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I.

Die beiden Ostdorfer Schädel

des

Schweriner Antiquariums.

Von Fr. Merkel .


I n den Jahrgängen XLIII und XLIV dieser Jahrbücher (1878 und 1879) macht Lisch Mittheilung von Funden, welche auf einer kleinen Insel im Ostorfer See bei Schwerin gemacht worden sind. Er weist die Mehrzahl der Fundgegenstände einer Höhlen= oder Grubenwohnung aus der Steinzeit zu, sagt aber von den beiden ebenfalls zu den Fundstücken gehörigen Schädeln, daß sie viel jünger seien als die Feuersteinwerkzeuge, Hirschhornfabrikate und Urnenscherben der Höhlenwohnung. Er erklärt, gestützt auf ihr Aussehen und auf zahlreiche dem Burgwalltypus angehörige Urnenscherben, welche in ihrer Nähe gefunden wurden, daß sie der letzten Eisenzeit angehörten.

Die beiden Schädel interessirten mich beim ersten Blick in hohem Grade und ich erbat mir die Erlaubniß, sie hier in Rostock eingehender untersuchen zu dürfen. Für die Gewährung meiner Bitte spreche ich der Verwaltung des Antiquariums meinen besten Dank aus.

Vor Allem muß ich nun dem Ausspruch von Lisch beitreten, daß man an den in Rede stehenden Schädeln die Zeichen eines hohen Alters nicht erkennt, wie man sie gewöhnlich anzunehmen pflegt. Die Schädel haben ein kräftiges

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und zähes Knochengefüge. Sie würden vermuthlich noch hinreichende Elasticität besitzen, um selbst einem Fall zu trotzen; freilich wird wohl kaum eine darauf bezügliche Probe angestellt werden. Ihr Gewicht weicht nicht von dem recenter Schädel ab, die Zähne sind wohl erhalten. Es deutet also nichts darauf hin, daß sie nach den herkömmlichen Anschauungen mit Nothwendigkeit der Steinzeit und nicht der Eisenzeit zuzuweisen sind; doch möchte ich die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, bei der Altersbestimmung von Knochen sehr zur Vorsicht zu mahnen. Ich habe hier in den letzten Jahren den Canalisationsarbeiten in der Stadt sehr viele menschliche Skelettheile, ganze und zerbrochene Schädel, abgewonnen. Dabei konnte ich constatiren, daß Knochen, welche den erst vor relativ kurzer Zeit aufgehobenen Kirchhöfen in der Stadt entnommen waren und welche fast gleichzeitig, höchstens wenige Jahre verschieden, beerdigt sein mußten, häufig ein ganz verschiedenes Gefüge zeigen. Die einen würde man für prähistorisch zu halten geneigt sein, die anderen könnten ebensogut vor kurzem künstlich macerirt sein. Es kommt eben augenscheinlich ganz außerordentlich auf die Beschaffenheit des Bodens an, in welchem die Knochen liegen; in dem einen halten sie sich kurze, in dem anderen lange Zeit intact. Die besten Wegweiser bei der Altersbestimmung sind und bleiben immer Artefacte, welche bei den Knochen gefunden werden. Da aber bei der Ostorfer Ausgrabung kein Sachverständiger zugegen war, so wird man wohl schwerlich jemals mit Sicherheit bestimmen können, ob die Steinzeitgeräthe oder die Eisenzeit=Urnenscherben zu den Schädeln gehören. Immerhin aber muß ich es für willkürlich halten, wenn Lisch die Menschen=Schädel für jung, den (Jahrb. XLIV, S. 70, Nr. 13) ebenfalls gefundenen Schwein=Unterkiefer für alt erklärt. Alle Knochen zeigen ganz den gleichen Erhaltungszustand.

Ich enthalte mich gänzlich einer Aeußerung über das Alter der Knochenfunde und wende mich zu den Eigenschaften, welche mir die Schädel merkwürdig erscheinen lassen. Der eine derselben, mit Nr. 1 bezeichnet, ist vollkommen normal und gehört einem in mittleren Jahren stehenden Manne an. Die Nähte sind offen, nur die Sagittalnaht beginnt zu verknöchern. Er ist fast ganz unverletzt; doch ist der linke Proc. condyloideus des Unterkiefers und ebenso des Hinterhauptes abgebrochen. Die Zähne sind bis auf den postmortal ausgefallenen rechten unteren Weisheitszahn vollständig. Auf den ersten Blick ist zu sehen, daß man einen sehr dolichocephalen

