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IX.

Adolf Friedrich Reinhard.

(1726 - 1783)

Studie

von

Dr. Hölscher,
Oberlehrer zu Bützow.


H iemit übergebe ich die erste Frucht mehrjähriger Studien über die Friedrichs=Universität zu Bützow und die mit ihr eng verknüpfte geistige Bewegung in Meklenburg der Oeffentlichkeit. Nicht ohne Bedenken; denn ich bin mir der Schwierigkeit wohl bewußt, auf so weitblickendem Gebiete als Erstling auch den billigsten Anforderungen gerecht zu werden. Denn wie fest ich auch überzeugt bin, daß das große Material, welches unbenutzt als vermodernder Schutt dalag, nicht verdient, der endlichen Verwesung preisgegeben zu werden, so fühle ich doch genug meine eigene Schwäche und die Schwere des Vorurtheils, welches nicht leicht anerkennt, daß Etwas in der Geschichte besonderer Beachtung werth ist, was bisher unbeachtet gelassen ist; es mag von dem "alten Kram" nichts wissen. -

Was mich zu diesen Forschungen bewog, war der Gedanke, daß auch Meklenburg an dem gewaltigen Ringen der Geister in der Sturm= und Drangzeit müsse theilgenommen haben. Denn wie groß auch die Noth und das Elend im Lande, wie stark auch der Glaubensgeist des unvergeßlichen Herzogs Friedrich gewesen sein mochte, Beides reichte mir doch nicht aus, um auch mich glauben zu machen, daß Meklenburg von der Umwälzung, wie die Geschichte keine größere kennt, sollte unberührt geblieben sein, zumal da der plötzliche Umschlag

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beim Regierungsantritt des Herzogs Friedrich Franz I. ganz das Ansehen einer gewaltsamen Reaction hatte. Auch die Erklärung, daß Meklenburg, am weitesten nach Norden gelegen, zuletzt von der geistigen Bewegung ergriffen worden sei, erschien mir ebenso unzureichend als die andere: aus dem nur schwer für fremde Ideen sich erwärmenden Wesen des Meklenburgers. Ich suchte nach dem Beweise für die einzig probable Annahme, daß allerdings auch unter dem Regiment des Herzogs Friedrich ein lebhafter Kampf müsse geführt worden sein, um den verderblichen Geist des Unglaubens von Meklenburg fern zu halten. Wie hätte es anders sein können bei einem Fürsten wie Herzog Friedrich, welchem nichts so sehr am Herzen lag, als seinem durch lange Kriegsnoth tiefgesunkenen, entkräfteten Volk in der lebendigen Kraft des Wortes Gottes die Stütze zu geben, an welcher allein es sich emporrichten konnte! Wie hätte nicht dieser fromme Fürst Alles aufrufen sollen, mit ihm die Feinde, welche seinem kaum wieder aufathmenden Volke den köstlichsten Schatz des Glaubens an Gottes Liebe zu entreißen suchten, mannhaft zu bekämpfen! Indem ich aber nach Beweisen suchte, fand ich mehr, als ich gehofft: es traten mir Männer entgegen, deren Namen heute vergessen sind, deren Wirken aber nicht verdient, undankbar vergessen zu werden. Denn mögen wir jetzt nach hundert Jahren auch mit klarerem Blick die Bedeutung jener großen Umwälzung erkennen und dankbar eine höhere Führung darin erblicken, so dürfen wir doch nicht übersehen, daß auch die Gegenströmung ihr volles Recht hatte. Aber diese Gegenströmung wird bis auf den heutigen Tag noch nicht so ganz der verdienten Aufmerksamkeit gewürdigt; vielfach werden die Männer, welche den Muth hatten, sich den vergötterten Lieblingen ihrer Zeit entgegenzuwerfen und das nil humani zuzurufen (ich erinnere nur an den Hauptpastor Götze), noch mit derselben Verachtung genannt, welcher sie in der Leidenschaft des Kampfes preisgegeben wurden. Man darf jedoch in der gerechten Bewunderung der großen Geister ihre Schwäche nicht vergessen; ist doch über manchen Abgott jener Zeit das Urtheil der Gegner, daß er seinen Ruhm noch lange überleben werde, nur zu schnell bestätigt worden!

Zu den Männern aber, welche unter Herzog Friedrich sich durch kräftige Opposition gegen die neuen Reformatoren hervorgethan haben, gehört in erster Reihe der Consistorial=Director und Prof. jur. prim. Adolf Friedrich Reinhard zu Bützow, ein Mann von so allseitiger Bildung und solch productiver Kraft, daß es unbegreiflich ist, wie die Nachwelt

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ihn ganz hat vergessen können. Von seinem ersten Lebensgange wissen wir wenig. Geboren 1726 zu Alt=Strelitz, wo sein Vater Advocat und Hofrath war, besuchte er 1744 die Universität Thorn, um sich dem juristischen Studium zu widmen. Dann bezog er 1745 die Universität Halle, wo er neben seinem Fachstudium besonders mit der Theologie sich beschäftigte. Im Jahre 1748 als Secretair an die Justiz=Canzlei in Neu=Strelitz berufen, benutzte er seine viele Muße, um sich mit dem Stand der historischen und schönen Wissenschaften bekannt zu machen. Aber bald wandte sich sein ganzes Interesse den philosophischen Speculationen zu, für welche er entschiedenes Talent besaß. Mit klarem Auge sah er den großen Schaden, welchen die Wolff'sche Art zu philosophiren anrichtete; nicht nur, daß eine zur Speculation ganz unfähige, selbstgenügsame und salbadernde Philosophie zur Mode wurde, sondern auch die Theologie nahm seit der Aufnahme des Wolff'schen mathematisch=formalen Schematismus einen Charakter an, welcher jedem gläubigen Christen verderblich erscheinen mußte. Schon in seiner Erstlingsschrift: "Kommt die Gottesleugnung aus der Fatalität" (1753), wies Reinhard nach, daß eine Theologie, welche, ohne Einsicht in ihr eigentliches Leben zu geben, nur die logische Richtigkeit ihrer Lehre beachte, unvermeidlich in eine nach den Geheimnissen des Glaubens nichts mehr fragende Vernunfttheologie ausarten müsse. Der völlige Abfall von Wolff war vollendet, als Reinhard die Schriften des als Philosophen und Theologen gleich bedeutenden Leipziger Professors Christian August Crusius näher kennen lernte; denn was er suchte, wissenschaftliche Forschung, christliche Frömmigkeit und evangelisch=lutherische Rechtgläubigkeit, das alles fand er in diesem aus den Kämpfen der pietistischen und orthodoxen Schule hervorgegangenen Manne zu schönster Harmonie vereinigt. Mit wahrer Begeisterung schloß er sich an ihn an und hatte die nicht geringe Genugthuung, daß die Akademie der Wissenschaften in Berlin seine beiden gegen Wolff gerichteten Schriften (1755): "Sur l'optimisme" und "Die Vollkommenheit der Welt nach dem System des Herrn Leibnitz", mit dem Preise krönte. Aber die Bitterkeit, womit er in diesen bald weitbekannten Schriften die Berechtigung der Polemik von Crusius gegen v. Wolff nachwies, die Schärfe, mit welcher er den Optimismus und Determinismus bekämpfte, entsprach nicht ganz der eigenen Stärke; ohne die Unterstützung des Canonicus Ziegra in Hamburg, eines tüchtig geschulten Crusianers, wäre Reinhard in der litterarischen Fehde, welche sich über den Optimismus

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entspann, unterlegen 1 ). Erst allmählich arbeitete sich Reinhard zu der völligen Klarheit seiner philosophischen Anschauungen empor, wie aus einer größeren Reihe von Schriften, namentlich über die Freiheit Gottes und der Menschen, hervorgeht. Ein eigenes philosophisches System, welches über Crusius hinausginge, hat er aber nicht aufgestellt. -

