Bucht ist, wie die Karte zeigt, die südwestliche von den Ländern Mecklenburg-Schwerin, Lübeck, Oldenburg (Fürstentum Lübeck) und Preußen (Holstein) umgebene Ausbuchtung der Ostsee, Für die von Lübeck an diesem Gewässer beanspruchten Rechte kommen für den vorliegenden Fall Preußen und Oldenburg nicht in Betracht. Es handelt sich nur um den Ausgleich der kollidierenden Ansprüche von Lübeck und Mecklenburg-Schwerin. Die Gebiete beider Staaten stoßen an der südlichen Küste der Lübecker Bucht bei dem zu Lübeck gehörigen "Priwall" zusammen, einer Landzunge, die von der Ostsee und dem Travefluß mit seiner östlichen Ausbuchtung gebildet wird.

Der zwischen beiden Ländern entstandene Streit dreht sich um ihre Rechte an dem Küstenmeer. Nach den vorstehend unter III 2 a ausgeführten völkerrechtlichen Grundsätzen würde von dem Grenzpunkte zwischen Mecklenburg und Lübeck am Priwall in die Ostsee hinein eine Linie zu ziehen sein, welche von der mecklenburgischen


8) v. Martens a. a. O. § 100 S. 384: Gareis, Institutionen des Völkerrechts, 2. A., 1901, § 69 S. 202; v. Lißt, Völkerrecht, § 8 S. 72; Schücking a. a. O. S. 14 ff.
9) Heilborn a. a. O. § 17.
10) v. Lißt in Birkmeyers "Enzyklopädie" § 5 und "Völkerrecht" § 9.
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wie von der lübischen Küste überall gleich weit entfernt ist. Der links von dieser Linie liegende Meeresteil gebührt Lübeck, der rechte von ihr liegende gehört Mecklenburg. Lübeck will diese Grenzfestsetzung nicht anerkennen.

Es beansprucht ein Gebiet von der Lübecker Bucht,

dessen Grenze im Westen und Süden durch die lübische und mecklenburgische Küste bis zur Mündung der Harkenbeck, im Osten durch eine von der Harkenbeck auf die Pohnstorfer Mühle und den Turm auf dem Gömnitzer Berg in Holstein gezogene Linie und im Norden durch eine von dieser Linie senkrecht auf den nordwestlich von Lübeck belegenen Brodtener Grenzpfahl gezogene Linie gebildet wird.

Dadurch entsteht ein Ausschnitt aus der Ostsee, der die Form eines unregelmäßigen Vierecks hat, in dessen Südwestecke die Travemündung liegt. Lübeck nimmt diesen Meeresteil als sein Küstenmeer in Anspruch und hat in Ausübung seiner Staatshoheit auf diesem Gebiete neuerdings namentlich die Fischerei auf ihm durch eine Fischereiordnung geregelt, durch welche die nichtlübischen Fischer, insbesondere die mecklenburgischen, von dem Fischfang auf diesem Gebiete tatsächlich fast ganz ausgeschlossen werden.

Es fragt sich: Ist der Anspruch Lübecks auf eine solche, von den völkerrechtlichen Grundsätzen abweichende Bestimmung des Küstenmeeres begründet?

Von lübischer Seite hat man den Anspruch auf verschiedene Weise zu rechtfertigen versucht.

a) Nach einer Ansicht 11 ) wird bestritten, daß die völkerrechtlichen Grundsätze auf diesen Meeresteil überhaupt zur Anwendung kommen können. Es sei nicht das Völkerrecht, sondern ein von diesem verschiedenes partikuläres Gewohnheitsrecht, das sich für die Lübecker Bucht gebildet habe, maßgebend. Dazu ist zu bemerken:

Soweit es sich um Ausübungsakte der von Lübeck beanspruchten Hoheit aus der Zeit vor dem Ende des 17. Jahrhunderts handelt, müssen sie nach dem vorstehend unter III 1 Ausgeführten unbeachtet bleiben, weil sie durch die zum Durchbruch gekommene, auf dem allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatze über die Freiheit der Meere beruhende neue Rechtsentwicklung erledigt worden sind. Es kann deshalb nur eine tatsächliche Übung, die nach jenem


