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VII.

Das Lied vom König Anthyrius.

Von
Bibliothekar Dr. Ad. Hofmeister in Rostock.
~~~~~~~

N ur wenige Völkerschaften sind es, die sich rühmen, als γηγενεΐς, Autochthonen oder Aboriginer derselben Scholle entsprossen zu sein, die sie in historischer Zeit bauen; unendlich viel verbreiteter sind die Wandersagen. Wie Abraham aus Ur in Chaldäa nach Palästina auswandert, seine Nachkommen nach Aegypten übersiedeln und nach mehreren Menschenaltern von dort zurückkehrend den dauernden Besitz des Landes erlangen, so läßt die Römische Stammessage den Aeneas mit seinen Troern nach Italien kommen, schildert uns die Ueberlieferung der Gothen und Langobarden den Weg, der die Vorväter von den Küsten der nordischen Meere bis ins sonnige Welschland geführt hat. Ja selbst der Südseeinsulaner ermangelt nicht ganz gleichgearteter Erzählungen, die, ebenso von mythologischen Grundzügen ausgehend, schließlich zur beglaubigten Geschichte hinüberleiten.

Neben diesen wirklich als volksthümlich zu bezeichnenden Ueberlieferungen - ob die Aeneassage in ihrer späteren Ausbildung noch dazu zu rechnen ist, mag dahingestellt bleiben - macht sich aber noch eine Reihe von Wandersagen bemerkbar, die, auf rein gelehrter Erfindung beruhend, im Gegensatz zu den Völkern römischer Sippe und Zunge die einzelnen Stämme der Germanen noch weiter, mindestens bis auf Alexander den Großen und die unter seinem Scepter zur dritten Weltmonarchie vereinten Schaaren zurückzuführen bestrebt ist. Bekannt ist Otfrids Lob der Franken, das diese aus Macedonien, von Alexanders Geschlecht, abstammen läßt, ferner Widukind von Corvey, der dasselbe von den Sachsen berichtet, und der Lobgesang auf den heiligen Anno von Köln, der die Franken als alte Verwandte

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der Römer aus Troja selbst, die Baiern aus Armenien, die Schwaben aus einer fern über Meer liegenden Heimath, die Sachsen aber aus Alexanders Heer herleitet. Genaueres noch wissen die Sachsenchronik und der Sachsenspiegel zu erzählen: in diesem heißt es (Buch 3, Artikel 44):

Unse vorderen die her to lande quamen unde die Doringe verdreven, die hadden in Allexandres here gewesen, mit erer helpe hadde he bedwungen al Asiam. Do Alexander starf, do ne dorsten sie sik nicht to dun in-me lande durch des landes hat, unde scepeden mit drenhundert kelen; die verdorven alle up vier unde veftich. Der selven quamen achteine to Prutzen unde besaten dat; tvelve besaten Ruian; vier unde tvintich quamen her to lande.

Diese Stelle, die ausführlichste, die mir bekannt geworden ist, scheint den Ausgangspunkt für die spätere gelehrte Erdichtung zu bilden, durch die auch für unser Volk und Fürstenhaus die Verbindung mit dem Weltreich Alexanders hergestellt werden sollte. Als Bindeglied zwischen dem Meklenburgischen Fürstenhause und dem großen Macedonier mußte der Stierkopf des Wappens dienen, der auf den Bukephalos zurückgeführt wurde, doch erst der Zeit des Wiederaufblühens der klassischen Alterthumsstudien war es vorbehalten, diese Entdeckung zu machen. Der Sachsenspiegel und ebenso die Sachsenchronik sind um 1230 entstanden, im 14. Jahrhundert schrieb Ernst von Kirchberg, zu Ende des 15. Albert Krantz. Beide beginnen ihre Geschichtsdarstellung mit den Sachsenkriegen Karls des Großen. Trotz dieser löblichen Vorsicht ist Albert Krantz nicht ganz freizusprechen davon, daß er indirekt das Samenkorn gelegt hat zu dem trügerischen Fabelgewebe, welches dann zwei Jahrhunderte lang die Geschichte Meklenburgs und des Wendenlandes durchwucherte. Für Krantz sind Wandalen und Wenden nur verschiedene Formen desselben Volksnamens, und auf diese Weise erklärt sich seine der 1504 zu Wismar gehaltenen schwungvollen Leichenrede auf Herzog Magnus II. 1 ) eingeflochtene Behauptung, er sei im Stande, das erlauchte Fürstenhaus mit den sichersten Beweismitteln tausend Jahre und weiter zurückzuverfolgen, ja schon vor Christi Geburt, zur Zeit als in Rom die Fabier, Aemilier und Cornelier blühten, habe es mit den Königen der Dänen und Sachsen um den Vorrang gewetteifert und habe den Römern den Uebergang über die Elbe gewehrt. Hier setzt nun Nikolaus Marschalk ein, zuerst, in den Vitae Obotritarum, 2 )


1) Wandalia lib. XIV, 33.
2) Westphalen, Monumenta inedita II, 1501 - 1584.
