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VI. Zur Sprachkunde.


Ein ratzeburgisches Hochzeitsbitterlied,

beurtheilt

von

G. C. F. Lisch.


In den Jahrbüchern XXII, S. 270 ist ein altes, plattdeutsches Gesellschaftslied mitgetheilt, welches vom Jahre 1448 datirt ist und welches der Herr Dr. Crull zu Wismar in einem Privatrechnungsbuche aus der Zeit 1433 bis 1448 im Archive der Stadt Wismar entdeckt hatte. Ich hielt bei der damaligen Mittheilung die Reimerei für das Machwerk eines Kaufgesellen, der dieselbe bei leerem Geldbeutel zum Zeitvertreib gemacht haben mochte.

Die Sache hat aber eine andere Bewandtniß und wird durch die Geschichte des Liedes höchst merkwürdig. Das Lied ist nämlich ein altes Hochzeitsbitterlied, oder nach plattdeutscher Benennung ein "Köstelbidderled" (Köstbitterlied) 1 )welches sich bis auf die neuesten Zeiten, also sicher 400 Jahre lang im Munde des Volkes erhalten hat. Da es nicht wahrscheinlich ist, daß das in dem wismarschen Handelsbuche niedergeschriebene Lied die erste Originaldichtung sei, so muß man wohl annehmen, daß es nur aus und zur Erinnerung niedergeschrieben, also älter ist, als 1448. Wir kommen also zu der Erfahrung, daß sich ein Volkslied über 400 Jahre lang unverändert und fast wörtlich im Munde des Volkes erhalten hat, eine gewiß sehr seltene Erscheinung für ein längeres Gedicht. Als der Herr Pastor Masch zu Demern, der im Fürstenthume Ratzeburg geboren ist, den Aushängebogen der Jahr=


1) Das plattdeutsche Wort köst bedeutet: Gastmahl, Festmahl, Gelag, z. B. austköst = Aerntefest, jetzt Aerntebier genannt.
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bücher erhielt und das wismarsche Lied las, erschien ihm dasselbe nicht ganz fremd. In seinem Hause diente eine alte Köchin, Catharine Burmeister, welche wohl 40 Jahre alt und m Dechow, im Herzogthume Lauenburg, an der ratzeburgischen Grenze, nahe bei Demern, geboren ist. Als Masch derselben das Lied vorlas, sagte sie, das stehe in einem Köstelbitterliede, aber nicht ganz so; sie wisse jedoch das Lied nicht mehr ganz auswendig, denn es sei lang und es stehe viel mehr darin; sie habe es in ihrer Jugend von ihrem Vater gelernt, der längst todt sei. Masch beauftragte nun das Mädchen, ihm die in Dechow gebräuchlichen Hochzeitsbitterlieder zu verschaffen; sie brachte ihm nach einiger Zeit die Handschriften von mehreren Liedern, welche in Dechow gebräuchlich, aber alle hochdeutsch sind und von dem alten Liede nichts enthalten. Masch gab ihr nun weiter auf, sie möge sich aul das alte Lied besinnen und persönlich in Dechow nachfragen. Nachdem sie selbst und durch Erkundigungen das dechower Lied wieder in ihr Gedächtniß zurückgerufen hatte, dictirte sie es dem Pastor Masch so, wie es hier 1 ) folgt.

I. Hochzeitsbitterlied von Wismar. 1448.

  1 Hyr ghâ ik hen vôr dat schap stân vnde wyl wat eten,
  2 men hyr is nych en beten;
  3 dat ghôde bêr mach ik gherne drynken
  4 vnde ôk ête ik gherne van deme schynken.
  5 Myn lêue kumpân, wo gheyt yt dy so tho strvnpe?
  6 kanst dv noch ghyghen edder trvmpen?
  7 De balken kanst dv tellen
  8 vnde ên stoffekens bêrs vt der tonnen fellen;
  9 dâr vmme byst dv en ghôt gheselle.
10 Dv kanst ôk wol kâken,
11 dat flesk vte deme grapen ráken.
12 Wen dv dat heft ghedân,
13 so kanst dv na deme keller ghân.
14 Den kôl macht dv nycht gherne eten, den dar lest dv wol stân,
15 dâr vmme byst dv ên ghôet ku[m]pân.