11) Vgl. insbesondere Rörig, Hoheits- und Fischereirechte in der Lübecker Bucht, Bd. XII der Zeitschrift des Vereins für lübische Geschichte und Altertumskunde.
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Zeitpunkte sich vollzogen hat, in Betracht kommen. Die Bildung eines Gewohnheitsrechtes für die Herrschaft über das Meer durch tatsächliche Ausübung von Hoheitsrechten war aber auch nach jenem Zeitpunkte nur insoweit möglich, als die Hoheitsrechte an Meeresteilen ausgeübt wurden, an denen eine rechtliche Herrschaft nach allgemeinen Rechtsbegriffen überhaupt ausgeübt werden konnte. Dies traf nicht zu für das rechtlich unfaßbare "offene Meer", sondern nur für die Meeresteile, welche als "Eigenmeere" oder "Küstenmeere" behandelt werden könnten. An dem "offenen" Meere kann ein Staat weder durch Okkupation noch durch sonstige Besitzakte Rechte erwerben 12 ). Selbst durch eine Vereinbarung mit anderen Staaten über das offene Meer kann ein Staat nur vertragsmäßige Rechte erwerben, nicht aber dingliche Rechte an dem Meere selbst 13 ).

Aus der Anwendung dieser allgemeinen, auch für die gewohnheitsrechtliche Rechtsbildung maßgebenden Rechtsgrundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt sich, daß ein neuer Rechtszustand zugunsten Lübecks nur an dem Teile der Lübecker Bucht hätte entstehen können, welcher als "Eigen-" oder "Küstenmeer" der Hoheit eines Nachbarstaates unterlag, also an dem an sich zu Mecklenburg gehörenden Küstengewässer, wie es vorstehend unter III 2 a bestimmt worden ist. Dieses konnte aber im Wege gewohnheitsrechtlicher Rechtsbildung nicht dadurch Lübeck zufallen, daß Lübeck es als sein Herrschaftsgebiet tatsächlich behandelte. Außer der tatsächlichen Übung ist zum Entstehen eines Gewohnheitsrechtes noch erforderlich, daß die Übung opinione juris et necessitatis erfolgt ist, daß sie von der Rechtsüberzeugung getragen worden ist, in der Übung bereits geltendes Recht anzuwenden. Diese Überzeugung muß nicht nur auf lübischer, sondern auch auf mecklenburgischer Seite vorhanden gewesen sein, da sie ein die mecklenburgische Küste bespülendes und dem tatsächlichen Machtbereich Mecklenburgs unterstehendes Gewässer betrifft. Mag man nun auch unterstellen, daß diese Rechtsüberzeugung auf lübischer Seite bestanden hat, auf mecklenburgischer Seite ist sie jedenfalls nicht vorhanden gewesen.

Eine andere Frage ist, ob die einseitige tatsächliche Übung von lübischer Seite etwa als eine Übung bewertet werden kann, die unter dem Gesichtspunkte der Verjährung Lübeck die Staatshoheit über das streitige Gebiet verschaffen konnte. Hierauf wird unten unter V zurückzukommen sein.


12) Vgl. Heffter a. a. O. § 74 S. 163.
13) Heilborn a. a. O. § 12.
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b) Der Travefluß steht in seinem wichtigsten, schiffbaren Teile bis zum Ausfluß in das Meer unbestritten unter der Hoheit Lübecks und bildet einen Bestandteil des lübischen Staatsgebietes. Nach dem Völkerrechte steht dem Staate, welchem ein Fluß gehört, auch dessen Mündung, also der Meeresteil zu, in welchem sich Fluß und Meer vereinigen. Das unbestrittene Recht Lübecks an der Travemündung kann jedoch für die Begründung lübischer Ansprüche auf die Lübecker Bucht nicht verwertet werden. Denn als "Flußmündung" ist völkerrechtlich - wie vorstehend unter III 2 b γ bereits bemerkt worden ist - nur der Meeresteil anzusehen, der nach dem Meere zu durch die äußerste Linie zwischen den letzten beiden Uferpunkten des Flusses begrenzt wird. Das ist ein verhältnismäßig kleiner Meeresteil, der für den vorliegenden Streitfall überall nicht in Betracht kommt.

Auch aus der Fassung der für die Begründung der territorialen Ansprüche Lübecks mit Vorliebe verwerteten Verleihungsurkunde Kaiser Friedrichs I., der sog. Barbarossa-Urkunde von 1188, können Hoheitsrechte an der Lübecker Bucht als Ausflußgebiet des Traveflusses nicht abgeleitet werden. Denn will man auch den von der Urkunde gebrauchten Ausdruck: "usque im mare" nicht als gleichbedeutend mit "usque a d mare", d. h. "bis zu dem Meere", sondern vielmehr als "bis in das Meer hinein" verstehen, so kann eine unbefangene Auslegung darin doch nicht mehr finden als den Ausdruck des Gedankens, daß Lübeck "auch die Mündung" des Flusses habe zuerkannt werden sollen. Für die Annahme, daß auch außerhalb der Travemündung in der Lübecker Bucht, insbesondere soweit sie den in die Trave ein- und ausfahrenden Schiffen als Fahrwasser dient, Lübeck Hoheitsrechte haben verliehen werden sollen, hätte es eines bestimmteren Ausdruckes bedurft. Aber wenn es auch hieran nicht gefehlt hätte, wäre doch in der Verleihung eines so weitgehenden Rechtes an dem offenen Meere nur eine Bekundung der "weitgehenden mittelalterlichen Rechtsanschauung" über die Möglichkeit von besonderen Rechten an dem Meere zu finden, welche - wie bereits unter III 1 bemerkt worden - durch die spätere Entwicklung des Völkerrechtes ihren Rechtsbestand verloren hat.