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noch zögernd und vorsichtig mit dem Bukephalos, dem Stierkopfschild und dem Stierkopfhelm, dann berichtet er in der Reimchronik, 1 ) daß die Könige der Obotriten abstammen von Alexanders Heer und den Amazonen. Bei den Kämpfen nach Alexanders Tode

. . . da flohe solch Ungemach
Einer der Herren und fürchte die Rach
Der nahm mit sich eine grosse Schaar
Die wurden genant Obetriten fürwahr
- - - - - - - - - - - - - - -
Und kamen erst an diesen Ort
Ein Ochsenkopff ward ihr Schild do fort.
- - - - - - - - - - - - - - -
Den Ochsen mit der güldenen Crohn
Die Obotriten noch führen, der ist schon.

Es scheint, daß Marschalk hier gerade die oben angeführte Stelle des Sachsenspiegels vorgeschwebt hat, denn offenbar hat er mit den Worten "und fürchte die Rach" dasselbe sagen wollen, was dort ausgedrückt ist "durch des landes hat".

In dieser Bearbeitung hat der Anführer noch keinen Namen, ebenso ist die ganze Zeit vor Mistiwoi Billug nur durch zwei Namen, den des sagenhaften Wissimarus und den des Radegast, belebt. Ganz anders unterrichtet zeigt sich aber Marschalk in den 1521 im Druck erschienenen Annalium Herulorum et Vandalorum libri VII. Hier ist alles klar. Der Heerführer der Obotriten heißt Anthyrius, ein Heruler aus königlichem Geschlecht und hat Symbulla, die Tochter des Gothenkönigs, zur Gemahlin. Von seinen zehn Söhnen folgt ihm Anávas, diesem Alimer und so in ununterbrochener Reihe 25 recht langlebige Generationen hintereinander, bis als 26. in der Reihe der Obotritenkönige Billug den Uebergang zur wirklich historischen Zeit bildet. Von jedem weiß Marschalk irgend etwas zu erzählen, aus welchem Geschlechte seine Gemahlin stammte, wieviel Söhne er hinterließ, wieviel Jahre er regierte, wie und wo er starb, kurz es ist alles in schönster Ordnung - nur leider alles erdichtet bis auf die Namen, die ziemlich wahllos hier und dort zusammengerafft, theilweise auch wohl frei erfunden sind. So ist gleich der Name des Stammvaters Anthyrius aus Orosius entlehnt und geht zurück auf den aus Herodot bekannten Skythenkönig Idanthyrsos, 2 ) der den Perserkönig Darius Hystaspis in die pontischen Steppen lockte und


1) Westphalen, Monumenta I, 565 ff.
2) Beiläufig gesagt ein merkwürdig germanisch anklingender Name; man denke an den Iarl Angantyr der Frithjofs=Sage und an die Thursen.
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so zum schmählichen Rückzug zwang, Symbulla scheint zurückzugehen auf den Hafen Symbolium in der Krim, die ja später zum Gothenreiche gehörte, der Name ihres Bruders Barvanus erinnert an den Perwan der Persischen Heldensage, Anávas konnte auf den Fürsten der Kissier im Heere des Xerxes, Anaphes, den Sohn des Otanes, zurückgehen. Der öfter vorkommende Name Rhadagasus gehört ursprünglich dem bekannten, 405 von Stilicho besiegten Gothenführer, den Orosius einen Skythen nennt, ist aber dann mit dem fast gleich klingenden Radegast zusammengeworfen.

Der herzogliche Rath und Professor der Geschichte Dr. Nikolaus Marschalk, der in der Widmung des eben besprochenen Werkes an Herzog Heinrich aufs feierlichste versichert, er habe nichts erzählt, was er nicht als Augenzeuge oder aus den zuverlässigsten Nachrichten erfahren habe, fand bald gläubige Nachbeter und im ganzen 16. Jahrhundert findet sich nur eine Stimme des Zweifels, freilich eine sehr gewichtige, nämlich die des Andreas Mylius, des vertrauten Rathes der Herzöge Johann Albrecht und Ulrich, der in den Einleitungsworten seiner Genealogie zwar jedem seine Meinung über Marschalks Geschlechterfolge gern gönnen will, selbst aber mit Stillschweigen darüber hinweggeht und mit dem 9. Jahrhundert beginnt. Sonst scheint Marschalks und seiner Nachfolger Autorität bis weit über die Mitte des 17. Jahrhunderts hinaus, bescheidene Bedenken, wie sie z. B. bei Latomus und Micrälius auftauchen, ausgenommen, unerschüttert festgestanden zu haben. Den ersten ernstlichen öffentlichen Angriff auf seine praehistorische Genealogie unternimmt 1677 Philipp Jacob Spener 1 ), aufs Schonungsloseste zerpflückt 1680 der Wismarsche Bürgermeister Caspar Voigt in seinem Briefwechsel mit dem Rostocker Professor Jakob Döbel 2 ) das ganze Truggebilde, auch Schurtzfleisch gesteht ihm nur für die Zeit nach 1218 Glaubwürdigkeit zu, aber sogar 1750 sucht der alte würdige David Franck wenigstens von Anthyrius selbst noch zu retten, was zu retten ist - freilich bleibt auch bei ihm nicht mehr übrig als eine ganz verfehlte Deutung des Namens. Später dürfte Antyrius in der Litteratur kaum anders als scherzweise genannt werden, so etwa, wie ihn Fritz Reuter, in seiner "Urgeschichte" erwähnt, oder als Curiosum, wie ihn F. Studemund 1820 seinen "Mecklenburgischen Sagen" einverleibte.