Im Jahre 1759 wurde Reinhard Wirklicher Justiz= und Canzleirath in Neu=Strelitz, in welcher Stellung er uns bei Nugent lebendig vor die Augen tritt. "Er ist von mittlerer Gestalt", schreibt der englische Reisende (1766), "schwärzlich und von Blattern gezeichnet; er hat einen freundlichen Blick, scheint aber doch in seinem Aeußerlichen mehr zurückhaltend als mittheilend zu sein. Von dem ununterbrochenenen Studiren ist sein Blick zu finstern, steifen Falten gewöhnt, die sich aber verlieren, sobald er sich unterhält; denn in Gesellschaften ist er der angenehmste Mann. Außer den gelehrten Sprachen ist er auch noch mit den meisten lebenden bekannt" (I, 284). "Obgleich er niemals in England gewesene ist spricht er doch ziemlich gut englisch" (I, 257); "aber er besitzt, doch nicht hinlänglich genug Kenntnisse in der englischen Sprache, um an den englischen Dichtern Geschmack zu finden; selbst der unsterbliche Shakespeare entgeht seiner Verachtung nicht. Auch von anderen Vorurtheilen ist er nicht frei, denn welcher Sterbliche ist wohl ohne Vorurtheil?" u. s. w. (II, p. 185). Seine Frau war die Tochter des Leibmedicus Hempel zu Alt=Strelitz, welcher Nugent "das beste Herz" nachrühmt, und von welcher der Uebersetzer (Karsten, Prof. in Bützow, dann in Rostock) bemerkt, daß sie eine große Kenntniß der Naturgeschichte besitze. Die Angaben Nugents 2 ) über die persönlichen Beziehungen Reinhards zu dem Strelitzer Hofkreise finden ihre Bestätigung nicht allein in dem "Briefwechsel" (Leipz. 1755-59, St. 1-3), sondern auch in der Herzog Adolf Friedrich gewidmeten "Sammlung einiger Gedichte" (1755, 2. Aufl. 1760) und in den an den Kammerjunker von Genzkow gerichteten "freundschaftlichen Briefen und Gedichten".


1) In demselben Jahre 1755 habilitirte sich Kant in Königsberg mit der gegen Crusius gerichteten "Cognitio metaphysica"; 1759 erschien seine Schrift "über den Optimismus". - Zu der Fehde vgl. Rost. Gel. Nachr. 1759, p. 400 (Aepinus).
2) Reinhard nennt Nugent einmal einen Mann, dem es weniger um Wahrheit und Wissenschaft zu thun gewesen sei, als um Gelderwerb Daß Reinhard wohl englisch verstand, beweist seine "Melancholey" 1766. Aber ein großes Dichtergenie war Reinhard trotz dem Aepinus (Rost. Gelehrte Anzeigen 1762) nicht; er schrieb zwar formgewandt, aber ohne Schwung der Phantasie. Einige Gedichte von ihm stehen in den Schleswigschen Gelehrten Anzeigen.
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Auch in dieser neuen Stellung als Canzleirath hatte Reinhard Muße genug zur Fortsetzung seiner litterarischen Thätigkeit. Leicht ließe sich eine Seite füllen mit lauter Titeln von Büchern und sonstigen Arbeiten, welche er in dem Jahrzehnt von 1760-1770 veröffentlichte. Er war einer der stärksten Mitarbeiter an den von seinem Freunde Ziegra herausgegebenen "Hamburger Freiwilligen Beiträgen", und schrieb außerdem willkommene Recensionen für die Rostocker, Schleswigsche und Erfurter "Gelehrten Zeitungen", Einiges auch für die Strelitzer Intelligenz=Blätter. Fast alle diese Artikel waren polemisch und brachten ihn bald in den Ruf eines trotzigen, gegen den Modegeschmack seiner Zeit sich auflehnenden Gelehrten. Schon begannen die "Berliner Inquisitionsrichter", Nicolai und Genossen, auf ihn aufmerksam zu werden; sie sollten ihn bald zum schneidigen Gegner bekommen.

Denn 1770 trat Reinhard aus dem Strelitzischen Dienste aus und wurde Syndicus der Ritter= und Landschaft. Was ihn bewogen hat, aus dem Dienste eines Fürsten auszuscheiden, an welchem er nichts als die Nachahmung der preußischen Toleranz zu tadeln hatte, weiß ich nicht; das aber ist mir klar, daß Reinhard bei seinem dem absoluten Regimente geneigten Sinne in der neuen Stellung sich bald kreuzunglücklich gefühlt hat. Indessen hatte bereits, von dem Hofprediger Fidler, dem bekannten Proselyten, aufmerksam gemacht, Herzog Friedrich den Entschluß gefaßt, Reinhard in seinen Dienst zu nehmen. Auf eine dahin zielende Anfrage Fidlers erwiderte Reinhard, "er habe keinen innigeren Wunsch, als dem edlen Fürsten, dessen Lebensanschauung so ganz der eignen entspräche, alle seine Kräfte zu widmen". Seine Erwartung an den Hof zu kommen wurde nicht erfüllt; der Herzog hatte ihm ein schwereres Amt bestimmt.

Um diese Zeit nämlich war es, daß in Meklenburg die ersten Anzeichen einer Opposition gegen die von dem Herzog nicht ohne Gewalt durchgeführte und besonders vom Professor Christian Albrecht Döderlein in Bützow vertretene Theologie des neuern Hallischen Pietismus eintraten. Ein ganz unbedeutender Anlaß, der Prozeß gegen den (1767) wegen Verachtung des neuen Kirchengesangbuchs vom Consistorium zur Rechenschaft gezogenen Prediger Jantke in Güstrow, zeigte, wie tief noch die Abneigung gegen den "verhaßten Pietismus" war. Nicht nur viele Geistliche traten für Jantke ein, nicht nur der Engere Ausschuß und die Landschaft, sondern Döderlein selbst vermochte, trotz des persönlichen Eingreifens des Herzogs, gegen die beiden Juristen, den Präsidenten Taddel und den

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Vizepräsidenten von Hannecken, nicht durchzudringen. Jahrelang zog sich der Prozeß hin, indessen die auswärtigen Blätter den Vorfall benutzten, um die Gemüther gegen das Kirchenregiment aufzuwiegeln. Aber der Herzog faßte die Sache persönlich auf; er erkannte die drohende Gefahr. Hatte doch das von Kiel eingeholte Facultätsgutachten Jantke in Schutz genommen! Er beschloß dem Consistorium eine andre Gestalt zu geben, er ernannte 1770 Mauritii, den Collegen Döderleins, und den Superintendenten Keßler in Güstrow, beide Männer, auf welche er sich verlassen konnte, zu Consistorialräthen; nach Taddels Abschied (1773) gab er v. Hannecken den geschmeidigen Friedlieb, Döderleins Anhänger, zur juristischen Stütze; als Fiscal aber, dessen Amt es war die Klage zu erheben, wurde in Weinland eine taugliche Kraft gefunden. Die Absicht des Herzogs bei dieser Neuordnung des Consistoriums war so klar, daß nur noch die Wenigsten den Muth der Opposition behielten. Der Führer derselben war der Präpositus Hermes in Waren; er wagte es, im Vertrauen auf die ihm von Berlin aus versprochene Unterstützung, sich öffentlich von der Verpflichtung auf die symbolischen Bücher loszusagen und die Lehre der meklenburgischen Landeskirche anzugreifen. Von Weinland deshalb verklagt, wurde er in Untersuchung gezogen, für schuldig befunden und vom Herzog seines Amtes entsetzt. Die Aufregung im Lande über diesen Prozeß war ungeheuer; aber doch wagte fortan kein einziger Prediger in Meklenburg mehr, mit heterodoxer Lehre hervorzutreten. In wie manchem Herzen mag aber der Groll haften geblieben sein!