c) Als ebensowenig stichhaltig erscheint der von Rörig a. a. O. unternommene Versuch, die Lübecker Bucht als "Reede" des Lübecker Hafens für Lübeck in Anspruch zu nehmen. Faßt man den Begriff "Reede" in weitestem Sinne auf, so kann darunter doch nur der vor einem Hafen liegende Meeresteil verstanden werden, auf welchem die Schiffe Anker werfen, wenn sie durch

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ungünstige Wind- oder Flutverhältnisse oder durch andere Gründe bestimmt werden, nicht sofort in den Hafen einzulaufen. In der Regel bildet die Reede einen Teil des "Küstenmeeres" und unterliegt als solcher schon der Gebietshoheit des Hafenstaates. Nach der besonderen örtlichen Gestaltung kann eine "Reede" aber auch durch eine Einbuchtung der Küste oder eine der Küste vorgelagerte Insel oder Halbinsel gebildet werden. Steht in diesem Falle das die Reede einschließende und sie beherrschende Festland im Eigentum desselben Staates, so gehört die Reede auch diesem und steht unter seiner vollen Herrschaft. Eine solche örtliche Gestaltung haben die Schriftsteller im Auge, wenn sie als Beispiele für das "Eigenmeer" außer "Meerbusen, Baien, Buchten und Häfen" auch die "Reeden" aufführen 14 ).

Dagegen besteht kein völkerrechtlicher Rechtssatz, welcher einem als "Reede" zu bezeichnenden Meeresteile als solchem und ohne Rücksicht auf seine räumliche Beziehung zu dem Uferstaate den Charakter des "Eigenmeeres" zuerkennt.

V.

Es bleibt somit nur die Erwägung übrig, ob sich Lübeck für seine Ansprüche an dem streitigen Meeresteile nicht auf ein durch Zeitablauf erworbenes Recht berufen kann.

In dieser Beziehung ist zu beachten, daß das Völkerrecht den Begriff der Verjährung im Sinne des Bürgerlichen Rechtes nicht kennt. "Auf dem Gebiete des Völkerrechtes" - bemerkt v. Lißt in Birkmeyers Encyklopädie § 11 Ziffer 2 - "muß der rechtsbegründende oder rechtsvernichtende Einfluß der Zeit in Abrede gestellt werden. Die Verjährung hat völkerrechtlich weder als acquisitive (insbesondere als Ersitzung) noch als extinktive die Kraft einer rechtserheblichen Tatsache", d. h. einer Tatsache, "an deren Vorliegen Untergang oder Veränderung von völkerrechtlichen Rechtsverhältnissen geknüpft ist."

Ebenso v. Martens a. a. O. § 90: "Im Unterschiede vom Privatrecht statuiert das Völkerrecht eine Wirkung der Verjährung nur in sehr beschränktem Umfange."

Aber andererseits fügt v. Martens hinzu: "Wirkliche Bedeutung hat im Bereiche des Internationalen nur der unvordenkliche Besitzstand (antiquitas, vetustas, cujus contraria memoria non existit)."


14) v. Martens a. a. O. § 100; Zorn a. a. O. § 9; Heilborn a. a. O. § 18: v. Lißt a. a. O. § 5.
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Es wird deshalb zu prüfen sein,

ob Lübeck in der Lage ist, einen unvordenklichen Besitzstand an dem streitigen Meeresteile nachzuweisen.

Hierfür ist jedoch zu beachten, daß nur ein Besitzstand in Frage kommen kann, in welchem die Ausübung eines vom Völkerrechte anerkannten Rechtes am Meere in Erscheinung tritt. Lübeck hätte also Besitzakte nachzuweisen, welche sich als Ausübung der Staatshoheit am "Eigen-" oder "Küstenmeere" darstellen. Soweit der das lübische Gebiet bespülende Teil der Ostsee als Eigenmeer anzusehen ist, sind die lübischen Rechte unbestritten, im Streite befindlich ist nur die Frage nach dem Umfange des von Lübeck beanspruchten "Küstenmeeres", nämlich nach dem oben unter IV eingangs Bemerkten die Frage, ob Lübeck ein durch unvordenklichen Besitzstand erworbenes Hoheitsrecht auch an demjenigen Teile des mecklenburgischen Küstenmeeres bis zum Ausfluß der Harkenbeck geltend machen kann, der rechts von der vom Grenzpunkte am Priwall in die Ostsee zu ziehenden, von beiden Ufern gleich weit entfernten Linie liegt.