1) Masch hat zu zwei verschiedenen Malen, im Junii 1857 und im October 1858 den Text nach der Aussage des Mädchens eingesandt, beide Male übereinstimmend und nur in Partikeln und andern Kleinigkeiten von einander abweichend.
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II. Hochzeitsbitterlied von Dechow. 1858.

     Gôden morgen, gôden morgen, mîn lêwen gäst,
     ik nödig jûch all to hochtîd;
     jî seht dat doch, dat mîn stock so blank,
     vergetet ôk nich den blanken band.
     De hochtîd de wart lang wol dûrn,
     un sûpt juch ôk nich als tô'n bûrn.

  1 Hir gâ jk nu vör dat schap stân un wil wat eten
  2 äwerst hîr is ôk nich en beten;
  3 dat gôde bêr mach ik wol drinken
un ok'n gôd glas win dârbi,
dat mag my de hochtîdsvâder schenken,

  4 un ôk êt ik gîrn van dem schinken
      un de hekt un bârs ward ôk nich darbî vergeten,
     de hekt un de bars geit in dat muss,
     dârvör gew ik de köksch enen düchtigen kuss.

  5 Myn lêve kumpân, wo gheit di dat so to strumpen?
      Dârbî möcht ik ôk drinken en gôd glas runken.
  7 De balken kanst du tellen,
  8 en gôd glas bêr möcht ik drinken
     un dârbi en gôdes mädchen möcht ik sehen;

  9 darumme büst du ên gôder geselle,
      un nehme et alles recht net an.
10 Du kanst ôk wol kâken,
11 dat flêsch ût den grâpen raken.
12 Wen du dat hest dân,
13 geist du na den keller dâl.
      De hochtîdsmôder het recht düchtig kâkt,
14 Witten köl un hâmelflêsch.
     De grote pot mit witten kôl
     de steit in'n keller bâwen up.
     De rumbuddel, kinners, de verget ôk nich
     un drinkt ôk recht düchtig ênen dârbî;
     De grôte kann mit dat gôde ber
     dat settet dârbî un vergetet ôk nicks.
     De hochtîdsmôder had alles vergeten,
     se had dat flêsch un de fisch vergeten.
     Ach môder, du büst jo ganz wol dull.
     Nu schenkt de buddel ganz noch vull.
     Nu, lüd, nu etet, wat ji all heft.
     De herr NN. de hadd dat all bedacht
     un hadd sîn sâk recht gôd gemâkt.
     De hochtît de geit an,

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     de en wëk ut un de anner an,
     so lange as er tîd dat lîden kan.
     Nu hef ik alles bî jûch dân,
     nu bidd ik dârüm, heft jî dat all recht verstân.

Sie konnte sich aber nicht darauf besinnen. an welcher Stelle die alten Worte früher Platz gefunden hatten, ob nach der sechsten Zeile vom Anfange oder vor der fünften Zeile vom Ende. Masch hat das ganze Gedicht aus dem Munde des alten Mädchens niedergeschrieben und ihr bei der alten Stelle des wismarschen Textes auch diesen vorgelesen, um die Abweichungen sicher zu stellen. Man wird sich durch Vergleichung überzeugen, daß das wismarsche Lied noch fast ganz in der Erinnerung lebt, jedoch schon im Absterben begriffen ist. Was diesem in dem dechowschen Liede vor= und nachgesetzt ist, trägt ganz den Stempel der neuern Zeit und ist ohne Zweifel in neuern Zeiten nach und nach hinzugefügt und erweitert, und durch die junge Zuthat ist der alte Kern immer mehr verdrängt worden. Dem sinnigen Leser wird es nicht entgehen, daß die junge Zuthat viel weniger dichterisch und viel sinnlicher und roher ist, als der alte Kern.