Bei dem langdauernden Ansehen, dessen sich Marschalks Fabeleien unverdienter Weise erfreuten, kann es nicht Wunder nehmen, daß sich auch die Dichtung jener Zeit, die lateinische sowohl wie die


1) Sylloge Genealogico - Historica S. 701/2.
2) Westphalen, Monumenta I, S. 1515 - 1540.
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deutsche, des nicht undankbaren Stoffes bedient hat. In der gelehrten lateinischen Dichtung wird er freilich meist nur gelegentlich gestreift, in der deutschen hat er wenigstens zwei selbstständige Dichtungen hervorgerufen, von denen die eine, ein nach dem Muster des Rasenden Roland in 24 Gesänge eingetheiltes, in deutschen Alexandrinern geschriebenes Heldengedicht, welches den 1615 in Kaaden in Böhmen geborenen, 1641 verstorbenen poeta laureatus Elias Schede zum Verfasser hatte. 1 ) spurlos verschollen ist.

Nicht zu lange nach Schedes Tod übersandte der 1612 zu Wittenburg geborene, 1651 als Königlich Schwedischer Stadtvogt zu Bremen verstorbene damalige Prinzeninstructor am Meklenburgischen Hofe Heinrich Langermann dem Mitgliede der fruchtbringenden Gesellschaft Karl Gustav von Hille, der viele Beziehungen und, wie es scheint, auch Besitz in Meklenburg hatte, gewissermaßen als Seitenstück zu der im Jahre 1639 der Gesellschaft von Martin Opitz überreichten Ausgabe des Annoliedes die Abschrift einer "in gothischer Schrift" geschriebenen, "vor etlichen Jahren in dem Closter Dobberan im Fürstenthum Meklenburg, von etlichen Kaiserlichen Soldaten, in einem vermauerten heimlichen Schranke wunderbarer Weise gefundenen" Handschrift, welche "des Anthyri, der Wenden König, von welchem die Hochlöbliche Hertzoge zu Meklenburg ihren Ursprung genommen und gewonnen," denkwürdiges Loblied enthielt, von dem einige Strophen hier eingeschaltet werden mögen, um von Form und Inhalt des Gedichtes eine Vorstellung zu geben. Um das Verständniß nicht unnöthig zu erschweren, sind die gar zu absonderlich archaisierenden Worte in jetzt gebräuchliche Form umgesetzt.

1. Die Tugend hat kein Rast, sie schlafet nit in Betten,
   Sondern sie trinkt Blut:
Das kann man wahrlich sehn, wie sie einst Thaten thäten,
   Der Recken hoher Muth,
Seit sie gekommen in die Schlachten
Und manchen wilden Biedermann
Mit ihrer Kampfrüstung umbrachten,
Wie man noch heute sehen kann.
2. Ein edler König reich in diesem Lande ware,
   Das Wendenland genannt:
Die Mähre lebet fort so lange viele Jahre,
   So manchem Druid bekannt.
Sein Name heißet sonst Anthyre:
Er war ein gar getreuer Mann;

1) Westphalen, Monumenta I, praef. 27.
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  Er führt mit Ruhm sein Ritterziere,
   Wie ihm mocht wohl anstahn.
6. Sein Sturmgewand war schwarz, hellleuchtend seine Brünne;
   Der gute Rittersherr
Hatt- ein gar starkes Schild, daß ihn nicht überwände
   Ein Tausend=Ritter=Heer.
Er trug bei sich ein Ringlein kleine
   Das gab ihm funfzig Männer Stärk-:
Im half gar oft das Kleinod reine,
   Daß er gewann gar manches Werk.
10. Ein König aus Griechenland, ein Degen unverzaget, 1 )
   Der Alexander hieß,
Nahm ihn zum Kriegespfand und führt ihn hochgemuth 2 )
   In seine Kriege mit,
Als er das Reich einnahm im Morgen.
Bei ihm war er in Freud und Leid,
Bei ihm stand er aus Müh- und Sorgen,
Schlug manchen Ritter auf der Haid-.

Nach allerhand Irrfahrten und Abenteuern mit Rittern und Fabelwesen (Greifen) kehrt er schließlich mit der erkämpften Gattin in das heimische Werlenland zurück.

27. Er kam auf einem Kiel, deß Schnabel war ein Greife:
   Im Schild ein Ochse war.
Er baut von Neuem auf nach einer Sitten reife
   Ein Schloß, hieß Bützow gar
Nach seines schweren Schildes Namen,
Darauf baut er auch Meklenburg:
Hernach er seine Reise nahme
Nach Werle und baut eine Burg.
29, 5. Er hat das weite Land bezwungen
Bis an die Weichsel von der Elb:
Sein Lob wird an den Himmel dringen
Von dieser Erden groß Gewölb.
30. Von ihm so kommen her die Fürsten dieser Länder,
   Die so berühmet sein:
Er ist wohl Lobenswerth von einem, der behender
   Im Singen mag erschein-n.
Wir preisen willig unsre Herren
Der Druiden Beispiel folgend nach.

1) unuerzeite.
2) hochgemeite.