Der Übergang von Staatsgebiet von einem Staate auf einen anderen kann sich nach Völkerrecht nur mittelst derivativen Erwerbs, also durch Abtretung, vollziehen, mag diese freiwillig oder erzwungen (z. B. durch Krieg) sein. Okkupation von Staatsgebiet ist nur an herrenlosem Gebiete möglich 15 ). Wenn Lübeck sich für den Erwerb des bezeichneten Gebietes auf unvordenklichen Besitzstand beruft, so behauptet es, daß die unvordenkliche Ausübung seiner Hoheitsrechte auf diesem Gebiete in ihrer rechtlichen Wirkung der eines Rechtsgeschäftes, z. B. eines Vertrages, gleichkomme, durch das es dieses Gebiet von Mecklenburg hätte erwerben können.

Den Beweis eines solchen unvordenklichen Besitzstandes hat Lübeck zu führen. Bisher hat es ihn nicht: erbracht.

Es erscheint aber auch als sehr zweifelhaft, ob Lübeck die Führung eines solchen Beweises gelingen wird. Denn einmal müßte Lübeck beweisen,

daß es seit unvordenklicher Zeit die Staatshoheit an dem streitigen Gebiete ausschließlich, also ohne daß auch Mecklenburg in der fraglichen Zeit an ihm Hoheitsakte vorgenommen, ausgeübt hat, und es kann hierfür nur solche Besitzhandlungen geltend machen, die, wie die Aus-


15) Zorn a. a. O. § 10 S. 93.
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Übung der Gerichtsbarkeit, Polizeigewalt oder des obrigkeitlichen Strandschutzes publizistischen Charakters gewesen sind, im Gegensatze zu Okkupationshandlungen seiner Staatsangehörigen, die, wie der Fischfang im Küstenmeer oder die Schiffahrt, nur eine Ausübung des allgemeinen Gebrauches oder des freien Verkehrs darstellen, welchem das Küstenmeer jedes fremden Uferstaates unterliegt.

Auf der anderen Seite hat Mecklenburg seit Menschengedenken unbestritten Hoheitsrechte an dem streitigen Gewässer ausgeübt, z. B. durch die Landesherrliche Verordnung vom 10. Oktober 1874 "zum Schutze der Ufer und Dünen des Ostseestrandes" bei Rosenhagen, Brook und anderen Gütern (Rbl. 1874 Nr. 23). Denn die Feldmarken der genannten Güter Rosenhagen und Brook bilden seewärts gerade den Teil der mecklenburgischen Küste, welchen das streitige Gewässer bespült. Im § 1 der Verordnung wird ausdrücklich verboten, "aus der Ostsee bis 400 Meter in die See hinein ohne Erlaubnis der Ortsobrigkeiten Sand, Kies, Ton oder Lehm zu graben, Gras, Dünenkorn oder sonstigen Anwuchs abzuschneiden und Seetang oder Steine wegzunehmen". Die Verordnung bildet mithin eine unzweideutige Ausübung eines Staatsaktes nicht nur an dem Ufer, sondern auch an dem Meere.

VI.

Aus vorstehenden Ausführungen folgt:

Mecklenburg-Schwerin hat einen nach allgemeinem Völkerrecht wohlbegründeten Anspruch auf die Staatshoheit an dem streitigen Meeresteil. Sein Anspruch aus Zurückweisung der lübischen Ansprüche auf dieses Gebiet ist liguide. Für Mecklenburg ist actio nata. Mecklenburg kann diesen Anspruch ohne weiteres gegen Lübeck vor dem Staatsgerichtshof nach Maßgabe des Artikels 19 der Reichsverfassung erheben. In dem sich daraus entwickelnden Prozeßverfahren wird Lübeck den Erwerb des von ihm behaupteten Hoheitsrechtes zu beweisen haben.

Will Mecklenburg nicht selbst klagen, so kann es die Angelegenheit auch dadurch zum gerichtlichen Austrag bringen, daß es, ohne auf die Proteste Lübecks Rücksicht zu nehmen, seine Staatshoheit, etwa durch Maßnahmen der Polizeigewalt, an dem fraglichen Gebiete erneut betätigt und Lübeck es überläßt, dagegen bei dem Staatsgerichtshofe seine vermeintlichen Rechte im Klagewege geltend zu machen.

Schwerin, den 5. Februar 1925.              (gez.) Langfeld.