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Schädel vor sich hat, was auch durch die Zahlen der unten stehenden Tabelle bestätigt wird. Sodann fällt an der Norma verticalis (Taf. I, Fig. 3) das weite Hervorragen der Jochbogen und das schnauzenartige Hervortreten des Kiefers auf. Die Profilansicht (Fig. 1) bestätigt nur das Gesagte. Während ein meklenburgischer Schädel der Rostocker anatomischen Sammlung, welcher seiner normalen Durchschnittsbilduna wegen von mir schon früher zu Vergleichungen herbeigezogen worden war, 1 ) einen Profilwinkel von 90° zeigt, weist der Ostorfer Schädel nur einen solchen von 75° auf, er steht also an der unteren Grenze der Prognathie, wie man sie bei Neuholländern und Afrikanern zu finden gewohnt ist. Auch in die Breite ist das Kiefergerüst mächtig entwickelt; eine Gaumenlänge 57 und Gaumenbreite 41 mm gegen 50 und 35 beim modernen Meklenburger beweisen dies. Die Augenhöhlen sind nieder= und in die Breite gezogen, ebenfalls ein Zeichen niederer Rassen. Im Gegensatz zu der großen Entwickelung des Kiefergerüstes ist die Schädelkapsel klein, besonders der vordere dem Stirnbein angehörige Theil wenig gewölbt. Die Capacität steht mit 1560 cm nicht unbeträchtlich hinter der des ziemlich gleichgroßen modernen Schädels (1700 cm) zurück.

Ich verzichte darauf, noch andere einzelne Punkte hervorzuheben, verweise vielmehr auf die Abbildungen und ziehe nur im Ganzen das Facit, daß der besprochene Schädel alle Zeichen tiefstehender Rasse an sich trägt und daß auf deutschem Boden wenige Cranien gefunden sein möchten, welche so sehr den Typus der Neuholländer und mancher papuanischer Schädel zeigen, wie gerade dieser.

Der andere Schädel, mit Nr. 2 bezeichnet, ist im Ganzen kleiner wie der eben beschriebene. Er steht ungefähr in gleichem Lebensalter, ist ebenfalls männlich und zeigt wohl erhaltene Nähte. Er ist ganz unverletzt, wenn man von dem Fehlen der postmortal verloren gegangenen Vorderzähne des Oberkiefers absieht. Weniger proanath als der Schädel Nr. 11, zeigt er dafür eine seltene pathologische Veränderung. Das rechte Unterkiefergelenk ist nämlich luxirt, der Unterkieferhals dabei gebrochen. Die Fractur ist geheilt, und zwar schief, in der Art, daß der Kopf des Unterkiefers etwas medianwärts und nach vorne sieht. Wie es bei alten nicht reponirten Luxationen der Fall zu sein pflegt, hat sich auf dem Tuberc. glenoid. eine neue unvollkommene Pfanne gebildet, in welcher der sehr verbreiterte Gelenkkopf ruht und articulirt. Dieses


1) Festschrift zum Henle=Jubiläum. Bonn, Cohen. 1882.
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Leiden an sich wäre nun so merkwürdig nicht; die hiesige Sammlung weist einen Kafferschädel auf, welcher ebenfalls einen ähnlich luxirten Unterkiefer zeigt. Von Interesse ist vielmehr die Folge der Verletzung, indem durch die Verschiebung des Unterkiefers die ganze linke (gesunde) Seite des Gesichtes bedeutend kleiner geworden ist wie die rechte. Ich habe eine auch nur annähernd bedeutende, durch einen einfachen pathologischen Vorgang hervorgerufene compensatorische Verkleinerung der einen Gesichtshälfte noch niemals beobachtet, und es muß das Leiden schon in früherer Jugend entstanden sein, um diese Folgen nach sich ziehen zu können.

Das Gesicht ist durch die geschilderte Verunstaltung (Fig. 5) für eine anthropologische Beurtheilung unbrauchbar geworden; jedenfalls aber ist, wie schon erwähnt, die Prognathie geringer als bei dem ersten Schädel, denn es ist in der Norma verticalis (Fig. 6) nur der verschobene Unterkiefer, aber nicht der Oberkiefer sichtbar. Einer Vergleichung der freilich ebenfalls asymmetrischen Schädelkapsel steht dagegen nichts im Wege. Dieselbe zeigt die gleichen Eigenschaften, wie die des anderen Craniums; nur ist die Stirn in noch höherem Maße abgeplattet wie dort, so daß man ganz an das berühmte Neanderthaler Schädeldach erinnert wird. Um dies gut hervortreten zu lassen, setze ich in Fig. 4 die Zeichnung des Schädeldaches von Nr. 2 mit Weglassung des Gesichtsskelettes bei, welches ohne weiteren Commentar das Gesagte beweisen wird. -