Die Hoffnung des Herzogs, die Aufregung im Lande durch die dem Hofprediger Martini in Schwerin und Döderlein in Bützow übertragene strenge Censur aller in Meklenburg erscheinenden theologischen Schriften zu beschwichtigen, erwies sich als irrig; denn sobald in Berlin die Kunde von dem "unerhörten Ketzergericht" verlautete, erhob sich dort ein solches Geschrei, daß davon auch ganz Meklenburg widerhallte. Man entblödete sich nicht, den Herzog selbst "einen frommen Eiferer" zu nennen; ja man schmeichelte sich mit der Hoffnung, Friedrich durch lautes Schreien einzuschüchtern. - Wie wenig kannten diese Leutchen von Berlin den Charakter dieses großen Fürsten, dem es um seinen Glauben heiliger Ernst war! 1 )


1) Vgl. die Herzogl. Verordnung an das Consistorium vom 14. Aug. 1776: "Ihr habt den Predigern bekannt zu machen, daß, wer seines abgelegten Bekenntnisses ungeachtet noch ferner bei heterodoxen Meinungen verharrt, nicht einmal den Charakter eines ehrlichen Mannes behaupten könne; viel weniger aber ein evangelischer Lehrer bleiben und verlangen (  ...  )
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Zur Abwehr aber der frechen Angriffe gab er dem Consistorium auf, die Acten über das Verfahren gegen Hermes zu veröffentlichen und zugleich eine Denkschrift über das Recht der Kirche zu solchem Verfahren auszuarbeiten. Döderlein, welchen das Consistorium damit betraute, entledigte sich seiner Aufgabe in der Schrift: "Ueber Toleranz und Gewissensfreiheit" so, daß selbst der Recensent dieser Arbeit in der "Deutschen Allg. Bibliothek" anerkannte, noch nie eine geschicktere Vertheidigung der orthodoxen Lehre und des Collegial=Kirchen=systems gelesen zu haben (Bd. XXX, 77, S. 402).

Ich konnte diesen Prozeß gegen Hermes nicht unerwähnt lassen, weil der durch ihn hervorgerufenen Aufregung im Lande Reinhard seine Erhebung zum Consistorialrath und Prof. jur. in Bützow verdankte. Denn wer wäre tauglicher zur Führung des Kampfes gegen Nicolai und Anhang in Berlin gewesen, als Reinhard, der mit diesen Helden der neuen Mode schon manche Lanze gebrochen und die Ehrennamen "des originalen Dummkopfs" und des "armen Stümpers" erhalten hatte! Mit Freuden nahm er den Plan auf, der "Deutschen Allgemeinen Bibliothek" ein Journal entgegenzusetzen, welches in Meklenburg und ganz Deutschland "die zum Schweigen gebrachte Wahrheit" verkündigen und "die Schliche der neuen Reformatoren" aufdecken sollte.

Wir dürfen uns von dem Einfluß eines solchen gelehrten Journals keine zu große Vorstellung machen, aber auch keine zu geringe. Denn um nicht an die Nicolaische Bibliothek und ihre Verwandten zu erinnern, so ist doch die geistige Erhebung unsers Volks, seine Auflehnung gegen den französischen Zwang im Bewußtsein der eigenen Stärke nur aus einem gewaltigen Einfluß der Litteratur auf das Denken des gesammten Volks zu erklären. Das Interesse an der Lösung der schwierigsten Fragen auf allen Gebieten der Wissenschaften und Künste war damals beim Publicum viel größer als heutzutage, wo die Politik alle Aufmerksamkeit absorbirt; man hatte damals das richtige Gefühl, daß die Bestrebungen der großen Geister eine nationale Bedeutung hatten, und nahm deshalb auch mit Begeisterung an dem Kampfe theil. Wer widersprach oder auch nur bescheiden auf die Gefahr der Ueberhebung oder Uebertreibung hinwies, war ein "Uhu" oder ein "Tölpel".


(  ...  ) könne, für die Ausbreitung von Irrlehren den Lohn zu empfangen, der für die reine Verkündigung des Evangeliums stipulirt ist. Friedrich.
J. P. Schmidt.
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In Meklenburg gab es aber damals kein einziges Journal, welches gelehrte Nachrichten gebracht hätte; und die Verbreitung der Berliner Journale wollte der Herzog hier nicht mehr dulden. So entstanden die "Kritischen Sammlungen zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit", deren erster Band 1774 in der Berger und Bödner'schen Buchhandlung, Bützow und Wismar, erschien.

Der Standpunkt, auf welchen sich Reinhard 1 ) in seiner Kritik stellte, ist am klarsten in einem Pro memoria an den Herzog (1774) ausgesprochen, in welchem er sich gegen die ihn wegen gehässiger Anzapfung einiger ihrer Lehrer verklagende Universität Göttingen vertheidigt; er erklärt es für unerhört, "daß Leute, welche sich nicht schämten, öffentlich heillose, alle Grundsätze der Moral umstürzende Schriften zu loben, deren willkürliche Schrifterklärung die größte Verwirrung der Gewissen hervorriefe, die sogar Eberhards Apotheose des Sokrates rühmten und ihren Schülern die Philosophie als unnütze Grübelei hinstellten: daß solche Leute es wagten, ihn, der ohne alle Nebenabsicht nur Gottes Ruhm und die Ehre der Wissenschaft vertheidige, zur Verantwortung zu ziehen. Was er gesagt habe, habe er gesagt; er lasse sich nicht tyrannisiren und behaupte sein gutes Recht, frei seine Meinung zu sagen".

"Bloß die Wahrheit", heißt es daher denn auch in der Vorrede zum I. Bande der "Kritischen Sammlungen", "soll beständig unser Gesetz sein; kein Ansehen der Person, kein berühmter Name, keine Lieblings=Idee unserer Zeit, keine Besorgniß, durch Bestreitung weit ausgebreiteter Meinungen zu mißfallen, sollen unserer Freimüthigkeit Fesseln anlegen".

Die Polemik gegen die Nicolaische Dictatur im Gebiet der Poesie übernahm Reinhard allein. Wie scharf tritt er gleich dem Urtheil seiner Zeit entgegen! Was uns besonders gefällt, ist die eingehende Begründung seiner Kritik; nirgends finden wir bloßes Raisonnement. Da schreibt er über Klopstocks Messias: "Das große Werk ist vollendet. Noch sind alle Stimmen der Verehrung laut. Da ist es schlimm für einen, der nicht bloß nachbeten will, sondern selbst prüfen. Ich weiß, man wird mich wegen meines Tadels einen Mann ohne Geschmack nennen. Aber ich mag nicht bloß citiren und ausrufen: wie majestätisch! wie entzückend! Auch ich war im Anfang ein begeisterter Bewunderer des Herrn Klopstock; aber schon im II. Bande stieß mich die Schreibart ab, die


1) Berufen am 22. Dec. 1773, von Hannecken † 1774.
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versetzten Worte widerten mich an. Im III. Bande wurden die Reden unausstehlich langweilig. Seine Schreibart war so undeutsch, holpericht und zerstückelt geworden, daß selbst seine Oden und Bardenlieder nicht schlimmer sind. Das Gute aber des Messias ist der heilige Ernst, nur dieses freie Bekenntniß des Glaubens an die Genugthuung durch Christi Leiden und Sterben macht mir das Werk verehrungswürdig. Aber das Schicksal des "Messias" steht mir trotz gewissen Kunstrichtern in einer berühmten Stadt fest: er wird immer viele Bewunderer, wenige Leser haben!"

Lessing ist ihm ein selten begabter Mann, den man als schönen Geist, Poeten, Litterator und Kritiker nicht hoch genug schätzen könne; es sei aber zu bedauern, daß er durch das Geschrei der Zeitungen, welche gleich Alles, was er schreibe, geschrieben habe und schreiben werde, aus vollem Halse lobten, zu dem thörichten Wahn gebracht werde, auch ein großer Philosoph zu sein, obwohl er doch "über den lieben Baumgarten" sich nicht versteige.

In dem Streit über Wielands Bedeutung stellt er sich entschieden auf die Seite der Bewunderer desselben; er bedauert nur, daß Wieland in seinem "Deutschen Merkur" sich dem gerechten Tadel bloßstelle. Denn wie groß auch die Gutmüthigkeit des Publicums sei, welches Alles von ihm als Leckerbissen verschlinge, so habe doch auch das größte Genie nicht das Recht, die Gutmüthigkeit zu mißbrauchen und ihr anzubieten, was es selbst verachte. Aber Wieland weiß: "Bald fängt ein Frosch zu quaken an, und der ganze Sumpf wird lebendig." Später wurde Reinhard ein erbitterter Feind des "weltberauschten Dichters".

