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V. Zur Rechtskunde.

Ueber weltliche Geschäfte in den Kirchen und
auf den Kirchhöfen in Norddeutschland,
besonders in Meklenburg.

(Gesetzpublication, Handelsverkehr, Rechtsgeschäfte.)

Von

A. F. W. Glöckler.


I m Leben des deutschen Volkes hat sich wie bei den Engländern und Skandinaviern, manches Herkömmliche lange erhalten, welches besonders in seiner spätern Gestaltung Vielen auffallend und anstößig zu erscheinen pflegt. Eine große Stetigkeit unseres Volkes im Festhalten an herkömmlichen Dingen läßt sich noch aus den Zeiten der drei letzten Jahrhunderte in mehrfacher Beziehung nachweisen, und zwar häufig mit dem Ergebnisse, daß eine mißbräuchliche Anwendung, oder gar eine ausschweifende Verkehrtheit im Gefolge herkömmlicher Befugnisse und Einrichtungen, welche gesetzlicher Regelung und staatlicher Ueberwachung entgehen, selten ausbleiben, - wie denn dies namentlich auch in der Geschichte von stillschweigend geduldeten oder wenig überwachten Corporationen hervorzutreten pflegt. Die lange Dauer und die große Verbreitung jenes Herkommens: die Kirchen und deren nächste Umgebungen zum Schauplatze weltlichen Treibens zu machen, soll hier in Beziehung auf das Verfahren im Einzelnen und auf die oft mißbräuchliche Ausdehnung, in welcher es in Norddeutschland, besonders in Meklenburg, im Laufe der drei letzten Jahrhunderte geübt ist, kurz dargestellt werden.

Die Beweisführung ist wesentlich meklenburgischen Quellen, vornämlich officiellen Nachrichten des 16. und 17. Jahrhunderts entnommen, welche in vielen gleichzeitigen Acten des großherzoglichen Hauptarchivs zu Schwerin zerstreut sind. Sie ergreift jedoch nicht immer ausschließlich heimische Zustände; überhaupt werden manche der unten folgenden Angaben leicht

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nachweislich eine allgemeinere deutsche Geltung haben, namentlich aber von den benachbarten Ländern Pommern, Lauenburg und Holstein zu erweisen sein.

Es ist im Allgemeinen bekannt, daß während des Mittelalters und bis in das achtzehnte Jahrhundert hinab, manche öffentliche, privatrechtliche und gewerbliche Geschäfte in den Kirchen und auf den Kirchhöfen betrieben worden sind.

Von vorne herein wird man die Entstehung dieses Herkommens in einer gewissen Rohheit und sinnlichen Schwere begründet finden, welche der Auffassung der kirchlichen Dinge und dem Wesen der religiösen Ansichten im Mittelalter zum Grunde lag. Indessen kann man bei tieferer Erkenntniß die geschichtliche Entwickelung der mittelalterlichen Zustände, besonders in den Städten, dahin nachweisen, daß jenes Herkommen, wenigstens theilweise, aus allgemein gültigen Verhältnissen des bürgerlichen Lebens zunächst erwachsen sei. Wenn nun die wahre Würdigung der meisten öffentlichen Einrichtungen nur in Grundlage einer reifen Erkenntniß ihrer ursprünglichen Bedeutung mit Berücksichtigung aller wesentlichen gleichzeitigen Verhältnisse füglich geschehen mag, so darf dies doch den Blick nicht abstumpfen oder scheu machen für die Auffassung der späteren nicht selten entarteten und den nun herrschenden Zeitverhältnissen nicht mehr angemessenen Gestaltung bestimmter Institute.

Hinsichtlich der ursprünglichen Bedeutung jenes Herkommens in Deutschland genügt es hier, die wesentlichsten Umstände zu erwähnen. Es treten nämlich die Kirchen in den früheren Zeiten des Mittelalters (12. bis 14. Jahrh.) zunächst und besonders in den Städten, durch ihre Lage, Räumlichkeit und feste Bauart in gewisser Weise als Mittelpunkte auch des bürgerlichen Lebens neben den Rathhäusern und den Märkten hervor. Es gab damals in den Städten noch nicht eine Reihe von "Prachtgebäuden" für das Geschäftsleben oder für Zwecke der Kunst und Wissenschaft, wie solche Bauten heutiges Tages fast jede größere Stadt zieren oder auch wohl belasten, ohne eine Zierde des Ortes zu sein; es gab noch keine Börsen, Theater und Clubs, welche die Lebens=, oder vielmehr die Standesgenossen alltäglich versammelten. Beim Mangel an umfänglichen und gegen ein rauhes Clima gesicherten oder doch einigermaßen geschützten Räumen lag es in Zeiten aufblühenden Handels und gewerblichen Strebens nahe, daß die Landes= und Ortsobrigkeiten selbst mit dem Beispiele der Benutzung großer kirchlicher Gebäude und ihrer nächsten, gewöhnlich auch räumlichen und dabei abgeschlossenen Umgebungen für

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weltliche Zwecke vorangingen. Es kam hinzu, daß die Rathhäuser in manchen Städten nur ärmlich und unzweckmäßig erbauet waren, in anderen im Laufe der Zeiten wiederholt niederbrannten oder langsam umgestaltet werden mußten.

Wirklich wurden im 13. und 14. Jahrhunderte ziemlich häufig allgemein=bürgerschaftliche oder besondere corporative Versammlungen, auch landesherrlich=städtische, so wie auswärtige gesandschaftliche Verhandlungen in den Kirchen und auf den Kirchhöfen Norddeutschlands gehalten, und zwar nicht selten an Sonntagen, wie solche Handlungen in den neuerlich quellenmäßig bearbeiteten und edirten lübischen, meklenburgischen, pommerschen und andern norddeutschen Urkunden und Chroniken aus dem Zeitabschnitte von 1200 bis 1400 mehrfach vorkommm. Es wird sogar hin und wieder auf regelmäßige, häufige Versammlungen der Magistrate in den Kirchen und auf den Kirchhöfen geradezu urkundlich hingedeutet, wie im Jahre 1303 in Hannover 1 ) und im Jahre 1376 in der Stadt Neubrandenburg. 2 ) Außerdem legten Landesherrschaften und Magistrate, auch wohl einzelne Corporationen in manchen, namentlich norddeutschen und flandrischen, Kirchen - an denen damals der einzelne Bürger ein Stück Eigenthums zu besitzen glaubte - Archive und Registraturen an, verwahrten daselbst kostbare Kleinodien und andere für wunderbar oder doch werthvoll und selten gehaltene Dinge, z. B. Thiere von auffallender Größe und Beschaffenheit, wie Wallfische 3 ) und dergl.; auch Rüstungen, Waffen, Kleider und Fahnen wurden, wie noch jetzt einzelne Cathedralen in der Schweiz und in England 4 ) uns zeigen, als Siegeszeichen oder zur Erinnerung an Verstorbene, zuweilen auch wohl als bloßer Vorrath, in Kirchen niedergelegt, und andere Dinge der Art. Auch Privateigenthum ward in unruhigen Zeiten, in Fällen weiter Reisen oder doch längerer Abwesenheit der Eigenthumer von der Heimath, öfter auch blos in Rücksicht auf die feuerfesten und vermeintlich gegen Einbruch sichern Räume, in den Kirchen auf=