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  Der Ruhmeskranz soll sie gewähren,
Wie aller tapfren Helden Sach'.

Bei diesem Gedicht sollen, erzählt von Hille nach Langermanns Bericht weiter, "noch andere unterschiedene Lieder vorhanden sein, unter welchen dann auch eines denkwürdig zu lesen, welches von den tapferen Helden Anavas Visibert, ein Bard verfertiget und gesungen: Woraus dann erhellet, daß in alten Zeiten nicht durch Geschichtsschreibung, davon sie keine Wissenschaft gehabt, sondern allein bloß durch Heldenlieder Singung, der großen Thaten unserer Vorfahren der Welt von Kinde zu Kinde wissend gemachet und uns hinterlassen worden." K. G. von Hille brachte also dem Liede und dem Berichte Langermanns das denkbar größte Vertrauen entgegen und nahm beides in seine 1647 zu Nürnberg erschienene "Der Teutsche Palmenbaum" betitelte Lobschrift von der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gsellschaft auf, von wo es in die 1668 von Georg Neumark besorgte neue Bearbeitung "Der Neu=Sproßende Teutsche Palmbaum. Oder Ausführlicher Bericht, Von der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft" und theils direkt, theils indirekt vollständig in B. Kindermanns "Deutschen Poet" (Wittenberg 1664), bruchstückweise in Morhofs "Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie" (Kiel 1682; 2. Aufl., Lübeck 1700, S. 318 - 19; 3. Aufl., Lübeck 1718) in den "Parnassus Boicus" (München 1725), in Gottscheds "Beyträge", 14 Stück (Leipzig 1736), in von Westphalens "Monumenta inedita" I (Leipzig 1739) und in Fr. Studemunds "Mecklenburgische Sagen" Bd. 1 (Parchim 1819 - 23, 2. Aufl. 1848) überging. Trotzdem war es schon längst vergessen und abgethan, bis in allerneuester Zeit ein merkwürdiger Fund wieder die Aufmerksamkeit auf das durch die Alterthümlichkeit seiner Strophenform, einer Weiterbildung des Hildebrandstones, durch die gesucht archaisierende Sprache und seine angebliche Herkunft immerhin Interesse erweckende Gedicht lenkte. Wie schon erwähnt, hatte von Hille nicht die Urschrift, sondern nur eine Abschrift vorgelegen, doch war ausdrücklich bemerkt, das Original sei in gothischer Schrift, also nach damaliger Bezeichnungsweise in Runen geschrieben, noch vorhanden und könne auf Wunsch gezeigt werden. Nun endeckte der mit der Ordnung des reichhaltigen Archivs auf dem v. Oppen=Schildenschen Rittergute Haseldorf in der Holsteiner Elbmarsch beschäftigte Herr Louis Bobé im Jahre 1893 daselbst zwei mit Runenschrift bedeckte Papierblätter, die sich bei näherer Untersuchung als der Text des Anthyriusliedes herausstellten. Nachdem dies erwiesen war, fand sich auch noch ein Heft, welches einen Bericht über die Herkunft des Manuskripts, eine Uebertragung in gewöhnliche Schrift und erläuternde Bemerkungen dazu enthielt,

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und es gelang dem bekannten Sprachforscher Prof. Hermann Möller in Kopenhagen, den Schreiber dieses Heftes mit größter Wahrscheinlichkeit in der Person Johann Rists, des überaus fruchtbaren Dichters, Kaiserlichen Hof=Pfalzgrafen und Stifters des Elb=Schwanen=Ordens, der von 1635 - 1667 zu Wedel an der Elbe, nur eine Meile von Haseldorf entfernt, als Prediger thätig war, zu ermitteln. Im Besitz des Rittergutes Haseldorf war damals seit 1494 die Familie von Ahlefeld und mit einem der hervorragendsten Glieder dieser alten und zahlreichen Familie, dem Dänischen Geheimrath Detlev von A., der um 1640 den Besitz seiner Güter angetreten hatte, stand Rist nachweislich in nahem Verkehr. 1 ) Das Heft ist von derselben Hand, aber zu zwei wesentlich verschiedenen Zeiten geschrieben, und der ältere Theil ist für die Geschichte des uns beschäftigenden Liedes von größter Wichtigkeit. In Form einer Vorrede an den "Geneigten Leser", was die Vermuthung nahe legt, daß das Ganze zum Druck bestimmt war, berichtet der Schreiber, er habe, als er vor zwei Jahren auf der Reise nach Hamburg über Doberan gekommen sei, dort ein wenig verweilt, um die Reliquien und alten Grabstätten der wendischen Könige und Fürsten zu besichtigen. Dabei habe er auch von Staub und Spinnengewebe bedeckte Blätter mit uralter Schrift erblickt, von denen er, da sie doch für keinen Menschen von Nutzen gewesen seien, einige habe mitgehen heißen. 2 ) Dann habe er diese Blätter unter seinen Raritäten sorgfältig aufbewahrt, bis er durch die Beschäftigung mit des Johannes Magnus Geschichte der Könige der Gothen und Schweden entdeckt habe, daß die Schrift Runen darstelle, und erkannt, daß das Ganze ein aus der Barbarenzeit stammendes Lied von Anthyrius, dem ersten Wendenkönige, sei. Dies habe ihn angeregt, jene historia nobilis in modernen Versen auszuarbeiten und ein Gedicht über die Heldenthaten des Anthyrius zu verfassen. Hierauf folgt nun eine Abschrift des Runentextes und dann das Lied, 30 achtzeilige Strophen, in buchstäblicher Umschrift (translatio), das verheißene Originalgedicht (metaphrasis) fehlt jedoch. An diese beiden Dokumente, die Runenhandschrift und das Ristsche Heft, knüpft nun Prof. Möller im 40. Bande der Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen eine Untersuchung über das Lied selbst, seine Grundlagen, die Zeit seiner Abfassung und seine Ueberlieferung an, deren Resultate hier kurz


1) Bobé, Af Geheimeraad Ditlev Ahlefeldts memoirer etc., Kopenhagen 1895, S. 64 ff.