Ueber Herder ist Reinhard sich nie klar geworden. Für einen großen Philosophen will er ihn nicht halten; der gekrönten Preisschrift "Ueber den Ursprung der menschlichen Sprache" spricht er allen Werth ab. Doch aber ahnt er den großen Geist dieses für das Verständniß der Poesie hochbegabten Mannes. "Wenn er nur nicht eine so abscheulich dunkle und Undeutsche Schreibart sich angenommen hätte, so würde man mit Vergnügen seine gedankenvollen Schriften lesen".

Viel bitterer bearbeitet aber Reinhard den "Göttinger Musen=Almanach", der an dem Deutschen Merkur in allen Albernheiten sich ein Muster nehme. " 's scheint fast, als wollt' Göttingen, welch's schon der Philosophie 's Mess'r an die Kehl' g'setzt hat, nun auch der Poesie 'n Rest geb'n. Möcht'n sich doch g'nüg'n lassen an ihr'n Recensionen und

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nicht mit ihr'n Vers'n Sitt' und Schmack verderb'n! Diese Sing=Sang=Sammlung zerfällt in zwei Classen: die eine ist natürlich und bringt einige gute Lieder, die andere mit ihren Barden= und Minneliedern lauter Unrath, elendes Zeug, Blumen ohne Geruch und Schmuck. Besonders Herr Bürger zeigt sich in vollem Licht; aber wem könnte der abscheuliche Mißbrauch biblischer Stellen in der Romanze "Lenore" gefallen, mag auch sonst viel Malerisches darin sein! Wann wird dieser Unfug aufhören? Wann wird man einsehen, daß "alte Ammen=, Wartefrauen= und Bänkelsänger=Lieder keinen Stoff für Romanzen und Balladen geben?"

Nicht minder scharf beurtheilt Reinhard den "Almanach der deutschen Musen". Die meisten Lieder können im Nothfall als Vomitiv dienen. Der Himmel behüte uns, daß diese Poesie noch mehr in Schwung gerathe! Schon umschwärmen uns die Dichter wie Mücken, und wer Anderes schreibt als Trink= und Minnelieder, ist ein Narr, sagen Herder und Jacobi. Sonderbar, aber gerade unsere "Nationaldeutschen Schriftsteller" befleißigen sich der meisten Fremdwörter. Und nun gar wird die Einmischung der Religion in die Liebeslieder als Petrarchisch gepriesen! So höre man:

"Ihr Gesicht, das Wesen alles Schönen, (wie albern!)
Soll mein höchster Himmel sein.
Möcht ich doch, damit ich Sünder lerne, (ja wohl, Sünder!)
Was erhaben ist und schön,
Ewig mich darin besehn! -
Auf die feinsten Pinselstriche (ihrer Wangen?)
Wandte Gott den größten Fleiß, - (saubere Idee!)
Herrlich war's, als gäbe Gott im Himmel
Seiner Erde Herz und Hand." (!?)

"Wenn man diese Almanache besieht, was für berühmte Namen oft unter den miserabelsten Gedichten stehn, so möchte man in Versuchung gerathen, über diese Sammlungen zuschreiben: "Quispeldorchen für unsere Dichter." Hagedorn, Uz, Zachariä und der treffliche Haller, wie bald sind sie vergessen! Aber es hat keine Zeit gegeben, wo man sich mehr bearbeitet hätte, "originell" zu sein! Unsere Barden= und Minnesänger, Singsangmacher, unsere allerliebsten, schalkhaften Dichter, unsere Shakespeare=Affen, unsere höckerigen Scribenten mit den vielen Querstrichen und besonders die "launigten" Schriftsteller - es ist, als ob sie im Kopfe verrückt wären!"

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Diese Angriffe blieben nicht unerwidert; von allen Seiten, in allen Journalen und Blättern erhob sich ein lautes Geschimpfe gegen die "Bützower Schandblätter". Um nur das Wichtigste zu nennen, so schalt Nicolai in der "Allg. Deutschen Bibliothek" Reinhard "ein mitternächtliches Gespenst, welches mit den Ketten, womit sein Verstand gefesselt sei, rassele und entsetzlich dazu heule." Aber es erhoben sich auch viele Stimmen für Reinhard, sodaß dieser in der Vorrede zum II. Bande der "Kritischen Sammlungen" (1775) mit Genugthuung constatirte, daß "die Sammlungen über Erwarten weite Verbreitung in ganz Deutschland" fänden. "Wir haben uns viele Freunde erworben; aber die Schreier, die Geschmacker, Neologisten, Herrn vom Bunde, belletristischen Petit=Maitres, die Nachsprecher, und wie das ganze Geschmeiß sich nennt, sie verwerfen unsere Kritik, pfeifen, drehen sich auf einem Fuß herum und schimpfen wie Bootsknechte und Heringsweiber. Gleich als ob wir nicht eben soviel Recht unser Mißfallen auszusprechen hätten, als jene Modemänner ihr Entzücken! Wir verlangen ja auch weiter nichts, als daß es außer Liebe und Wein für die Poesie auch noch andere Stoffe gebe, und man die Religion nicht so frech mit Füßen trete; das bloße Geschimpfe Nicolais und seiner Spießgesellen verschlägt bei uns so wenig als ihr Machtsprechen."

"Die Poesie", heißt es in diesem zweiten Bande der Sammlungen (1775), "hat wie die andern Künste und Wissenschaften ihre Perioden, und jede Periode ihren besondern Charakter. Der Charakter der jetzigen Poesie besteht im Hasiliren; sie ist affectirt, kakelnd, süß, läppisch=tändelnd, will immer nur Neues haben, ist voller Unnatur und Possen, welche man schon mit der Sprache anfängt. Der natürliche Fluß der Rede wird geflissentlich vermieden, ein holperichter, zerstückelter Stil mit Undeutschen Wörtern, fremden Ausdrücken, dunklen Anspielungen und verworrenen Constructionen gilt als Schönheit, welche Witz und Feuer ersetzen soll. Und doch bleibt ewig wahr, was Boileau sagt: daß, wer die Sprache verletzt, trotz des größten Genies ein elender Schriftsteller bleibt. Die jungen Herrn lachen darüber: was will uns dieser Franzose? Die Franzosen verstehen ja nichts von der Poesie! Shakespeare, der göttliche Shakespeare, ist ihr Muster. Die armen Leute! Weil Shakespeare bei seinen Fehlern ein so außerordentliches Genie hatte, daß allenthalben die größten Schönheiten wie Flammen aus dickem Rauch hervorblitzen, so glauben unsere geschmacklosen Witzlinge, daß seine Ausschweifungen nachahmungswürdige Schönheiten seien. Dazu

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kommt die üble Gewohnheit, Alles ohne Feile herauszugeben, die Verse, wie sie einfallen, niederzuschreiben und ohne Silbenmaß zu dichten. Und je gewürzter Etwas mit Zoten, Possen und Schwänken ist, desto begieriger nimmt das Ppublicum es auf".

"Doch hat unsere Mahnung, den Namen Gottes und sein Wort nicht zu mißbrauchen, in Göttingen, wie es scheint, genutzt; denn in dem neuen Almanach bringen Miller, Cramer, Hölty, Stolberg Gedichte, über welche sich jeder Christ freuen wird. Aber was soll man zu dem alten Gleim sagen, der mit 60 Jahren noch Gott bittet, ihn vor Mord und Ehebruch zu bewahren! Auch andere Lieder sind zum Speien."

Das Ansehen, welches Reinhard durch seine freimüthige Kritik den kritischen Sammlungen verschaffte, war trotz aller Anfeindungen in stetem Steigen; "denn wenn die Kunstrichter unserer Mode auch thun, als ob sie es garnicht begriffen, wie einer noch anders als sie urtheilen könne, so wird ihnen doch bereits um ihr Regiment bange. Mag auch der unfehlbare Schirach aus Leibeskräften über uns schimpfen, mag er auch so gütig sein, uns schreiben lassen zu wollen, was uns beliebt, da man tolerant sein müsse: bald wird's mit diesem Schwindel vorbei sein, und man wird anerkennen, daß wir uns gern vor dem Genie beugen; aber Götzendienst wollen wir nicht treiben."