1) Bei Grupen, Orig. Hannov. p. 319 findet sich die urkundliche Aeußerung aus dem Jahre 1303: "Consules sive in theatro sive in cimiterio congregati sint".
2) Lisch, urkundl. Gesch. des Geschlechts von Oertzen, Bd. I, S. 154: "in cymiterio beate Marie virginis in Nova Brandenborch, in sedile consulum, situm et paratum apud chorum".
3) Vergl Cramer's Pommersche Kirchengeschichte, Bch. II, S. 90. Schröder's Papistisches Meklenburg, S. 1428, - Nachrichten über die "Wunder und Größe halber" geschehene Vertheilung der Knochen eines Wallfisches enthaltend, der im Jahre 1365 auf den Strand der Insel Usedom geworfen war.
4) Noch heute bemerkt man z. B. im Dome zu Bern die Trophäen von Murten; in der Cathedrale von Canterbury die Kleider und Waffen des schwarzen Prinzen.
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bewahrt. Unverkennbar hat hiebei die früher bei den Völkern fast aller christ=katholischen Länder gleichmäßig herrschende, von den Priestern genährte Ansicht mitgewirkt, nach welcher die Entwendung von Privatgütern und weltlichem Eigenthume überhaupt aus kirchlichen Räumen mit unter den rechtlichen Begriff des Kirchenfrevels (sacrilegium) fällt. Denn aus dieser Volksansicht floß natürlich der, seit dem 16. Jahrhundert vielfach enttäuschte, Wahn von fast vollkommener Sicherheit eines jeglichen in kirchlichen Räumen geborgenen Eigenthums. 1 )

Zu allem diesen kam der Einfluß des altkirchlichen Lebens: - ein fast täglicher, sinnlich erregender kirchlicher Dienst; ein zur Gewohnheit gewordener, in allen Classen der Städtebewohner ziemlich gleichmäßig stattfindender fast geschäftsartiger Besuch der Gotteshäuser; die nahe liegende Neigung der bürgerlichen Genossen, das Zusammentreffen in der Kirche nach beendigtem Gottesdienste auch zur Besprechung geschäftlicher Verhältnisse zu benutzen, da Börsen, Lesehallen, Casinos etc. . noch unbekannt waren. Ferner ist zu erwägen der durch kirchliche und weltliche Gesetze verbürgte Schutz der Kirche gegen Befehdung, die Heiligkeit der christlichen Gotteshäuser und die noch spät im Volke wurzelnde Ansicht vom Asylrechte der Kirchen, endlich die große Bedeutung der auch mit ihren weltlichen Interessen in der Nähe der Kirchen sich concentrirenden Kirchweihfeste, deren Jahrmarktstreiben im Laufe der Jahrhunderte an vielen Orten eine Zeit der größten Handelsbewegung ward. Bedenkt man dabei, wie entschieden die dem altkirchlichen Leben zum Grunde liegende mehr sinnliche, auf äußere Formen gerichtete religiöse Anschauung von der kirchlichen Obergewalt aus gefördert, befestigt und ausgebeutet ward, so läßt sich bei dem fast überall herrschenden Bedürfnisse nach großen und sichern Räumlichkeiten in den ersten Jahrhunderten eines rührigen Gemeindelebens die Entstehung und Verbreitung des Herkommens, die Kirchen und die Kirchhöfe zu weltlichen Zwecken zu nutzen, genügend erkennen und würdigen.

Hier wird nunmehr nach einzelnen Richtungen zu beweisen sein, in welchem Umfange und in welcher Bedeutung im Einzelnen dieses Herkommen sich in Meklenburg und dessen Nachbarschaft im Laufe der drei letzten Jahrhunderte erhalten und geltend gemacht hat.


1) Es wurden zwar anderer Seits zum Schutze der Kirchenschätze an manchen Orten während des früheren Mittelalters große Hunde in den Kirchen gehalten; - (siehe Grautoff's historische Schriften, Th. I, S. 255; Jahrbücher des Vereins für mekl. Gesch. Jahrg. III. S. 157) - allein es ist nicht erwiesen und auch nicht wahrscheinlich, daß diese Sitte allgemein und dauernd gewesen sei. - Dagegen liegt dem Begraben der Todten in und nahe bei den Kirchen ohne Zweifel die von den Priestern eifrig genährte Idee einer größeren Seligkeit, welche die Nähe der Kirchen mit ihren Seelenmessen bringt, zum Grunde.
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1. Das Verlesen der Gesetze und anderer weltlicher Dinge von den Kanzeln.

Als eine besonders bekannte, durch rechtswissenschaftliche Bedeutung interessante Erscheinung soll hier zunächst das Verlesen der Gesetze und anderer weltlicher Dinge von den Kanzeln herab betrachtet werden.

Seit dem Reformations=Zeitalter ließen nämlich, wie in den meisten protestantischen Ländern, so auch in Meklenburg, die Landesherren und Ortsobrigkeiten weltliche Verordnungen der verschiedensten Art durch die Geistlichen in den Kirchen gemeinkundig machen. Vieler Orten wurden weltliche Gesetze, oftmals nur von localem Interesse oder nur Polizeiliches betreffend, alljährlich zu bestimmten Zeiten wiederholt von den Kanzeln abgelesen. Ueberhaupt aber fand in Meklenburg die eigentliche promulgatio legis hauptsächlich auf diesem Wege statt und zwar bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts. Die zeitweise ergehenden Gesetze wurden nämlich in der Regel einzeln, jedoch nur in kleinen Auflagen, gedruckt und an die Ortsobrigkeiten vertheilt, mit der Aufgabe, sie durch die Prediger von den Kanzeln ablesen zu lassen. Nebenbei wurden die Gesetze gewöhnlich noch in einigen wenigen Exemplaren an öffentlichen Gebäuden zu Jedermanns Ansicht angeheftet. Bisweilen, besonders in späterer Zeit, ergingen die Publications=Befehle von den Landesherren direct an die einzelnen Geistlichen oder Superintendenturen. Dieses Verfahren bestand auch theilweise noch, nachdem schon (um 1760) die Zahl der Tagesblätter zugenommen hatte und eine Art officieller Blätter (sogn. Intelligenzblätter, Anzeigen etc. .) entstanden war, in denen auch die landesherrlichen Verordnungen nach und nach veröffentlicht wurden, bis man zu der Einführung selbstständiger Organe für die Publication und Sammlung der Gesetze und Verordnungen vorschritt.

Für die ursprüngliche Anwendung dieses Verfahrens, wo es nur von den Obrigkeiten ausgeht und in der Regel nur einigermaßen ernste und bedeutsame Dinge erfaßt, lassen sich Gründe der Erklärung, wie der Angemessenheit aus ziemlich bekannten Umständen des gesellschaftlichen Lebens dieser Zeit entnehmen. In Betreff der späteren Zeiten wird aber in Grundlage der hier folgenden Nachweisungen nicht zu verkennen sein, daß auch diese Einrichtung eine sehr mißbräuchliche Ausdehnung erfahren hat.

Da nun heutigen Tages nach Vieler Meinung die Quellen der Gesetzkunde für die große Masse der Bevölkerungen nur

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dürftig fließen 1 ), während doch das Wünschenswerthe einer allgemeineren Gesetzkenntniß im Volke nicht abzuläugnen ist, so mag hier vorübergehend die Frage erwähnt werden: ob in jenem ältern Verfahren von vorne herein ein bedenklicher Keim des Mißbrauches und ferner, ob in theilweiser Erneuerung dieses Publications=Modus für den heutigen kirchlichen Sinn etwas Anstößiges füglich gefunden werden könne? - Letzteres, in soweit es zweifelhaft erscheinen sollte, ob eine zweckmäßige, völlig genügende Gesetzpublication auch selbst auf dem Wege billiger, leicht zugänglicher Regierungsblätter zeither erreicht worden sei.

Die kirchliche Art der Bekantmachung der Gesetze hat sich in Meklenburg im Gefolge der Reformation mit der wachsenden Landeshoheit ausgebildet. Im Mittelalter fand überhaupt in Meklenburg so wenig, wie in den meisten andern deutschen Ländern, eine gesetzgeberische Thätigkeit im heutigen Sinne statt, man müßte denn die Landfriedensbündnisse, die gewöhnlich autonomischen Statuten der Corporationen, die zeitweise ergangenen Reichssatzungen u. a. d. A. hierher rechnen. Erst im zweiten, dritten und vierten Jahrzehent nach dem ewigen Landfrieden beginnen bei uns Gesetzgebung und Regierung von den nach freierer Landeshoheit strebenden Fürsten erfolgreicher geübt zu werden. Außerdem ging aber erst um diese Zeit die kirchliche Obergewalt auf die weltlichen Landesherren über und verlieh ihnen die Befugniß, durch unmittelbare Befehle, die Wirksamkeit der Landesgeistlichen zu leiten. Endlich war ein großer Theil des katholischen Cultus in einer fremden Sprache geübt worden, so daß auch in Beziehung hierauf eine kirchliche Bekanntmachung weltlicher Gesetze und sonstiger weltlicher Erlasse in der wenig ausgebildeten Landessprache der höheren Geistlichkeit wohl bedenklich erschienen wäre, und bei ihrer ziemlich unabhängigen Stellung den Landesherren gegenüber Widerstand gefunden hätte.