2) "Nec ego mihi temperare potui, quin paucas chartas comites viae adsciscerem. Videbam enim nemini usui esse, sed inter aranearum telas pulverulento situ consenescere."
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aufgeführt werden sollen. Die Grundlagen sind, wie schon Eingangs gezeigt ist, bei Marschalk zu suchen, als hauptsächliche Quelle hat jedoch der Dichter die 1554 erschienene Geschichte der Könige der Gothen und Schweden von Johannes Magnus benutzt. Da in der 14. Strophe der Bau von Schiffen "in der Kureter Lande" erwähnt ist, kann die Abfassung nicht vor 1563 erfolgt sein, in welchem Jahre in Memel der Bau von 2 Schiffen für Herzog Johann Albrecht begonnen wurde. Nun liegt zwar Memel nicht in Kurland, aber so dicht an dessen Grenze, daß die dem Werke des Johannes Magnus beigegebene Karte es deutlich als zu den "Curetes" gehörend erscheinen läßt. Möller glaubt in der Erwähnung dieses Schiffsbaues auch zugleich einen Zeitpunkt gefunden zu haben, vor welchem das Lied oder wenigstens diese 14. Strophe gedichtet ist, nämlich das Jahr 1571, in welchem "die zwey herrlichen schöne Schiffe, in Preußen erbaut und mit Waaren nach Lissabon abgefertiget, in der Wiederreise, zu unterschiedenen Zeiten und Oerthern, mit allen innehabenden Güthern untergegangen," da nach diesem Ereigniß die Anspielung auf den Schiffsbau nur eine traurige Erinnerung wecken konnte. Wer nun der Dichter war, wagt Möller nicht zu entscheiden, aber er weist darauf hin, daß 1. zu dessen Zeit Stargard nicht fürstliche Residenz gewesen sein könne, da er wohl Meklenburg und Werle als Vertreter von Schwerin und Güstrow, aber nicht Stargard erwähnt, 2. daß er von anderen Orten nur Bützow, und zwar in erster Linie, nennt und am längsten bei Werle verweilt. Daraus schließt er, daß der Verfasser nicht im Herzogthum Schwerin, sondern im Herzogthum Güstrow sich aufhielt, da er sonst jedenfalls nicht unterlassen hätte, auch Rostock und Wismar zu erwähnen. Der Sprache nach ist der Verfasser jedenfalls kein Niederdeutscher von Geburt; viel mehr spricht dafür, seine Heimath in West=Mitteldeutschland zu suchen, und besonders viel Anklänge sowohl in Sprache wie in Rechtschreibung finden sich an Paul Melissus Schede (geb. 1539 zu Mellrichstadt in Franken, gest. 1602 zu Heidelberg), doch ist er von niederdeutschen, speciell meklenburgischen Einflüssen nicht ganz unberührt geblieben. Mit dem "Heldenbuch", und zwar mit einer Recension desselben, die der jetzt in Dresden aufbewahrten, von Kaspar von der Röen für Herzog Balthasar von Meklenburg verfertigten Handschrift sehr nahe steht, wenn sie nicht mit ihr identisch ist, zeigt sich der Verfasser des Anthyriusliedes sehr vertraut. Da Herzog Balthasar 1473 - 1479 Bischof von Schwerin war und als solcher seine Residenz in Bützow hatte, so wäre es immerhin möglich, daß sich die Handschrift noch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und, wie gleich hinzugefügt werden mag, auch noch länger in Bützow befunden hat, was für

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einen Aufenthalt des Dichters in Bützow einen weiteren Wahrscheinlichkeitsgrund abgeben kann.