Das Bemerkenswertheste aus dem 3. Bande der Sammlungen (1776) ist neben der fortgesetzten Polemik gegen die Almanachsdichter Reinhard's Klage, daß Göthe, "das neu aufgehende Licht", dessen Götz von Berlichingen in allen Händen sei, sich in seinem "Hofmeister" wie in der "Stella" von der Natur zum neuen Geschmacke abkehre und in Extasen und Paroxismen gefalle; weit greulicher sei aber der Taumel, in welchen er durch die "Leiden des jungen Werther" seine Zeit gestürzt habe; "denn deutlicher könnten die Grundsätze der heutigen Jugenderziehung und ihre Früchte nicht gezeigt werden als in diesem unseligen Buche, welches noch. viele, viele Köpfe verwirren werde." "Und was richtet er mit seiner Manier, alle großen Männer seiner Zeit rücksichtslos anzugreifen, an! Wir verweisen ihn auf das schändliche Pasquill "Wieland und seine Abonnenten", worin seine Manier von einem kleinen Geist mißbraucht wird. Daß wir darin unser Theil bekommen, wird Nicolai eine große Freude sein 1 ); aber es wird ja Mode, daß unsere Sammlungen auch für Romane den Stoff zu billigem Gelächter geben." -


1) Es war nicht der Fall. (S. A. D. B. XXXVI. 75.)
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Wir würden meinen, mit dem Angeführten der Beleuchtung der Reinhard'schen Polemik gegen Nicolai und Genossen genug gethan und die Schärfe seines Urtheils hinreichend gezeigt zu haben; die Zeit hat gerichtet, und ihr Urtheil ist sicherlich nicht gegen Reinhard ausgefallen. Aber wir möchten ihm Unrecht thun, wenn wir nicht einer Stelle aus dem 7. Stücke seiner "Sammlung juristischer, philosophischer und kritischer Aufsätze", welche er neben den "Kritischen Sammlungen" herausgab, hier noch ihr Plätzchen gönnten; denn es leuchtet daraus die Freude hervor, daß er nicht umsonst gestrebt und gekämpft habe, daß endlich auch die großen Geister Klopstock, Wieland, Göthe sich von Nicolai losgesagt und der unerträglichen Tyrannei ein Ende gemacht hätten. "Als ich", schreibt er 1778, in welchem Jahre auch seine Thätigkeit an den "Kritischen Sammlungen" aufhörte, "vor 5 Jahren eine Beurtheilung der Ramlerschen Oden herausgab, goß die "Deutsche Allgem. Bibliothek" eine wahre Flut von Schimpfwörtern über mich aus, ohne auch nur in einer Zeile die Gründe meiner Kritik zu prüfen, zum sichern Beweis, daß sie die Wahrheit meines Tadels fühlte. Aber Ramler war ihr Abgott, ohne Widerrede der größte Dichter. Was ich damals sagte, daß die Dichter von der Natur und dem Schönen sich immer mehr entfernten, daß seit den Berlinischen Litteraturbriefen eine Epoche angebrochen wäre, wo Machtsprüche, Kabale, Parteigeist entschieden und nur noch Genies und Oriainal=Genies das Wort führten, - wer erkennt es außer Nicolai heute nicht an? Ramler gilt schon Keinem mehr als großer Dichter; Manches wird von ihm wie von den Dichtern der Musen=Almanache erhalten bleiben, aber für große Genies erkennt sie schon niemand mehr. Das Chaos im Reich der schönen Künste und Wissenschaften beginnt sich zu ordnen, der gute Geschmack und die Wahrheit bekommen wieder ihr Recht. Mit dem Despotismus ist es vorbei." -

Gehen wir auf das letzte Motiv, welches Reinhard zu der erbitterten Polemik gegen Nicolai bewog, zurück, so finden wir es in dem Unwillen über die Beleidigungen, womit alle orthodoxen Streiter überhäuft wurden. Wie in der schönen Litteratur, so hatte sich auch in der Theologie eine Verbrüderung gebildet, welche, von der "Allg. Deutschen Bibliothek" kräftig unterstützt, eine Ehre darin suchte, alle tieferen Ideen des Christenthums zu verwässern, aufzuklären oder zu verneinen. Diese Kabale war Reinhard kein minderer Greuel

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als jene oben beschriebene; und hierin berührte er sich innig mit seinem Landesherrn, Herzog Friedrich, der es klar erkannte, daß ein Staat zu Grunde gehe, in welchem die Irreligiosität um sich greife und den Fanatismus erzeuge.

Man fordere aber nicht von mir, daß ich ein Bild der traurigen Lage, in welcher sich damals, wie die Kirche überhaupt, so besonders die protestantische Kirche befand, auch nur mit kurzen Strichen andeute! Denn dieses Zeitalter, wo Freund und Feind den Untergang des Christenthums nahe glaubten, wo die berühmtesten Gottesgelehrten die Pfeiler der Kirche niederrissen, wo über den Werth der symbolischen Bücher, über den Kanon, die Offenbarung Johannis, die prophetische Theologie, die Lehre von den bösen Geistern heftig gestritten wurde, nur ein solches Zeitalter konnte Leute wie Semler, Ernesti, Töllner, Michaelis, ja auch Spalding und Jerusalem in blinder Leidenschaft dahin bringen, den Trost ihres Glaubens einer leeren Chimäre zu opfern und Stürmern die Bahn zu bereiten, die mit Bahrdt, Basedow, Eberhard an der Spitze dahin gelangten, an keinen dreieinigen Gott, keinen Heiland, keinen Heiligen Geist mehr zu glauben und die Lehre von der Erbsünde, von den Engeln, von Versöhnung und Genugthuung als Pfaffenwerk zu verhöhnen. Beachten wir dazu, daß diesem Geiste der Verneinung die Orthodoxie nur sehr wenige treue Hüter des alten Glaubens entgegenzustellen hatte, ihre meisten Vertreter aber den unseligen Mittelweg, auf dem ihnen nichts geopfert wurde, sie aber Alles opfern mußten, "um des lieben Friedens willen" zu halten suchten, so ist kein Wunder, daß die kleine Herde frommer Christen, welche der Wahrheit folgte, das Weltgericht nahe glaubte.

Viele Seelen in diesem Kampfe des "vernünftelnden Unglaubens" gegen die reine Lehre in der Treue gestärkt, viele von der Bahn des Verderbens zurückgeholt zu haben - das ist das Verdienst, welches sich Reinhard einmal in seinen kritischen Sammlungen zuschreibt. Ein großes Selbstlob! Aber ich wüßte auch Keinen, der mit gleicher Consequenz auf die "vielseitige, abgeklärte, vertiefte und veredelte" Theologie des Crusius als den Fels der Orthodoxie hingewiesen hätte; Crusius ist ihm "der leuchtende Stern" in der Nacht der Finsterniß, Crusius die Stütze der Frommen und ihr Vertrauen, daß Gott seine Kirche nicht verlassen hat.