Jedenfalls ergiebt eine genaue Forschung in den gleichzeitigen Acten, daß z.B. die meklenburgische Polizeiordnung vom J. 1516 weder in ihrem gedruckten Texte, noch in den betreffenden


1) Die ältern umfänglichen Gesetzsammlungen der meisten deutschen Territorien sind selten und kostbar; überdies sind sie theilweise nicht mehr praktisch, auch nicht allgemein verständlich. Die Regierungsblätter bringen nur die neuesten Gesetze und können von der handarbeitenden Bevölkerung als für diese noch immer zu kostbar nicht gehalten werden. Das öffentliche Anschlagen von Gesetzen ist bis auf eizelne Fälle, besonders in Steuer= und Zollsachen fast ganz außer Uebung gekommen und wird, wo es geschieht, nicht selten unzweckmäßig vorgenommen. Der Weg, in Volksschulen. die Landesgesetzkunde in den Grundzügen zu lehren, scheint in Frankreich, England, Preußen, Baiern u. a. L. mit geringem Erfolge betreten zu sein. Möglichst niedrige Preise der laufenden Gesetzsammlungen und häufiges, zweckmäßig eingerichtetes Anschlagen von Gesetzen werden wohl mit Recht empfolen.
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schriftlichen Verhandlungen eine Verfügung über deren Bekanntmachung von der Kanzel herab enthält. Die Landesherren übersenden das (gedruckte) Gesetz den Ortsobrigkeiten mit der gemessenen Ermahnung, für Gelebung der neuen Ordnung möglichst zu sorgen, überlassen aber nach allem Anscheine die Art der Bekanntmachung den Obrigkeiten selbst nach jeden Ortes Herkommen. Weder in der Vorrede, noch in dem Beschluß des Gesetzes wird des Publications=Modus gedacht, indem es am Schlusse nur allgemein heißt: "Vorkundiget vnd mit genannter Forsten eins hyr vpgedruckten Ingesegel tho Orkund besegelt". 1 ) Ebenso findet sich in einer Reihe von Patenten der Herzoge Heinrich und Albrecht zu Meklenburg aus den Jahren 1520 bis 1540, betreffend Befehdung, Straßenraub, Aufgebot, Forst= und Jagdwesen u. s. w. so wie in den hin und wieder anliegenden Acten keine Spur einer etwa schon damals üblichen Bekanntmachungsweise von der Kanzel herab.

Ein ebenfalls gedrucktes Rescript des Herzogs Heinrich, vom Tage Johannis Baptistae 1523 datirt und an die Domanial=Beamte gerichtet, weis't diese an, das beifolgende christliche Gebet gegen "des Torcken gewaltsame und tyrannische Farnemen" allsonntäglich durch die Prediger ihres Amtes dem Volke "van deme Predigstole" vorlesen zu lassen. Allein dies Rescript sagt zugleich Eingangs ausdrücklich, es habe dies "Keyserlike Maiestet vnse allergnedigste Herrn verordent" u. s. w.; außerdem ward damals die Türkengefahr als allgemeine Sache der Christenheit und als das kirchliche Interesse unmittelbar ergreifend betrachtet, - eine Ansicht, welche noch um d. J. 1670 in der Anordnung von Bußtagen und Dankfesten, den Türkenkriegen geltend, hervortritt. Auf ein schon damals allgemein übliches Ablesen weltlicher Verordnungen von den Kanzeln kann aus diesem Rescripte demnach nicht gefolgert werden. Höchst wahrscheinlich geschah bis dahin die Bekanntmachung der Gesetze wesentlich durch Verlesung in den öffentlichen weltlichen Versammlungen der städtischen und anderer Gemeinden, wie der Aemter und Zünfte, in den Rathhäusern und Schulzenhöfen, auf den Märkten und Dorffreiheiten oder den Gerichtsstätten, so wie durch Anschlag an öffentlichen Gebäuden.

Erst um das Jahr 1549 scheint in Meklenburg der kirchliche Publications=Modus der Gesetze allgemeiner herrschend ge=


1) Man kennt in Meklenburg nur zwei gedruckte Exemplare dieses Gesetzes; eins findet sich auf der Universitäts=Bibliothek zu Rostock, eins im großherzogl. Archive zu Schwerin. Genauer beschrieben ist dieser von Ludwig Dietz zu Rostock gefertigte Druck von Lisch, Geschichte der Buchdruckerkunst in Meklenburg, in den Jahrbüchern des Vereins für mekl. Geschichte, Jahrg. IV. S. 144.
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worden zu sein. In dem Edicte nämlich der Herzoge Heinrich und Johann Albrecht zu Meklenburg vom 7. Mai 1549, gegen Landstreicher und Kriegsfröhner, so wie gegen unerlaubtes Jagen und Holzverwüstung gerichtet, wird zuerst das Verfahren der Bekanntmachung in der Verordnung selbst dahin vorgeschrieben:

"beuehlen vnd wollen hiermit, das alle vnsere Amptleute vnd Beuehlshabere in Stetten, Ampten, Flecken vnd Dorffern sollen diese vnsere Ordnung in allen Kirchen von Predigstulen vnd auch sonsten in vnser Underthanen ire Amptuorwanten Zusammenkünften vorkundigen vnd wortlichen vorlesen lassen".

Die letztere Bestimmung weiset wohl unverkennbar auf die bisher gewöhnlich übliche Weise hin, gesetzliche Bestimmungen dem Volke kund zu thun. - Die Acten über die gleichzeitig (im Jahre 1549) zwischen Brandenburg, Pommern und Meklenburg geschlossene Vereinbarung zur Erneuerung des kaiserlichen Landfriedens, in Verbindung mit einem Particular=Landfrieden der genannten Staaten, enthalten zwar eine ausdrückliche Vorschrift über die Art der Bekanntmachung nicht; jedoch deuten der in den Correspondenzen öfter vorkommende Ausdruck: "verkundigen" und andere Umstände darauf hin, daß auch dieses umfängliche Gesetz in allen genannten norddeutschen Ländern auf landesherrlichen Befehl von den Kanzeln verlesen worden sei. Die Herzoge Barnim und Philipp von Pommern ließen es unter dem Datum: Alten=Stettin am Tage Nicolai 1549 "in öffentlichen Druck ausgehen" und bestimmten dabei: "das solcher Druck das erste Jahr alle 4 Wochen und darnach alle Quatember in einer jeden Pfarrkirche, sowohl auf den Dörffern, als in den Städten und Flecken soll verlesen werden." 1 )

Seit dieser Zeit ist der kirchliche Publications=Modus bei uns durch drei Jahrhunderte herrschend geblieben und bald auf alle Arten obrigkeitlicher Verfügungen ausgedehnt worden. So erläßt z. B. der Herzog Johann Albrecht zu Meklenburg im Jahre 1561 ein (gedrucktes) Notificatorium zur Hinaussetzung des herannahenden Hof= und Landgerichtstages, und weis't in der Bekanntmachung alle Prediger an, diese Bestimmung "vor der gantzen Gemeinde von den Cantzeln" zu verkündigen.