Die Umschrift des Gedichtes in Runen, die für uns nach dem oben Mitgetheilten die älteste Ueberlieferungsquelle darstellt, ist entschieden später erfolgt, und zwar, wie Möller darlegt, erst nach dem Erscheinen der 2. (eigentlich 3.) Auflage von des Johannes Magnus Geschichte der Gothen und Schweden, die im Jahre 1617 in Straßburg ans Licht trat. Dies ergiebt sich aus den angewendeten Runenzeichen, in denen ein in der Runentafel dieser Ausgabe vorkommender Fehler getreu wiederholt, einem anderen selbstständig, aber in sonst nicht wieder vorkommender Weise abgeholfen wird. Auch andere Runenalphabete, wie das von Peter Lindeberg (1591) und das von Joh. Buraeus (1599), mögen dem Schreiber bekannt gewesen sein und darauf mag sich die Bemerkung in der Vorrede, er, der Schreiber, habe außer den ihm aus Johannes Magnus bekannten auch noch andere, nicht dazu passende Zeichen in der Handschrift gefunden, aufs einfachste erklären. Von diesem Reichthum macht er denn auch nach Möglichkeit Gebrauch und Möller bemüth sich, eine gewisse Regel dafür zu finden, was ihm theilweise, z. B. bei den beiden Formen für t, gelungen zu sein scheint. Im Uebrigen aber dürfte doch der Versuch, für den Anfang des 17. Jahrhunderts einen Anlauf zu einer streng phonetischen Schreibweise festzustellen, noch auf zu schwankendem Grunde stehen. Andererseits bereitete die Runenschrift wieder manche Schwierigkeiten, wie z. B die Unmöglichkeit, ä (wenn nicht dafür e geschrieben wurde), ö und ü von a, o und u zu unterscheiden; so steht statt des offenbar absichtlich alterthümelnd gebrauchten diu stets du.

Soweit sind wir Möllers überaus sorgfältiger, nur infolge äußerer Umstände (die Drucke des 17. Jahrhunderts kamen erst während des Druckes der Abhandlung zu seiner Kenntniß) etwas unübersichtlich gerathener Untersuchung gefolgt, und es bleibt nun noch übrig, das für uns wichtigste Endergebniß daraus zu ziehen. Möller selbst spricht sich dafür aus, daß dem Verfasser des ursprünglichen, seiner Meinung nach etwa 1564 - 1571 entstandenen Gedichts der Gedanke einer Mystifikation völlig fern lag; schwieriger ist die Sache schon bei dem Urheber der Umschreibung in Runen, wenn man diese nicht für eine bloße Schreibübung ansehen will, ziemlich klar liegt der Fall aber bei denen, die dem offenbar ganz harmlosen v. Hille das Manuskript zur Veröffentlichung in die Hände gespielt haben.

Zuerst und vor Allem muß die Verschiedenheit in den Angaben über die Zeit und die Umstände der Auffindung des Gedichtes bei der Einstimmigkeit über den Ort auffallen. Der Verfasser der oben angeführten

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Vorrede sagt, er habe die Handschrift unter Staub und Moder in der Doberaner Kirche, die er besuchte, um die Gräber der alten wendischen Könige in Augenschein zu nehmen, aufgefunden und etwas davon mitgenommen. Rist ist im Sommer=Semester 1620 als Minorenner (er war gerade 13 Jahre alt) mit seinem Bruder Valentin, allerdings unter der falschen Namensform Risch, in Rostock immatrikuliert und ging dann nach Rinteln. Später kehrte er nach Rostock zurück und leistete hier am 24. Mai 1627 den Immatrikulationseid, doch scheint er sich in Rostock nicht lange aufgehalten zu haben, da er sich seiner eigenen Angabe nach, weil er dies für einen Landpfarrer erforderlich hielt, durch den Leibarzt des Herzogs Hans Albrecht von Meklenburg=Güstrow, Angelo Sala, in der Arzneikunde unterweisen ließ. Um die Mitte des Jahres 1628 mußten beide Herzöge vor den einrückenden Truppen Wallensteins das Land räumen, mit ihnen Angelo Sala und aller Wahrscheinlichkeit nach auch dessen Schüler Rist. Sein Aufenthalt in Doberan würde demnach in den Sommer 1628 fallen, wo das (damals noch keine zehn Jahre alte) Manuskript vernachlässigt in der Kirche lag. Langermann dagegen giebt an, daß es "vor etlichen Jahren von kaiserlichen Soldaten in einem vermauerten heimlichen Schranke wunderbarer Weise gefunden" sei und ähnlich berichtet Dietr. Schröder in seinen "Wismarischen Erstlingen" (Wismar 1732 - 34) S. 373, circa annum 1630 sei das Lied, welches ihm aber selbst gar nicht zu Gesicht gekommen war, in einem vermauerten heimlichen Schranke aufgefunden worden. Sollte man wohl annehmen, daß man, etwa durch den entdeckten Raub veranlaßt, die bisher unter Staub nnd Moder umherliegenden Papiere mit den übrigen Kostbarkeiten eingemauert habe? So lange Wallenstein Herr im Lande war, hat die Doberaner Kirche gewiß keine Schädigung von kaiserlichen Völkern erlitten, die so weit ging, daß sogar die Mauern nach verborgenen Schätzen durchsucht wurden; die ersten Nachrichten, die wir darüber haben, datieren aus dem October 1637; weit schlimmer war die Verwüstung im folgenden Jahre durch die Schweden, die selbst vor der Entweihung der Fürstengrüfte nicht zurückschreckten.

Wie stimmt das zusammen? Rists Bericht ist entschieden der ältere, wenn man also nicht annehmen mag, daß in Doberan, wie Möller will, eine ganze Anzahl von nicht buchstäblich übereinstimmenden, zum Theil stark fehlerbehafteten Runenumschriften des Liedes vorhanden war, von denen die eine, zufällig die beste, heimlich mitgenommen wurde, die anderen zu verschiedenen Zeiten später ans Licht kamen, so ist man genöthigt, sich an Rist zu halten. Merkwürdiger Weise trifft recht vieles, was Möller über den Dichter des Liedes festgestellt hat, auch auf Rist zu.