Aber Reinhard war allein nicht im Stande, auch noch diesen Kampf zu führen; er suchte und fand Kräfte, welche ihn unterstützten. Ich hebe besonders Döderlein, Tychsen,

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Mauritii, Professoren in Bützow, Ziegra, Köppen, Piderit in Kassel hervor. Und doch ist fast der größere Theil der theologischen Recensionen aus Reinhards Feder geflossen! Wenn wir zunächst die gegen Nicolai gerichteten Artikel (und hierhin dürfte ich vielleicht auch Lessings gegen die Offenbarung gerichtete Schriften zählen 1 ) aussondern, in denen die gottlosen Romane und ihresgleichen ihr gerechtes Urtheil bekommen: so kommen in zweiter Reihe die Artikel, welche Crusius betreffen. "Die Wolffsche Philosophie", sagt Reinhard, "ist eine falsche Freundin der Theologie geworden. Denn sie hebt im Grunde alle moralischen Begriffe, wieviel sie auch damit hantiert, auf und setzt an ihre Stelle den stoischen Fatalismus; mit ihrem gegen allen gefunden Verstand laufenden Spielwerk der Syllogismen verwandelt sie das Kernigte und Positive unserer Erkenntniß in willkürliche, relative und am Ende nichts Gewisses mehr übrig lassende Nominal=Definitionen." "Wie viel höher steht Crusius, der treue Streiter zur Ehre Gottes, den Naturalisten und Spöttern wegen seines festen Glaubens an die Geheimnisse der Heiligen Schrift ein Stein des Anstoßes und ein Aergerniß, aber Allen, die ihn kennen, der treue Hort und Schutz gegen die Lockungen des Satans." "Daß seine Lehre nicht mehr durchdringt, liegt einestheils an dem Abfall der Schüler Speners von ihrem Meister, anderntheils an der Abneigung unsrer Zeit gegen jede gründliche und ernsthafte Gelehrsamkeit. Schon Charolais hat bekannt, "daß der Geschmack an der Schöngeisterei, zur Mode geworden, alle wahre Gelehrsamkeit verdirbt." "Zwar unser Zeitalter - es nennt sich mit Vorliebe das philosophische; aber alle Hypothesen, welche unsere Philosophie der Mode zu Tage bringt, sind den niederträchtigsten Leidenschaften entsprungen. Je gotteslästerlicher ein Buch ist, desto mehr wird es gelobt, wie es neulich wieder sich an der heillosen Schrift des Helvetius: De l'homme etc. gezeigt hat."

"Und mit diesen Feinden des Reiches Gottes soll ich schonend umgehen? Was dabei herauskommt, hat die Zeit gelehrt; zuerst fing man an, Toleranz zu predigen und die Orthodoxie lächerlich zu machen; darauf machten die neuen Reformatoren die Bibel zu einem verächtlichen Buch, man


1) Noch niemals, sagt Reinhard, sei ein dem Christenthum gefährlicherer Feind erstanden als Lessing, noch nie habe ein Mensch seinen Scharfsinn so zum Unheil der Welt mißbraucht; "es ist mir unbegreiflich, wie ein so heller Geist sich gegen die Wahrheit verschließen kann, und ich möchte glauben, daß es oft nur eine zwar sehr verwerfliche Ironie ist, oder die Lust, taube, harte Nüsse den Theologen vorzuwerfen."
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verdrehte die Schrift, merzte die Wunder aus und gab den Wörtern Glauben, Rechtfertigung, Sohn Gottes, Opfer, Satan, Erlösung eine andre Bedeutung. Wer widersprach, war ein Ignorant, Dummkopf, Eiferer, Ketzermacher, oder wie man den Herausgeber dieser Sammlungen mit Vorliebe nennt, der Duns von Bützow, der leibhaftige Pater Merz, ein dummer, boshafter Teufel. Wer den Herausgeber kennt, weiß, daß er sich um das Geschimpfe des scheuslichen Gelichters nicht kümmert; aber man fordere von ihm nicht, daß er um des Friedens willen auch nur das Allergeringste von der Kraft der göttlichen Aussprüche aufopfere. Mit Sanftmuth wird nichts ausgerichtet; unserm Eifer für die gute Sache der Kirche wird aus allen Theilen Deutschlands Beifall gespendet; die Throne erheben sich gegen die Frechheit und Gemeinheit 1 ); die katholische Kirche macht mit uns gemeinsame Sache 2 ); schon erhebt sich für uns die große Mittelpartei und verweist unsern Feinden das leere Geschimpfe; denn ihr geht die Erkenntniß auf, daß wir eine gute Sache vertreten, sie erkennt zu ihrem Schrecken den Schaden, den die Aufklärung bringt 3 ). Selbst Herder 4 ), Ernesti, Michaelis sondern sich von dem gemeinen Haufen ab, und die Zeit ist vorüber, wo ein frecher Jude schreiben durfte: "Die Christen sind geschächt, völlig geschächt, caput und mechulle. Der Hohepriester Götze geht schon gebückt, er ist geknickt. Gesegnet seid ihr, Rabbi Bahrdt und Rabbi Semler, und du, großer


1) Bekanntlich gingen viele Regierungen gegen die neue Bewegung vor. Besonders bemerkenswerth ist ein Erlaß des Churfürsten Friedrich August von Sachsen an das Consistorium (2. Oct. 1776): "Nachdem zeithero wahrzunehmen gewesen ist, daß von einigen neueren Gelehrten in der evangelischen Kirche irrige Lehren angenommen und verbreitet werden; Wir aber dergl. der evangelischen Kirche zu großem Nachtheil gereichendes Uebel von Unsern Landen fernhalten wollen: also ist Unser Begehren etc. . Gezeichnet von Peter Friedrich von Hohenthal. J. H. Heiden.
2) Angeregt durch die "Kritischen Sammlungen", entstand in Mainz 1777 ein katholisches Journal, welches nur gegen die Freigeister Front machen sollte.
3) Die Rückwirkung der Toleranz auf die Prediger kennzeichnet Reinhard einmal treffend mit wenigen Worten: "Sie gehen in Müssiggang, zerfließen in Trägheit oder arbeiten mehr unter freiem Himmel als in der Kirche und der Studirstube, warten unter dem Zuruf der Patrioten Bienen, pflanzen Maulbeerbäume und erfinden neuen Dünger."
4) Reinhard meint Herders Erläuterungen zum N. T., Riga 1775, und Ernesti's Streit mit Eberhard über Vernunft und Offenbarung. Michaelis bekannte freimüthig, daß es nicht allein das Recht, sondern auch die Pflicht der Fürsten sei, einen von dem Glauben seiner Gemeinde abweichenden Lehrer zur Niederlegung seines Amts zu zwingen.
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Bücherkrämer Nicolai! Ganz Israel spreche: Amen!" (Brief eines reisenden Juden v. J. 1776.) -

So habe ich versucht, ein Gesammtbild Reinhards aus seinen Schriften zurückzugewinnen 1 ). Soweit es anging, habe ich ihn überall redend eingeführt, um das lebendige Wort wirken zu lassen; und was meine Absicht war, zu zeigen, daß Reinhard die ihm von seinem Herzog gestellte Aufgabe des Kampfes gegen den Despotismus der Berliner in einer fern über die engen Grenzen Meklenburgs hinausreichenden Tragweite und Bedeutung glänzend erfüllt hat, das ist mir hoffentlich gelungen. Wenn aber Reinhard im Jahre 1778 sich der frohen Hoffnung hingab, daß auch für die Kirche bereits ein neues Morgenroth aufsteige und die traurige Prüfungszeit zu Ende gehe, so war er in großem Irrthum. Indessen erlebte er den siegreichen Einzug des crassen Rationalismus in Meklenburg nicht mehr.

Es treten nun aber noch zwei Fragen an uns heran, von deren richtiger Beantwortung Alles abhängt; erstens: ist das hohe Ansehen, welches Reinhard seiner litterarischen Thätigkeit zuschreibt, und ihr Einfluß wirklich so groß und bedeutsam gewesen? - und zweitens: ist die Sache, welche Reinhard vertritt, auch Herzenssache für ihn gewesen?

Für Meklenburg beantwortet sich die erste Frage leicht; denn es liegt das hochwichtige Zeugniß des Herzogs Friedrich vom Jahre 1784 vor, in welchem er neben dem besten Lobe Reinhards es sehr beklagt, "daß die so überaus nützlichen, dem Lande höchstförderlichen und dem Publicum angenehmen "Kritischen Sammlungen" aufgehört hätten;" 2 ) und es ist eine anerkannte Thatsache, daß seit dem Hermes'schen Proceß jede Opposition verstummte. Von einem Consistorium, dessen Director Reinhard war (1775), konnte kein Prediger Nachsicht erwarten!