Auch in Pommern ward schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts das Ablesen der Gesetze von den Kanzeln herab


1) Nach einem vorliegenden zweiten Abdrucke aus des Joh. Eichhorn Druckerei zu Alt=Stettin v. J. 1569 in Quart.
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allgemein üblich und auf Polizei=Vorschriften, Contributions=Erlasse u. s. w. ausgedehnt. So ließ Herzog Philipp im Jahre 1545 die Verordnung gegen den im Landvolke eingerissenen Kleiderluxus von allen Predigtstühlen seines Landes kundmachen; das landesherrliche Contributions=Edict vom Jahre 1551 ward, wie in allen pommerschen Städten, so auch in Stralsund von allen Kanzeln verlesen. 1 )

Bei Gelegenheit der im Jahre 1562 erlassenen meklenburgischen Polizei=Ordnung werden sämmtliche Stadt= und Gutsobrigkeiten gleichmäßig angewiesen, dieses Gesetz, "ohne Verzugk vonn der Cantzell inn den Kirchspielenn offentlich abkundigen, volgendts auch jerlichen zum weinigsten zwey Mal ablesen zu lassen." Ebenso wird in dem Vorworte zur revidirten Polizei= und Landordnung vom Jahre 1572 festgesetzt, daß dieselbe alljährlich zwei Mal an bestimmten Tagen "offentlich auf dem Rathhause oder von dem Predigtstule sol abgelesen werden."

In späterer Zeit wurden bisweilen sogar Patente auswärtiger Mächte von meklenburgischen Kanzeln verlesen. Wiederholt geschah dies im Stifte Schwerin. So erläßt der Administrator desselben, Ulrich III., unter dem 22. März 1626 den Befehl an die Superintendentur zu Schwerin, die beifolgenden zwei königlich dänischen Patente, die Händel des Herzogs Georg zu Braunschweig=Lüneburg betreffend, nicht nur von allen Kanzeln des Stifts ablesen, sondern auch an allen Kirchthüren anheften zu lassen.

Auch die von manchen norddeutschen Städten für ihre Gebiete selbstständig erlassenen Luxus=Gesetze, welche für das gegliederte und umschrankte Leben der mittleren Zeiten sehr bezeichnend sind, wurden in den Kirchen verlesen. In der Kleiderordnung der Stadt Lüneburg vom 4. December 1579, in der revidirten und verbesserten Hochzeits= und Kindelbiers=Ordnung der Stadt Rostock vom 29. August 1591, in dem rostocker "Mandat wider die Hoffart vnd Ueppigkeit, bevorab in Kleidungen" vom 6. März 1648 und in mehreren ähnlichen Statuten wird die vorgeschriebene Bekanntmachung von der Kanzel herab ausdrücklich erwähnt. Daß ein Verlesen solcher Gesetze, deren Wesen ein Eingehen in die kleinlichsten Weltlichkeiten bedingte, den kirchlichen Sinn der Zeitgenossen verletzt habe, kann kaum behauptet oder jedenfalls wohl nicht mit Sicherheit erwiesen werden, wohl aber ließe sich die Vermuthung des Gegentheils durch Verschiedene Umstände einigermaßen begründen.


1) Vergl. Mohnike und Zober, Stralsund. Chroniken, I. S. 89 und 129.
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Das Ablesen der weltlichen Verordnungen in den Kirchen blieb jedoch in Meklenburg, selbst in seiner Beschränkung auf landesobrigkeitliche Erlasse, nicht immer in unangefochtenem Gebrauche. Schon um das Jahr 1700 scheinen einzelne Geistliche überhaupt mit einigem Widerwillen sich dem häufigen Geschäfte der Verlesung oft umfänglicher oder bisweilen wenig erheblicher weltlicher Bestimmungen von der Kanzel aus unterzogen zu haben, indem in dieser Zeit z. B. Beschwerden von Domanialämtern gegen einzelne Landprediger wegen unterlassener Verkündigung der Königsbede (eine Abgabe gewisser ritterschaftlichen Güter an die benachbarten herzoglichen Aemter) wiederholt vorkommen. Diese Abneigung mancher Geistlichen, - vielleicht in der steigenden strenggläubigen Richtung der protestantischen Kirche oder in der bald folgenden Reaction des Pietismus mit begründet, - ward in der nächsten Zeit, da der Herzog Carl Leopold um seine "Fürsten=Souveränität" mit den Ständen kämpfte, sehr gesteigert.

Als nämlich das Regiment der kaiserlichen Commission in Meklenburg begann, nahmen die in Rostock sitzenden Subdelegirten unter Andern auch die landesherrliche Befugniß in Anspruch, den Landesgeistlichen die Publication der Contributionsedicte und anderer das Polizei=, das Domanialwesen etc. . betreffenden Verordnungen aufzugeben. Dies geschah namentlich in den Jahren 1723, im December 1724, im April 1726 u. s. w. Die Landesgeistlichen hielten aber, wie die Masse des niedern Landvolkes, treu an dem Herzoge Carl Leopold als ihrem legitimen Landesherrn fest und verweigerten die ihnen zugemuthete Bekanntmachung von Erlassen, welche nicht allein vom Landesherrn nicht ausgingen, sondern sogar theilweise gegen ihn gerichtet waren. Diese Händel haben auch dadurch einiges Interesse, daß in ihnen aufopfernde Volkstreue in gefahrvoller Zeit sich geschichtlich bewährt, welche sonst von Manchen mehr gelegentlich behauptet und sich angerühmt wird, als sie in den großen Nothzeiten, - z. B. in der Wallensteinschen Periode, wo ziemlich Viele von der eingebornen Ritterschaft in die Dienste des kaiserlichen Feldherrn traten - geschichtlich nachzuweisen ist. Damals, als Herzog Carl Leopold, gleichsam ein Verbannter, zu Danzig politischen Projecten nachhing und zugleich den Stein der Weisen suchte, den er niemals fand, ward im Heimatslande seinen Superintendenten und armen Landpredigern von den Subdelegirten zu Rostock scharf zugesetzt, wobei, wie jene klagen "die patroni nobiles denen Lüneburgern sehr gedienet". Gewöhnlich ließen die Subdelegirten damals die Commissionsedicte den Landesgeistlichen durch Notarien, häufig in

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Begleitung von Unterofficieren, insinuiren, wobei die Geistlichen mit eventuellen Geldstrafen bis zum Belaufe von 100 Rthlrn. bedrohet wurden. Einzelnen ward wirklich mehrmals die Execution angesagt, wofür sie die Gebühren erlegen mußten. Sie blieben aber standhaft und erklärten theils einzeln, theils in größerer oder kleinerer Gemeinschaft mit Amtsgenossen wiederholt:

"es stehe keinem aufrichtigen Prediger wohl an, Edicta zu publiciren, wodurch Serenissimi Autorität gekränkt wird; sie wollten in devotion nnd Treue Alles über sich ergehen lassen" etc.

Im Jahre 1738 sandte die kaiserliche Commission abermals den Superintendenten verschiedene, meistens gegen den Landesherrn gerichtete Patente zur kirchlichen Publication zu. Zugleich erging in einem kaiserlichen Decrete vom 28. April 1733 ein strenger Tadel über die meklenburgischen Geistlichen deshalb, weil sie das angeblich Kaiser und Reich beleidigende Manifest des Herzogs Carl Leopold vom 15. December 1732 von den Kanzeln verlesen hatten. Hieran war das kaiserliche Verbot geknüpft, ferner dergleichen herzogliche Manifeste zu publiciren, so wie das ausdrückliche kaiserliche Gebot, die Erlasse des kaiserlichen Commissars auf dessen Befehl zu verkünden, und zwar Alles bei Strafe der Cassation. Die Superintendenten weigerten sich dennoch, auf die ihnen zugemuthete Verlesung der Commissions=Erlasse einzugehen, um so mehr, als ihnen der Herzog Karl Leopold (11. Juni) ausdrücklich verboten hatte, solche Patente anzunehmen. Man belegte darauf die Besoldungen mehrerer Superintendenten mit Beschlag und drückte sie durch militairische Executionen. Sie verblieben aber in ehrenwerther Standhaftgkeit. Als darauf in Folge des Aufgebots des Herzogs im September 1733 ungeregelte Volksbewegungen gegen die fremden Truppen ausbrachen, ward die Sache endlich dahin beigelegt, daß die Prediger künftig keinerlei Verordnungen, weder kaiserliche, noch landesherrliche von der Kanzel ablesen sollten. Demgemäß wurden dieselben wenigstens 14 Jahre, bis zum Tode des Herzogs Carl Leopold, mit Geschäften dieser Art verschont. 1 )