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Er hat seine Runenkenntniß aus Johannes Magnus - dessen Buch bildet die Hauptquelle des Dichters; dieser lebt im Herzogthum Güstrow, Rist als Schüler Salas am Güstrower Hofe, wo ihm die Genealogie des Andreas Mylius, wie das Heldenbuch Kaspars von der Roen im Original zugänglich sein konnten; der Bau der beiden Jachten, die der Herzog Adolpf) Friedrich 1616 - 18 für sein Schloß "Anseburg" auf Pöel erbauen ließ 1 ), konnte sehr wohl an die Schiffe Johann Albrechts erinnern. Stargard war nach dem Tode Herzog Ulrichs III., der doch noch ab und zu auf kürzere Zeit dort seinen Aufenthalt genommen hatte, dessen Hauptresidenz Güstrow aber genannt ist, nie mehr auch nur vorübergehend Wohnsitz eines regierenden Herrn. Alles würde demnach auch auf Rist passen, nur nicht der mitteldeutsche Dialekt, und so sehen wir uns genöthigt, nach einem anderen Verfasser oder wenigstens Urheber des Runenmanuskripts zu suchen, und dieser bietet sich von selbst dar in der Person des schon genannten Elias Schede. Am 12. Juni 1615 zu Kaaden in Böhmen 2 ), wo sein Vater Georg Schulrektor war, geboren, ging er mit diesem 1623 nach Meklenburg, wo er bald in den Ruf eines Wunderkindes kam. Im Sommer 1625 wurde er in Rostock immatrikuliert, verfaßte zwölfjährig griechische und lateinische Reden und Verse, trieb sechzehnjährig mit dem zur Zeit in Güstrow weilenden Griechen Romanus Nicephorus aus Korinth italienisch, später französisch und holländisch, und kehrte wohl im März 1632 mit Nicephorus nach Rostock zurück, wo er 1633 mit dem Dichterlorbeer gekrönt wurde. Von hier ging er nach Hamburg und nahm dort eine Informatorstelle an. Es würde demnach der in Rists Manuskript geschilderte Besuch Doberans ins Jahr 1633 fallen. 1635 kehrte er nach Meklenburg zurück, den Kopf voller weitfliegender Pläne, worunter auch der des oben erwähnten Heldengedichts nach dem Vorbilde Ariosts. Sein Vater, vorher Rektor in Bützow, war 1629 Rektor der Domschule in Güstrow geworden und starb daselbst am 12. Dec. 1650. Nach den uns erhaltenen Aufzählungen seiner allerdings bis auf ganz weniges, was der Vater nach seinem Tode veröffentlichte, ungedruckten Arbeiten hat er während seines kurzen Lebens - er starb noch nicht 26 Jahre alt am 12. März 1641 (n. St.) auf einer Reise in Warschau - eine geradezu fabelhafte Thätigkeit und Vielseitigkeit entwickelt. Unter seinen Schriften finden wir außer dem Anthyrius=Epos ein Werk über die Götter der Germanen, vom Vater


1) Jahrb. XLVIII, S. 17/18.
2) Nicht.Kadau in Mähren. wie J. Bolte, dem ich im Uebrigen hier folge, in der Allg. Deutschen Biographie Bd. 30, S. 662 angiebt. Weiteres bei Westphalen, Monum. ined. I, praef. 26.
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1648 in Amsterdam herausgegeben und bis 1728 mehrfach aufgelegt, das ihm für immer einen Platz in der Geschichte der germanischen Alterthumskunde gesichert hat, ferner eine "Beschreibung der Thaten der Archiscythischen und Obotritischen Könige und Regenten in Meklenburg" in drei dicken Bänden und eine "Teutsche Uebersetzung der Historiae Herulorum per Nicol. Marschalcum sermone latino, sed difficili conscriptae", die E. J. von Westphalen im 1. Band seiner Monumenta inedita S. 168 ff. abgedruckt hat 1 )

Nehmen wir die oben für Rist angeführten, für Schede aber in gleicher Weise sprechenden Umstände, die Heimath Schedes im mitteldeutschen Sprachgebiet, dem Egerlande, die hohe Wahrscheinlichkeit, daß Elias Schede, obgleich keine verwandtschaftliche Beziehungen vorliegen, die Werke seines berühmten Namensvetters Paul Melissus studiert hat, und die Thatsache, daß Elias Schede wirklich eine selbstständige dichterische Bearbeitung der Anthyriussage geliefert hat, zusammen, so dürfte die Vermuthung nicht allzu gewagt erscheinen, daß Elias Schede die oben auszugsweise in deutscher Uebersetzung wiedergegebene Vorrede und die eine Neubearbeitung verheißenden Schlußworte verfaßt und ebenso die Ab= und Umschrift des erhaltenen Liedes angefertigt hat, und daß das Haseldorfer Heft nur eine Abschrift davon ist. Eine weitere Stütze erhält diese Vermuthung dadurch, daß die späteren Nachträge Rists schon die erst 1647 erfolgte Veröffentlichung in v. Hille-s Palmbaum zur Voraussetzung haben. Es läßt sich kaum von der Hand weisen, daß Rist und Schede während des letzteren Aufenthalts in Hamburg mit einander bekannt geworden sind, wenn die Bekanntschaft nicht schon auf den gleichzeitigen Aufenthalt in Rostock und Güstrow zurückzuführen ist, und so erklärt sich auch Rists Schweigen über die Veröffentlichung am ungezwungensten.