1) In der Jurisprudenz hat Reinhard, obwohl er den Namen und Ruf eines tüchtigen Rechtsgelehrten hatte, wenig schriftstellerisch gearbeitet; die juristischen Recensionen für die "Kritischen Sammlungen" überließ er seinem Collegen Martini.
2) Denn seitdem Reinhard zum Lohne für seine aufopfernde Thätigkeit im Jahre 1779 vom Herzog in das Reichskammergericht nach Wetzlar gesandt worden war, hatte zwar Prof. P. A. Müller in Bützow die Kritischen Sammlungen fortzusetzen versucht; aber da er zu einseitig und ungeschickt war, so waren dieselben bald von der Höhe niedergesunken und gingen 1782 ein. Der Versuch desselben Professors das Unternehmen in den "Kritischen Beiträgen zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit" Leipzig 1786, G. H. Hirtel) zu erneuern. scheiterte so kläglich, daß kein zweiter Band herauskam.
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Schwieriger liegt die Frage für Deutschland. Denn bestätigt sich, daß die Verachtung, womit die "Allg. Deutsche Bibliothek", die "Mitauische Theologische Bibliothek", die Professoren Semler, Pölz, Seiler, Schirach u. A. von dem Herausgeber der "Kritischen Sammlungen" reden, eine allgemein getheilte und, wie Nicolai sagt, darin gegründete war, daß er ohne genügende Gelehrsamkeit entweder mit hochtrabendem Ton oder mit platter Ironie von dem, was seine Zeit hochschätze, rede: so müßten auch wir ihm die Hochachtung versagen. Aber wir hoben schon oben den kritischen Scharfblick Reinhards lobend hervor; und derselbe Nicolai rühmt an andrer Stelle Gründlichkeit der dogmatischen Arbeiten Reinhards (Bd. XXI. S. 124l), und sein Tadel, daß er mit der Verherrlichung des Crusius weit vom echt philosophischen Geiste entfernt sei, ist in meinen Augen ein Lob. Und wo Reinhard pseudonym schreibt, findet er stets großes Lob bei Nicolai. So ist denn der Haß der "Allg. Deutschen Bibliothek" wohl ein persönlicher gewesen und aus der Furcht entsprungen, daß die scharfe Kritik des Gegners weitere Anerkennung finden könnte. Bestätigt wird dies noch durch Nicolais Vorwurf gegen Wieland, daß "er sich nun auch die Bützower Sammlungen zum Vorbild nehme" (Anhang, 2. Band XXIV-XXXVI. S. 387). Semler aber, der Führer der neuen Theologie, ist gegen Reinhard am meisten aufgebracht, weil er sich nicht scheue mit den Katholiken gemeinsame Sache zu machen (S. 301, Anm. 2) und Leidenschaften zu erregen, welche der Kirche schadeten, - nur ein Beweis, daß Reinhards Polemik nicht ungehört verklungen ist. Es ist mir deswegen durchaus nicht unglaublich, wenn Reinhard wiederholt sein größtes Verdienst darin setzt, zur Befeindung der gemeingefährlichen Bestrebungen der Freigeister und zu dem Vorgehen der Regierungen gegen dieselben viel beigetragen zu haben. Daß er bei der Absetzung Bahrdts mitgewirkt hat, steht actenmäßig fest. 1 ) -

Aber meinte Reinhard es auch ehrlich? War er nicht etwa, wie viele seiner Zeit, ein gefälliger Diener des Herzogs Friedrich, der nur um Fürstengunst buhlte? -- Wir sind in


1) Hier mag noch zur Beleuchtung der infamen Verleumdung, deren die Gegner fähig waren, der durch J. H. Voß weithin bekannt gewordene Proceß gegen Biester, den bekannten Jesuitenriecher, seine kurze Erledigung finden. An der ganzen Geschichte, wie sie Voß erzählt, ist kein wahres Wort! Sondern Biester, welcher Lehrer am Pädagogium in Bützow war, nahm, vom Director Möller wegen Insubordination und unhöflichen Benehmens verklagt, selbst seinen Abschied. In den Acten und Briefen Biesters ist von gar keinem weiteren Proceß die Rede.
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der glücklichen Lage, diese Frage eingehend aus den Briefen Tychsens beantworten zu können.

Als Reinhard im Jahre 1774 seine Stellung als Professor an der Universität Bützow antrat, ließ er sich, um seine ganze Kraft der litterarischen Thätigkeit widmen zu können, durch den Herzog vom Rectorat und allen Concilsgeschäften dispensiren, hielt auch keine der angekündigten Vorlesungen, da er nicht Lust hatte, für 2-3 Studenten ein Heft auszuarbeiten. Diese Bevorzugung ärgerte aber vor allen besonders seinen Fachcollegen, den durch sein Criminalrecht bekannten Quistorp, der es zuwege brachte, daß sich das Collegium in zwei Parteien sonderte; auf der einen Seite standen bei Reinhard Döderlein, Fidler, Tychsen, Müller und Martini, die Mitarbeiter an den "Kritischen Sammlungen", auf der andern bei Quistorp Tetens, Witte, Karsten, Toze, die Anhänger Nicolais. Die Regierung hätte gern vermittelt, aber der Herzog stand unerschütterlich zu Reinhard; selbst als der Geheime Rath J. P. Schmidt vorstellte, wie unzuträglich die Präoccupationsschreiben seien, mit welchen Reinhard unaufhörlich den Herzog behellige, und forderte, daß ihm seine "beißende, hämische und anzapfende" Schreibweise verwiesen werde, ergriff der Herzog für Reinhard Partei und wies auf seine großen Verdienste hin. Dadurch aber wurde Reinhard so übermüthig, daß er mit Keinem sich mehr vertrug und sich führte, als ob er Director der Universität wäre, unter dessen Willen sich Alle zu beugen hätten. Witte nennt ihn einen griesgrämigen Kerl, dessen Mund von Grobheit überfließe und Alles mit Koth bespeie, was nicht zu ihm halte; er sei nur deshalb ein Crusianer, weil er unter diesem Mantel am besten seinen Unflath verbergen könne." Quistorp wirft ihm Faulheit vor; er treibe sich lieber im Lande umher, um mit seinen Consorten neue Bosheiten zu planen. Selbst Döderlein erklärt seine böswilligen Verleumdungen bei Hofe für unerträglich. Das komischste Bild aber in diesem Streit bietet Tychsen 1 ).

Im Beginne weiß Tychsen nicht, wie sehr er "diesen thätigen und gewandten Mann" rühmen soll. Berauscht von der gemeinsamen Arbeit an den "Kritischen Sammlungen", ruft er aus: "Lästerer haben mich gewarnt, Reinhard sei falsch, ein Scheinheiliger! Aber er ist ein guter Streiter Gottes, der


1) Ich benutze hier den Briefwechsel zwischen Tychsen und Cornelius, dem Herzogl. Mundschenk in Ludwigslust. (Im Manuscript in dem Univ.=Archiv zu Rostock vorhanden.)
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dem Satan die Zähne zeigt. Wer kennt unsere Sammlungen nicht, wer liest sie nicht! Wo in aller Welt ist ihre Freimüthigkeit gegen die Modescribenten unbekannt? Vor diesem Zeugniß werden die Zungen der Lästerer bald verstummen! Sie können in ihrer Bosheit und Neid nicht bestehen! Denn die Zahl ihrer Freunde nimmt reißend ab, und sie werden zu Schanden!" "Es ist eine Schmach, daß Lehrer unserer Universität, wie Witte und Toze und Quistorp, den Feinden dienen und den Unglauben stärken, und Tetens sich erniedrigt, für die schmutzige Kieler Zeitung zu schreibend" - Er freut sich, als die Erfurter Zeitung, welche von den Bützower Schimpf= und Schandblättern gesprochen hat, darüber ordentlich von Reinhard "gestriegelt" wird; "meine höchste Ehre ist es den Feinden der reinen Lehre ein Aergerniß zu sein."