Inzwischen war schon im Laufe des zweiten Reformations=Zeitalters eine ziemlich mißbräuchliche Anwendung des kirchlichen Publications=Modus mehr und mehr in der Art hervorgetreten und verbreitet, daß die Ortssobrigkeiten, die Magistrate und die Gutsherren, dem landesherrlichen Vorgange folgend, in ihrer Weise ebenfalls weltliche Erlasse aller


1) Vergl. Franck Altes und Neues Meklenburg, Buch XVII. S. 75 bis 77.
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Art namentlich auch Polizeivorschriften und Acte der sogenannten freiwilligen Gerichtsbarkeit durch die Geistlichen in den Kirchen verkündigen ließen. Noch mehr, einzelne Corporationen, ja sogar Privatpersonen ließen nach und nach immer häufiger gesellschaftliche und Privatangelegenheiten, wie Schuldsachen, Verkauf von Sachen, verlorne Gegenstände von den Kanzeln ablesen. Der Verfall des geistlichen Standes bei der Ungunst der seit dem westphälischen Frieden von weltlicher Leidenschaft mehr und mehr beherrschten Zeiten, die häufige Störung der öffentlichen Ordnung in schweren Kriegesläuften, wie noch mehr die gehemmte freie Entwickelung des kirchlichen und des Gemeinde=Lebens, hatten die meistens schwach dotirten, oft auch ungründlich gebildeten Geistlichen allgemach zur Ablesung der buntscheckigsten weltlichen Dinge willig gemacht, zumal mit solchem Ablesen, so weit es nicht eigentlichen obrigkeitlichen Erlassen galt, Sporteln verbunden waren.

Bald nach dem Schlusse des langen Krieges (um 1660) nahm das Unwesen dermaßen Ueberhand, daß sich endlich der in kirchlichen Dingen strenge Herzog Gustav Adolph veranlaßt sah, die nachfolgende Verordnung 1 ) an die Superintendenten zu erlassen, welchem Beispiele jedoch, wie es scheint, in dem schwerinschen Landestheile keine Folge gegeben ward. Die Verordnung lautet:

G. A. etc. . Vnsern etc. .

"Demnach bei allen Kirchen in vnsern Gebiet und Landen der unzulässiger Gebrauch hin und wieder eingeschlichen, daß nicht allein die ausgegangene Edicta vnd Constitutiones in Civilsachen, sondern auch sonst allerhand Privathändel offentlich von den Cantzeln abgekündiget vnd der Gemeine wissend gemachet werden; Wir aber solches gäntzlich abgeschaffet wissen, vnd hinführo nichtes, als was nur zu den Consistorial- vnd Kirchensachen gehöret und Gottes Ehr und der Menschen Seeligkeit angehet, von den Cantzeln wollen abgekündigt haben etc. . Alß ist unser gnädigster Befehl an euch hiemit, daß ihr bei allen eurer Inspection untergegebenen Predigern alsofort nach Empfangung dieses die Ordnung beschaffet, daß sie von nun an vnd hinführo nichtes ohn in den obgesetzten Fällen der Gemeine zu verkünden auff die Cantzel bringen, sondern bey wilkührlicher Straffe sich


1) Vergl. Bärensprung's Sammlung meklenburgischer Landesgesetze, Thl. I, Stück 3, S. 164; Parchimsche Gesetzsammlung, Bd. II, S. 156.
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dessen gäntzlich enthalten sollen. Daran beschiehet unser gnediger Wille vnd wir sind euch mit Gnaden gewogen. D. d. 15. Octobr. 1660."

Daß aber dieses Verbot weder von allgemeiner, noch von dauernder Wirkung gewesen sei, wird unten dargethan werden.

In den größeren Städten scheint im Ganzen mehr Maaß in der Benutzung des kirchlichen Publications=Modus gehalten zu sein, als in den kleinen Landstädten.

Gewiß ist indessen, daß in den beiden Seestädten Rostock und Wismar, schon in der zweiten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts nicht bloß landesherrliche Verordnungen, besonders Contributions=, Türkensteuer=Edicte u. s. w., ferner die eigentlichen stadtobrigkeitlichen Verordnungen, unter diesen auch polizeiliche Erlasse, z. B. wegen Vorkauf, ansteckender Krankheiten, Aufforderungen zur Anhörung der Bürgersprache u. s. w. von den Kanzeln verlesen, sondern auch autonomische Bestimmungen von Corporationen sowie Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit an diesem Orte verkündiget wurden 1 ).

Dem privilegienreichen und seine gleichsam für reichsstädtisch geachtete Unabhängigkeit eifersüchtig bewachenden Rostock gegenüber mußten die Landesherren sich das Recht, daselbst von den Kanzeln herab Verordnungen gemeinkündig zu machen, in besonderen Bestimmungen der Erbverträge von 1573 und 1584 sichern 2 ).

In Sponsalien und Ehesachen wurden in der Regel dreimalige Citationen und zwar gewöhnlich an zwei verschiedenen Orten von der Kanzel verlesen. Als z. B. Jürgen Enitz im Jahre 1594 seine Braut Margaretha Tutow aus Warnemünde verlassen hatte und das Gerücht ging, "er lasse sich zuweilen in Wismar sehen", verfügte das Consistorium an den Prediger zu Warnemünde und an das Ministerium zu Wismar: "Du wollest dieselbe Citation zu dreien Malen offentlich von der Cantzel an drei Sonntagen ablesen, folgents auch an die Kirchthüre heften lassen, vnd dann einen schriftlichen Schein, das solchs also geschehen, uns zufertigen". Solche Erlasse des Consistoriums mochten später mit ziemlicher Leichtigkeit auszuwirken sein; wenigstens kommen während des dreißigjährigen Krieges, zumal in den Jahren 1637 bis 1639, bisweilen in dem Zeitraume von we=


1) Vergl. Burmeister, die Bürgersprachen der Stadt Wismar, (das. 1840. 4.) Vorrede, IV.
2) Erbvertrag mit der Stadt Rostock vom 28. Febr. 1584, Art. 94: "Es will auch der Rath die Fürstl. Mandata und Befehliche, so die regierende Landesfürsten nach fürfallender Gelegenheit in der Stadt Rostock anzuschlagen oder von der Kanzel abkundigen zu lassen ihme zuschicken werden, publiciren vnde anschlagen lassen".
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nigen Monaten in demselben Amte drei bis vier an Bauermägde "vom hochlöblichen Consistorio mitgetheilte, in der Kirche abgelesenen Ladungen" vor, welche die "bey dem betrübten Kriegeswesen ausgetrettenen oder verloffenen" Verlobten zu erscheinen mahnten. In Ehesachen ward dasselbe Verfahren beobachtet. Der Herzog Gustav Adolph übertrug z. B. im Jahre 1665 die Ehescheidungssache des v. Viereggeschen Bauern Stephan Greve zu Weitendorf "wegen ietzigen des Consistorii Zustand" einer Commission. Diese ließ das vor 9 Jahren entlaufene Weib des Bauern zugleich im Dome zu Güstrow und in der Kirche zu Weitendorf von den Kantzeln herab nach geendigter Predigt citiren, auch demnächst die Citation an den Kirchthüren anschlagen. 1 ) Ein ganz ähnliches Verfahren scheint in Pommern geherrscht zu haben; namentlich kommt es zu Stralsund noch im Jahre 1732 in gleichzeitigen Acten vor. Auch fand überhaupt zwischen Pommern und Meklenburg eine vielgeübte Gegenseitigkeit in der Ausführung der auf das Verlesen und Anheften der Edictal=Citationen in Ehesachen gerichteten Requisitionen statt.