Die in Vorstehendem kurz beschriebenen anatomischen Merkmale der beiden Ostorfer Schädel erlauben unter Berücksichtigung der von vollständigem Mangel einer ärztlichen Behandlung zeugenden Verletzung, dieselben einem ungemein tief stehenden Geschlecht zuzuweisen. Mögen sie älter oder jünger sein, jedenfalls ist den Trägern derselben keine hervorragende Intelligenz zuzutrauen. Sieht man neben ihnen die ebenfalls langköpfigen Schädel aus vorwendischen Gräbern Meklenburgs an, dann wird man nur wenige Vergleichspunkte finden, indem diese letzteren durchweg von edler und hochstehender Bildung sind. Die Ostorfer Schädel aber in die wendische Zeit zu verweisen, dazu liegt nicht die geringste Veranlassung vor. Denn erstens kommen bei den Wenden so stark ausgeprägte Langköpfe, wie sie hier vorliegen, gar nicht vor, und zweitens sind auch sonst an den in Rede stehenden Objecten durchaus keine wendischen Eigenthümlichkeiten zu entdecken; besonders fehlt die bei den Wenden so gewöhnliche Auftreibung der Wände des Antrum Highmori vollkommen.

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Der Anatom würde nach alledem am geneigtesten sein, die beiden Cranien trotz ihrer guten Erhaltung in eine recht frühe Zeit zu setzen. Wenn ich es, wie erwähnt, doch unterlasse ein ganz bestimmtes Urtheil abzugeben, so hat dies seinen Grund darin, daß man aus zwei einzelnen Schädeln noch kein Recht herleiten darf, weitgehende Schlüsse zu machen. Erst eine Anzahl noch zu machender Funde müßte die auf anatomischer Basis gewonnene Vermuthung bewahrheiten.

Bis dahin wird es genügen, daß durch diese Zeilen die Aufmerksamkeit auf Schädel, welche unter ähnlichen Umständen gefunden werden wie die Ostorfer, gelenkt ist. Sie mußten, wie ich glaube, von nun an sämmtlich einer aufmerksamen und fachmännischen Prüfung unterworfen werden.

Rostock, 26. Sept 1883. * )

Tabelle.

Tabelle Schädelformen

*) Anm. Die vorstehende Abhandlung, welche unser correspondirendes Mitglied, Herr Professor Dr. Merkel, uns bei seiner Uebersiedelung von der Rostocker Universität an die Königsberger als Angebinde übersandte, hat neben ihrer allgemein wissenschaftlichen und methodischen Bedeutung auch ihren Werth für die Aufklärung des ganzen Fundes auf dem Tannenwerder im Ostorfer See bei Görries. Man wird jetzt kaum noch zweifeln, daß die Leichen nicht nur, sondern auch die mit diesen aufgegrabenen Alterthümer der Steinzeit angehören. Es sei nachträglich bemerkt, daß nach der Aussage des als glaubwürdig geschätzten Gärtners Schumacher die 8 Leichen neben einander an dem nordöstlichen Abhang des Hügels so eingebettet waren, daß ihre Köpfe gegen SW. lagen, also gegen NO. schauend gedacht waren, der Schmuck von 129 durchbohrten Thierzähnen aber nicht um den Hals einer Leiche, sondern in der Bauchgegend gefunden ist, mithin also nicht als Halsschmuck, sondern als "Hängeschmuck" eines Gürtels oder allenfalls einer Jagdtasche gedient haben wird.          Dr. F. Wigger.
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Tabelle Schädelformen
Tafelerklärung.

Die Figuren 1-3 stellen den bei Ostorf gefundenen und und mit Nr. 1 bezeichneten Schädel dar, die Figuren 4-6 den Schädel gleichen Fundortes und mit Nr. 2 bezeichnet. In Fig. 4 ist das Gesicht fortgelassen, um eine Vergleichung mit dem Neanderthal=Schädeldach zu erleichtern.

Sämmtliche Zeichnungen sind nach der Horizontale der Frankfurter Vereinbarung (oberer Rand des Porus acust. ext., - unterer Rand der Orbita) aufgestellt, geometrisch gezeichnet und vermittelst des Diopters auf die Hälfte verkleinert.

Vignette
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Schädelformen
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