Ist nun aber Schede auch wirklich der Verfasser des uns beschäftigenden Anthyriusliedes? Ich möchte es als wahrscheinlich, was die Runenhandschrift betrifft, als sicher annehmen. Ursprünglich als gelehrte Spielerei, als lusus ingenii, verfertigt, und ebenso in Runenschrift übertragen, scheint es dem Verfasser später, als er den Plan faßt, den Stoff weiter auszuführen, geeignet, Aufsehen zu erregen und gesteigertes Interesse für die folgende in modernem Versmaß geschriebene Bearbeitung zu erwecken. Daß eine Mystifikation nicht von vornherein beabsichtigt war, beweist die letzte Strophe, die


1) Der Geh. Rath Günther v. Passow, geb. 24. Juli 1605, gest. 23. November 1657, schreibt dem Landrath Levin Heinrich v. Linstow diese Uebersetzung zu, doch entscheidet sich Westphalen I, praef. 26 und ebenso Nettelbladt in der Succincta notitia S. 32 für Schede.
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den Preis der späten Nachkommen singt, aber das in Haseldorf aufgefundene Manuskript läßt bereits an manchen äußeren Anzeichen erkennen, daß der Schreiber Nebenabsichten damit verband. Wie die vortrefflichen Facsimiletafeln zeigen, ist es keine erste Niederschrift - einer solchen mit größter Ueberlegung und Vorsicht durchgeführten Arbeit müssen verschiedene mehr oder weniger fehlerbehaftete Entwürfe vorausgegangen sein, die auch vielleicht schon Aenderungen des ersten Textes herbeiführten - sondern eine auch noch nicht ganz fehlerlose Reinschrift, die darauf ausgeht, glaubhaft zu machen, daß sie nur einen Theil eines größeren Ganzen darstellt, in sich aber doch abgeschlossen sein soll. Sie durfte also nicht mehr als eine Lage füllen und mußte doch noch einen Hinweis auf eine Fortsetzung enthalten. Die erste Seite ist mit weiten Linien und großen Buchstaben geschrieben; bei der zweiten steigen dem Schreiber Bedenken auf, ob der Raum wohl ausreicht, er wählt also engere Zeilen und kleinere Schrift. Auch auf dem dritten Blatt fährt er so fort, wird aber gegen Ende gewahr, daß genügend Platz da ist, läßt sich etwas mehr gehen und schreibt die Schlußseite, um sie zu füllen, womöglich mit noch größeren Schriftzeichen als die erste. Auf den freibleibenden Raum setzt er dann die Ankündigung der Fortsetzung:

Folget weiter ein Lied von dapfern Anavas welches Visibert ein Bard 1 ) gesungen

und stellt zum Ueberfluß unten in die rechte Ecke in großen Buchstaben das Wort Anavas als Bogenwächter (Custos), eine Einrichtung, die selbst die älteren Drucke noch nicht kennen. Hieraus ergiebt sich, glaube ich, zur Genüge, daß eine Täuschungsabsicht vorliegt und daß eine Weiterführung nie existiert hat. Auf diese Weise erklärt sich auch zwanglos das Vorhandensein verschiedener in Kleinigkeiten von einander abweichender Runenhandschriften des Liedes, von denen eine durch Schedes Vater an Langermann, der sich meist in Güstrow aufhielt, gekommen sein mag, die neben anderen, zum Theil offenbar fehlerhaften Abweichungen auch die den älteren Drucken mangelnden Strophen 23 und 30 nicht enthielt. Ebenso liegt es sehr nahe, daß der Vater sich gehütet haben wird, dem Lehrer der jungen Prinzen die Angabe seines Sohnes, er habe das Original heimlich aus der Doberaner Kirche mitgenommen, zu wiederholen, sondern , um die Herkunft aus der alten Ruhestätte des Fürstenhauses festhalten zu können, dafür kaiserliche Soldaten vorschob.


1) Barden bei den Germanen erwähnt schon Marschalk, Annales Herulorum etc. I, 7.
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Doberan hat die Urhandschrift sicherlich nie oder höchstens wohlverpackt im Reisesack des jungen Schede gesehen. Schon Morhof nennt das Lied "dem Reimgebäude nach wohlgesetzt" und fährt fort: "Die Worte geben es, daß es so gar alt nicht sey, aber es ist, der Zeit nach, nicht übel gemacht", aber das Richtige hat unzweifelhaft Caspar Voigt getroffen, der 1680 in seinem oben erwähnten Briefwechsel mit Jakob Döbel das Alter des Gedichts auf keine sechzig Jahre schätzt und dem Anthyrius in launiger Weise ein ehrenvolles, eines Königs würdiges Begräbniß verkündet, dessen Kosten Marschalk, der Vater, zu tragen hat und dem als Hauptleidtragende die Schaar der Historiker beiwohnen wird, die blindlings Marschalks Fabeleien als baare Münze angenommen haben.

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