Befremdender als dieses Verlesen von Sponsalien= und Ehesachen in den Kirchen muß das kirchliche "Abbieten von Häusern" erscheinen, wie es in vielen meklenburgischen Städten im Laufe des sechszehnten Jahrhunderts zur Auffindung von Käufern oder zur Sicherung gegen Ansprüche Dritter üblich ward. In dem Privatprocesse eines Bürgers zu Wesenberg aus dem Jahre 1580 wegen eines städtischen Grundstückes daselbst, wird nicht nur das in diesem Falle geschehene "offentliche Aufbieten von Haus und Hoff von der Cantzell" behauptet, sondern auch als dort allgemein gebräuchlich bezeichnet. Zu veräußernde städtische Aecker wurden ebenfalls damals von der Kanzel abgekündigt. Demgemäß ertheilte die Juristen=Facultät zu Rostock (1582?) an des Günther von Wulfrath Wittwe zu Malchin wegen eines streitigen Grundstücks die Belehrung: "Hat L. T. ein Stück Ackers, ohne vorhergehende Aufkündigung von der Canzel heimlicher Weise verkauft und in das Stadtbuch zu Malchin verzeichnen lassen, so ist berührter Kauf zu Rechte unbeständig und von keinem Wirden" 2 )

Daß dieses Verfahren in größeren Städten gleichfalls gegolten, wird ausdrücklich bezeugt. So heißt es in den Fragstücken


1) Die Consistorial=Ordnung vom J. 1570 enthält keine Vorschriften über das formelle Verfahren bei Erlassung von Citationen, sondern spricht nur von "rechtlichen Vorladungen", vom "Citiren der Abwesenden per edictum" u. s. w.
2) Mantzel, Selecta Juridica Rostochiensia, I, pag. 96.
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eines Prozesses wegen der Pachtgelder des Rathskellers zu Parchim aus dem Jahre 1618: "Wahr, daß nach solchem Taxt das Hauß von der Cantzell altem Parchimschen Stadtgebrauch nach, damitt sich ein Käuffer angeben konthe, abgekundigt worden sey". Die Statuten der Stadt Parchim schreiben auch in der neueren Redaction (aus dem 17. Jahrh.) in §. 19 das Aufbieten der zu veräußernden Grundstücke "von der Cantzel oder sonsten auf andere Wege" ausdrücklich vor. 1 ) Im Jahre 1589 berichtete der Magistrat zu Plau an den Herzog Ulrich, welcher eine neue Gesetzgebung beabsichtigte, über die zu Plau geltenden Rechtsgewohnheiten unter anderm: "Wenn allhie stehende Erbe oder liegende Güter verkauft werden, also werden dieselben öffentlich von der Cantzel abgekündigt, damit es Mennichlichen wissent, sich auch die nächsten Agnaten oder Freunde nicht ihrer Unwissenheit halber zu beklagen". 2 )

Ohne Zweifel ist demnach ein solches kirchliches Abbieten städtischer Grundstücke vieler Orten gebräuchlich geworden, meistens auf bloßen Antrag von Privatpersonen ohne Concurrenz der Obrigkeit geschehen, und hat lange Zeit keinerlei Anstoß erregt. Die um sich greifende Sitte des kirchlichen Ablesens von weltlichen Dingen hat aber noch viel weiter geführt!

In manchen Städten wurden unbedenklich auch Privatschuldsachen abgekündigt. So ließ nach Acten der Stadt Neukalden, den Abschoß betreffend, im Jahre 1611 der Bürger Guntzel von Eitzen, als er von Neukalden nach Malchin zog, "offentlich von der Cantzell proclamiren, daß wer Baltzer Niemann sehligen - (dem ersten Manne der Ehefrau des G. v. Eitzen) - mit Schulden verhafft, der oder die sollten in kurtzer angesetzter Frist sie abstatten und bezahlen". Ein ähnlicher Fall kommt um das Jahr 1620 in Acten der Stadt Teterow vor. - Gerichtliche Vorladungen in Concurssachen scheinen vielfach und lange in den Kirchen verlesen zu sein. Die meklenb. schwerinsche Kammer läßt z. B. noch im Jahre 1689 in Concurssachen des verstorbenen Zöllners Joachim Koenigk zu Zarrentin wiederholt Vorladungen zur Anhörung des Prioritäts=Erkenntnisses in der Kirche zu Zarrentin durch den dortigen Prediger Andreae bekannt machen, worüber dieser amtliche Zeugnisse ausstellt.

Ueberhaupt wurden in den kleinen Landstädten noch in neuerer Zeit manche seltsame Dinge von den Kanzeln aus obrigkeitlich proclamirt. Noch gegen Ende des siebenzehnten Jahrhunderts ließ z. B. der Magistrat zu Grabow markt= oder forstpolizeiliche


1) v. Kamptz, mekl. Civilrecht, Bd. II, S. 227.
2) Westphalen, Monumenta inedita, Tom. I, p. 2096.
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und ähnliche Verordnungen in den Kirchen alljährlich oder nach den Zeitumständen ablesen, wie z. B. die sogenannte Holzordnung (v. J. 1598) die Nutzung des Hornwaldes betreffend, außerdem Vorschriften über die Mast in diesem Walde, über die Anzahl der daselbst einzutreibenden Schweine u. s. w. Das Domanial=Amt zu Grabow ließ dort seiner Seits um das Jahr 1660 ähnliche Verordnungen von der Kanzel proclamiren, z. B. daß Niemand die Gärten bestehlen solle; oder: daß man sich der Fischerei in der Elde an bestimmten Stellen "nicht gebrauchen solle". Noch im J. 1714 ließ der Grabower Magistrat die in ihren Acker=Parzelen vermeintlich laedirten Bürger von der Kanzel vorladen, "den 3. Juli ihre Mängel an Aecker und Wiesen in versammleten Raths=Collegio ad protocollum zu melden".

Dagegen ward von der Geistlichkeit einzelner größerer Städte zu derselben Zeit das Unangemessene in manchen obrigkeitlichen Wünschen oder Aufträgen hinsichtlich der bisher üblichen kirchlichen Publicationen richtiger erkannt und hervorgehoben. So beschwert sich der Superintendent Schumann zu Schwerin unter den 22. Juli 1719 bei der herzoglichen Regierung gegen die Schweriner Justiz=Canzlei, welche ihm aufgegeben habe, in der Domkirche ein Verbot des Magistrats wegen eingerissener Mißbräuche bei der Erndte=Nachlese von der Kanzel zu publiciren. Niemals - sagt Schumann - sei seines Wissens etwas im Dome Namens der Stadtobrigkeit von der Kanzel verkündiget, sondern nur im Namen der hohen Landesobrigkeit; überdies beziele das Verbot des Magistrats "nur einen geringen zeitlichen Nutz;" der Rath könne diese Verordnung füglich an das Rathhaus heften lassen etc. . Es ward darauf der Superintendent am 15. August d. J. von der herzoglichen Regierung dahinbeschieden: "er habe Recht gethan, das Verbot des Magistrats nicht im Dome zu publiciren; jedenfalls habe der Magistrat zuvor wegen Gestattung solcher Bekanntmachungen im Dome sich an die herzogliche Regierung zu wenden etc. .