Aber das Verhältniß Reinhards zu Fidler, Tychsens erbittertstem Feinde, ließ die Freundschaft mit Tychsen nicht lange bestehen. Bald klagt Letzterer, daß Reinhard seine wahre Natur zeige, er sei über die Maßen stolz, heftig und rechthaberisch; er lebe wie ein Heide, sein Mund fließe von Gottes Wort, sein Herz von Lästerungen über; er sei ein würdiger Bruder des Heuchlers von Doberan (Fidler). Es ärgert ihn, daß Reinhard die Gunst des Herzogs besitzt und Auszeichnungen 1 ) erhält, welche er selbst mehr verdient zu haben glaubt. "Das kommt daher, weil er des Herzogs Vorliebe für die Religion kennt und dem Hofe weis zu machen versteht, mit seinen glänzenden theologischen Arbeiten ein neues Licht aufgesteckt zu haben." 2 ) Wenn es nicht um der Ehre der Akademie willen geschähe, so zöge er (Tychsen) sich am liebsten ganz von den "Kritischen Sammlungen" zurück. Sein Zorn wird noch größer, als seine Hoffnung Consistorialrath zu werden an Reinhard scheitert, der von Halle den Crusianer P. A. Müller, einen Mann nicht ohne Kenntnisse, aber von schlechtem Kopf und Herzen, in der ausgesprochenen Absicht nach Bützow zieht, ihn an Döderleins Stelle zu setzen; "weiß Gott, wenn es ihm gelingt, - und was brächte er nicht fertig! - so ist die Universität und der Herzog prostituirt!" Mit bitterem Groll im Herzen wendet sich endlich im Jahre 1777 Tychsen ganz von Reinhard ab; er will mit dem "Erzschelm und seinem Monde" nichts mehr zu thun haben.


1) So die goldene Medaille 1776.
2) Tychsen meint Reinhards Versuch einer zusammenhängenden Entwicklung von dem ganzen Inhalt der Epistel St. Pauli an die Römer, Bützow 1776.
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"Gott sei Lob und Dank", ruft er 1779 aus bei der Kunde von Reinhards Abgang nach Wetzlar, "wir athmen alle erleichtert auf, der Friede wird wieder einkehren!"

Wie viel wiegen nun diese Zeugnisse der Reinhard nahestehenden Professoren auf? Gewiß, jeden mit den Verhältnissen der Universität Bützow nicht Vertrauten müssen sie zu dem Urtheil bewegen, daß Reinhard ein niedriger Charakter gewesen sei, ein Mann, der mit dem Munde Gott, mit dem Herzen dem Satan diente. Aber alle diese Klagen gegen Reinhard haben für mich gar keinen Werth und für Keinen, der von dem abscheulichen Cliquenwesen unter den Bützower Professoren eine Vorstellung hat. Was Wunder, daß Reinhard durch seine Vorwürfe, die Professoren hätten die meiste Schuld an dem traurigen Verfall der Universität, sich alle zu Feinden machte! 1 ) Der einzige Tadel, den man mit Recht erheben könnte, ist die ungezügelte Leidenschaft, die keine Freundschaft von Bestand sein ließ; aber eben diese Heftigkeit entsprang nicht aus Tücke seines Herzens, sondern aus einer hochgradigen Nervosität, der Folge seines übermäßigen Arbeitens. Ich finde in allen Schriften Reinhards nicht den geringsten Beweis der Inconsequenz, vielmehr ist seine litterarische Arbeit von Anfang an, sobald er zur Erkenntniß von der Verderblichkeit der Wolff'schen Philosophie gekommen war, ein bitterer Kampf gegen die Aufklärung gewesen; ihm hat er, und gewiß nicht, um Menschen zu gefallen, in dem Maße seine ganze Lebenskraft geopfert, daß er bereits 1783 im Alter von 57 Jahren der Anstrengung erlag. - Die letzte Anerkennung, welche ihm sein dankbarer Landesfürst auswirkte, war seine Erhebung in den Reichsadelstand. -

 



1) Die Weitere Ausführung, die Darlegung des Verfalls der Universität besonders in Folge der bittern Reibereien unter den Professoren daselbst. Werde ich demnächst in der Geschichte der Universität Bützow geben. Sie wird in vollem Umfang meine Vertheidigung Reinhards rechtfertigen.
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Verzeichniß der wichtigsten Schriften Reinhards.

A. Philosophie:

Vernünftige Gedanken über die Lehre von der Unendlichkeit der Welt in Ansehung des Raums und der Zeit. (Leipzig 1753.) Nebst Sendschreiben dazu, Leipzig 1755.

Sur l'optimisme. 1755. Preisgekrönt.

Von der Vollkommenheit der Welt nach dem System des Herrn Leibnitz nebst Untersuchung von der besten Welt. 1755. Dazu gehörig die Abhandlung:

Von dem Willen und der Freiheit des Menschen, (Preisgekrönt.)

Sind die Gesetze der Bewegung nothwendig oder zufällig? 1761.

Reflexions sur ia hberté. Berlin 1762.

Disquisitio philosophica, qua ex eo quod aliquid existit demonstratur dari ens perfectissimum aeternum a

mundo distinctum. Preisschrift 1762.

System der Wesen nach den metaphysischen Principien der Natur 1768. Dazu: Erläuterungen 1769.

Neues System der Kräfte des menschlichen Verstandes. Berlin 1770. Dazu:

Gedanken über den Unterschied der oberen und unteren Kräfte. 1778.

Beitrag zur Widerlegung der Chimäre von den materiellen Ideen. 1776.

Untersuchung einiger moralischer Grundbegriffe. Hannover 1778.

Von allgemeinen Positivgesetzen, daselbst 1778.

B. Theologie:

Kommt die Gottesleugnung aus dem System der Fatalität? 1753.

Réflexions sur la doctrine des Catholiques Romains touchante l'église par Crusius. Hanovre 1756.

Unparteiische Anmerkungen über Hofrath Michaelis' Gedanken von der Lehre der Sünde. Leipzig 1758.

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Crusius' Abhandlung von den Ueberbleibseln des Heidenthums in der Meinung vom Tode. Leipzig 1758.

Einiger rechtschaffener Prediger in Sachsen Gedanken über die Unternehmungen der jetzigen Reformatoren in der Religion 1775.

Sollten nicht die Fürsten das Recht haben, das Heil der Kirche zu behüten? 1776. Bützow.

Versuch eines zusammenhängenden Entwurfs von dem ganzen Inhalt der Epistel St. Pauli an die Römer 1776. Bützow.

Kurze und deutliche Vorstellung der Lehre von der Kirche und ihren Rechten in Ansehung des Glaubensbekenntnisses. Bützow 1778.

Beweis der Wahrheit der geoffenbarten Religion aus den Wunderwerken. Frankfurt 1779.

Reliquien. Wetzlar 1778-80.

C. Jurisprudenz:

Prüfung des Nettelbladt'schen Systema element. univ. Jurisprud. Frankfurt 1759.

Aufsätze über die "Dationem in solutum" bei Concursen in Meklenburg. 1772.

Gedanken über die Einrichtung der juristischen Studien auf Universitäten. Bützow 1774.

Dissert. de restitutione in integrum, quae fit brevi manu. Bützow 1778.

Von dem Gebrauch der demonstrativen Methode in der Jurisprudenz. 1778.

D. Poesie:

Gedichte. Göttingen 1754, 1760.

Freundschaftliche Gedichte. Bützow 1762.

Ode des Herrn Ogilvie an die Melancholey, aus dem Englischen. Bützow 1766.

Beurtheilung der Ramler'schen Oden. Hamburg 1773.

E. Sammlungen:

Kritische Sammlungen 1774-78. Bützow.

Sammlung juristischer, philosophischer, kritischer Aufsätze. 1770-77. Bützow.

Sammlung auserlesener Abhandlungen betreffend das Christenthum. 1776-79.

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F. Briefe:

Briefe über wichtige Sachen aus dem Reiche der Gelehrsamkeit. Leipzig 1755-59.

Briefe über philosophische und juristische Materien. An den Herausgeber der Hamburger Nachrichten. Hamburg 1762.

Briefe über wichtige Materien der Heiligen Schrift und Philosophie. Berlin 1764.

 

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