Wie weit eine ursprünglich angemessene, einst gleichsam nothwendige Einrichtung bei schrankenloser Ausdehnung führen kann, nachdem sie im Laufe der Zeit eine gewisse herkömmliche Geltung auch in der mißbräuchlichen Richtung erlangt hat, zeigt hinsichtlich des vorliegenden Gegenstandes die folgende Thatsache, welche heute zu Tage als eine läppische Ausschweifung erscheint, übrigens actenmäßig vorliegt und nicht vereinzelt dastehen dürfte. Ein Wismarscher Bürger läßt guten Glaubens in einem Privatprocesse die göttliche Hülfe zum gedeihlichen Ausgange des Rechtsstreits von der Kanzel herab erflehen und demnächst in

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der Kirche auch seinen Dank gegen die Gottheit in derselben Sache verkündigen! In dem vom Jahre 1624 bis 1630 geführten fiscalischen Processe gegen den Wismarschen Bürger Johann Rudolph, der beschuldigt war, verächtliche Reden gegen landesherrliche Erkenntnisse geführt zu haben, heißt es in den Fragstücken zum Zeugenverhör vom Jahre 1626 wörtlich:

"Ob Angeclagter nicht vor Eröffnunge des Urtheils (- in einer diesem fiscalischen Processe vorhergehenden Rechtssache -) den lieben Gott um ein gutes Erkenntniß in der Kirche zu Sternberg habe bitten lassen,
und ingleichen, ob er nicht nach erlangten obsiegellichen Urtheil in den Kirchen zu Wismar und Sternberg Zettull auf die Cantzell geschickt vnd in offener Gemein dem lieben Gott offentlich danken lassen."

Beide Puncte werden von mehreren Zeugen als richtig bejaht!

Solchen Vorgängen nach darf man es für völlig glaubhaft halten, wenn noch im Jahre 1733 bei Gelegenheit des oben erwähnten Verfahrens gegen die meklenburgischen Geistlichen wegen verweigerter Ablesung der kaiserlichen Commissions=Patente ein Rechtsgelehrter in seinem Gutachten u. A. sagt: "es kündigten die Prediger ja wohl von den Canzeln ab, wenn etwa Jemandem ein Pferd verlaufen sei u. s. w. 1 ) Daß damals Auctionen an mehreren Sonntagen vor dem Beginne des Geschäfts in den Kirchen von den Predigern angezeigt seien, wird in gleichzeitigen Protocollen öfter ausdrücklich angeführt.

In manchen benachbarten Territorien, namentlich den lübeckischen, lauenburgischen und schleswig=holsteinischen Gebieten, hat sich der Gebrauch der kirchlichen Bekanntmachung weltlicher Privatsachen noch später, als in Meklenburg erhalten. So wird z. B. noch im Jahre 1802 ein Einwohner des damals zum Stifte Lübeck gehörigen Dorfes Alt=Bukow wegen der von ihm nachgesuchten Publication des von seinem verstorbenen Stiefvater in der Stiftsvogtei niedergelegten Testaments dahin beschieden: "daß der 20. December dazu angesetzet sey und Supplicant dieses in dreyen Kirchen solle verkündigen lassen". Dieser zeigte jedoch dem Stiftsgerichte an, daß solche Bekanntmachung in Meklenburg nicht mehr gebräuchlich sei und ließ den Termin in den meklenburgischen sogenannten Intelligenz=Blättern verkündigen.


1) Vergl. Franck, Altes und Neues Meklenburg, Buch XVIII, S. 76.
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Der größte Mißbrauch mit den ortsobrigkeitlichen Bekanntmachungen von der Kanzel aus mag früherhin auf dem platten Lande, bei oft bedenklicher Abhängigkeit mancher Geistlichen von den Patronen oder einzelnen einflußreichen Eingepfarrten getrieben worden sein. Die einzelnen Grundherren sprachen das Recht, ihre obrigkeitlichen Erlasse - oder vielmehr, was sie dazu stempelten - ebenfalls von der Kanzel herab gemeinkündig zu machen, unbedenklich an und machten leicht begreiflich in weitem Umfange von diesem ihrem vermeintlichen Rechte Gebrauch. Bei der an sich schon mehr niedern Richtung der gewöhnlich sehr beschränkten patrimonialen Wirksamkeit mußte hier namentlich das landwirthschaftliche Interesse oft Gegenstand der kirchlichen Publication werden. Zwei Beispiele mögen genügen:

Mathias Vieregge auf Roßwitz processirte um das J. 1594 mit Richard von der Schulenburg auf Subzin wegen der Wiesen und des Fischteiches zu Korleputt. In den Fragstücken, welche der Letztgenannte zum Zeugenverhöre im Jahre 1595 stellte, sagte er u. A.

"Wahr, das er auch solche Hegung seines oberwähnten Fischteiches jharlich vff Philippi vnd Jacobi durch die Prediger inn der Kirchen zur Rekenitz, dahin auch des Beclagten Pawern gehören, von der Cantzell nach landtsittlichen Gebrauch offentlich abkundigen vnd Jedermenniglichen verwarnen lassen, daß sie der Hütung vnter andern auch an seinem Kurleputer Fischteiche sich enthalten sollten" etc. .

In dem Zeugenverhöre eines Prozesses der Restorf auf Bolz wider die Restorf auf Radepohl wegen der Gildeländer zu Wessin v. J. 1588, sagen mehrere Zeugen gleichmäßig aus:

"Sagt, er wisse wohl, daß die Junckern von der Cantzell abkundigen lassen, daß die Pauren sich der Zelgen (von gewissen Eichen) abzuhauwen nicht vnderstehen sollten, vnd da sie darüber betretten, wollten sie dieselben pfanden" etc. .

Wie das Consistorium in Sponsalien und Ehesachen, so ließen die Patrimonial=Gerichte in strafrechtlichen Prozessen Vorladungen von den Kanzeln ergehen. Die Rostocker Juristen=Facultät ertheilte in einer Untersuchungssache wegen Tödtung den v. Rieben auf Galenbeck am 14. October 1581 die Belehrung: daß der entwichene Todtschläger in ihrem Gebiete von der Kanzel zu citiren sei. 1 ) Um das J. 1640, als man die vielen "ausgetretenen" Verlobten der Bauermägde citirte,


1) Mantzel, Selecta Juxidica Rostock. I. p. 96.
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wurden öfter auch Todtschläger und Diebe von den Kanzeln aus vor die Patrimonial=Gerichte geladen. Als eine verwandte Bestimmung erscheint die in dem Edicte des Herzogs Gustav Adolph vom 10. März 1666 enthaltene Vorschrift: daß die Prediger "sowol an denen Orten, da die Mordthaten geschehen, als auch in denen Städten, da die Mordachten publicirt und angeschlagen worden, der Gemeinde öffentlich die Kraft und Wirkung der Mordacht erklären sollen, damit Gott versöhnet und das Land gereiniget werde."

Ebenso wurden Militär=Sachen von der Kanzel verlesen. Es heißt z. B. in §. 25 des vom Herzoge Friedrich Wilhelm erlassenen Reglements für die Landmilice vom J. 1711: "Wann künftig die Compagnien auf einen gewissen Tag und Ort zusammen kommen sollen, alsdann wird solches den Sonntag vorher durch den Prediger von der Cantzel abgekündiget."

Bisweilen ward von den landesherrlichen Oberbehörden selbst die Benutzung der Kanzel in Privatangelegenheiten der Unterthanen ziemlich weit ausgedehnt. So erließ z. B. die herzogliche Kammer in Schwerin noch im J. 1707, als der Krüger Heinrich Ihde zu Sülten durch seinen Schwager Claus Dahl böswillig berüchtigt war, als sei er ein Mörder und Bösewicht, wodurch er angeblich großen Schaden an Ehre und Nahrung erlitten hatte, Befehl an die benachbarten Prediger zu Uelitz, Sülstorf, Wahrsow und Pampow dahin: daß sie das beifolgende landesherrliche Patent, enthaltend eine restitutio famae des Heinrich Ihde, zu Rettung seiner Unschuld und damit er nicht seine Nahrung ferner verlieren möge, von den Kanzeln den Gemeinen öffentlich kund thun sollen. Ja, es ward dem Krüger sogar gestattet, das Patent mit einigen angemessenen Aenderungen drucken und so hin und wieder sonstig im Lande verbreiten und von dem Kanzeln abkündigen zu lassen.

Auch landesfürstliche Privatsachen wurden oft auf diese Weise veröffentlicht. So ließ z. B. um dieselbe Zeit der zu Rostock residirende Herzog Friedrich Wilhelm daselbst in allen Kirchen folgenden Erlaß von den Kanzeln publiciren:

"Demnach ein Paar Diamanten Ohrringe, oben mit 2 runden Rosen vnd 2 Hertz=Rosen daran hangend, so Ihr hochfürstl. Durchlaucht Zuständig, verlohren worden, alß wird ein Jeder, wer solche gefunden oder Wissenschaft darümb hat, erinnert, solches anzuzeigen, und sich desfalß bei Unsern Hoff=Juden Michel Hinrichsen hieselbst anzugeben, da dann nicht allein dem Finder oder Anzeiger deßelben von gedachtem Hoff=Juden zweihundert Rthlr. zum recompens sofort bahr

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bezahlet werden sollen, sonder er hat sich auch dabey aller fernern fürstlichen Gnade zu versichern. Sollte aber solches von Jemand verhelet und verschwiegen, und hienechst über kurtz oder lang doch offenbar werden, Derselbe hat Ihr Durchl. Ungnade und straffe ohnfehlbahr zu gewarten."

Im Allgemeinen wurden jedoch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit der vorschreitenden, auf Staatseinheit und Romanismus vieler Orten zu sehr hingetriebenen Entwickelung des modernen Staatslebens von den Regierungen und Landesgerichten unter manchen ortsobrigkeitlichen Mißbräuchen auch die in den Kirchen bisher üblichen Bekanntmachungen, besonders in Privatsachen, nach und nach eingeschränkt. Anscheinend haben hiebei die damals oft überschätzten Lehrsätze und Ansichten, welche von den die Rechtswissenschaft beherrschenden Romanisten ausgingen und unter Andern auch über die "General=Publication der Gesetze" gelegentlich vorgebracht wurden 1 ), mitgewirkt, indem man zugleich von der früheren Weise der möglichst allgemeinen und immer sorgsam angeordneten Bekanntmachung der Gesetze abwich.

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ward aber im Gefolge der, seit dem politischen Untergange des Herzogs Carl Leopold in Meklenburg wenig verminderten "Landeszerrüttung" der von den Kanzeln herab getriebene Unfug mit dem Abkündigen privater, für die Kirche ungehöriger und oft an sich ganz unbedeutender Dinge zeitweise ärger, als zuvor. Ohne Zweifel hat die in den drangvollen Zeiten von 1718 bis um 1750 vernachlässigte Pflege des Kirchenwesens - das "Taxiren von der Kanzel und das Conserviren der Priestertöchter bei denen Pfarren" bestand noch - hierauf besonders eingewirkt. Selbst noch nach dem Abschlusse des Erbvergleichs war auf dem platten Lande das Abkündigen verlorener, käuflicher oder gestohlener Sachen, vorzunehmender Versteigerungen, zu verkaufender Feldfrüchte, Baumaterialien und dergl. an der Tagesordnung. Herzog Friedrich erließ endlich zuerst um das Jahr 1760 generelle Verbote dieses Unwesens und


1) So findet sich z. B. bei Leyser, Meditationes ad Pand. Vol. I. spec. 7, pos. 2 ein Erachten der Juristen=Facultät zu Wittenberg vom Jahr 1709, worin u. A. deducirt wird, daß eine General=Publication der Gesetze genüge: "es ist genug, wenn der Landesherr am Orte seines Aufenthalts die gemachten Verordnungen verlesen, anschlagen, durch den Druck oder copeyliche Abschriften hin und wieder bekannt machen läßt" etc. . Zugleich bildeten sich die Lehrsätze aus: "non est necesse, ut lex in omnibus pagis, vel oppidis affigatur, aut proclametur; - promulgatio legis ab eo, qui in ea se fundet, non est probandum." Vergl. Müller, Promptuarium juris, Tom. VII. p. 918.
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suchte es dann, da jene unwirksam blieben, durch eine besondere geschärfte Verordnung gänzlich aufzuheben. Sie ist vom 4. December 1776 datirt, an die Schweriner Superintendentur gerichtet und lautet:

"Da dem Vernehmen nach Unsers hiebevorigen generalen Verbotes ungeachtet in einigen Kirchen sowohl in Städten, als auf dem Lande die Ehrnprediger auf Privatbegehren allerhand geringfügige Nachrichten von Kauf und Verkauf, Auctionshaltung und dergleichen nach der Predigt von den Canzeln gemeinkundig machen, wodurch die Andachten unterbrochen und die Gemüther der Zuhörer in Gedanken, welche nicht für den Gottesdienst gehören, zerstreuet werden; so befehlen Wir euch gnädigst, Unsere gnädigste Willensmeinung, daß dergleichen Anzeigen von den Canzeln gänzlich wegbleiben sollen, wiederum ernstlich in Erinnerung zu bringen, und wenn ihr dennoch dergleichen Unfug künftig erfahren solltet, Fiscali Consistorii davon Nachricht zugehen zu lassen. Wornach ihr euch zu richten" etc. 1 )

Das Verlesen der Landes=Gesetze von der Kanzel herab hat in Maßgabe des Herkommens und der in §. 424 des landesgrundgesetzlichen Erbvergleichs vorbehaltenen landesherrlichen freien Bestimmung hinsichtlich der Art der Veröffentlichung, wenigstens in einzelnen Fällen, bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts und darüber hinaus in Meklenburg fortgedauert, obgleich schon um das Jahr 1790 manche Gesetze neben öffentlichem Anschlag auch in den Intelligenzblättern bekannt gemacht wurden. Bei der in der Natur der Sache liegenden Mißlichkeit, die kirchliche Gesetzpublication plötzlich und gänzlich aufzuheben, - welche durch die gleichzeitige Entwickelung mehrfacher reformatorischer Bestrebungen auf dem Staats= und Kirchengebiete erhöhet ward, trat gegen Ende des vorigen Jahrhunderts auch in dieser Angelegenheit das Schwanken einer Uebergangszeit hervor. In einer landesherrlichen Verordnung vom 6. Juli 1779 wird die von den Predigern zeither häufig unterlassene Ablesung der Patent=Verordnung vom 12. November 1774 "zu Abstellung des feuergefährlichen Tabackrauchens" gerügt, und zugleich


1) Abgedruckt in Schröders neuester Gesetzsammlung, Th. I. S. 7. Vergl. Siggelkow, Handbuch des meklenb. Kirchen= und Pastoral=Rechts, 3. Aufl. 1797. 8. S. 152, woselbst bemerkt wird, daß einige Ausnahmen von der Regel landesherrlich befohlen oder erlaubt seien; z. B. den Predigern der Ribnitzer Präpositur sei die Abkündigungvon den ritter= und landschaftlichen Gütern zu erlegende Königsbede gestattet.
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für die Zukunft die regelmäßige Verkündigung der neuerdings in dieser Sache ergangenen Verordnung an jedem ersten Sonntage nach Neujahr anbefohlen. 1 ) Ein Regiminalbescheid vom 18. Juli 1785 "wegen Ablesungsart der älteren Patent=Verordnungen von der Kanzel" erklärt, daß die unter der vorigen Regierung anbefohlene jährliche Verlesung einzelner landesherrlicher Verordnungen, z. B. wegen Abstellung der Ueppigkeiten bei den Zusammenkünften der Domanial=Unterthanen, wegen der Sabbathsfeier, wegen Armenversorgung und Abstellung der Bettelei, wegen "feuergefährlichen Tabackrauchens" u. s. w. auch fernerhin stattfinden solle. 2 )

Das nun vorherrschende Widerstreben der Prediger - denn Nachlässigkeit war es wohl nicht allein - gegen dergleichen Bekanntmachungen von der Kanzel wird demnächst in einer Verordnung vom 11. November 1786 dahin bedeutet: Die neueste Patent=Verordnung "wegen Abstellung des feuergefährlichen Tabackrauchens" künftighin jährlich zwei Mal nach geendigter Vormittags=Predigt - bei Vermeidung einer Strafe von 4 Rthlr., jedoch mit Weglassung des blos historischen Prologus und Epilogus der Erneuerungen abzulesen 3 ). Dann wird schon unter dem 28. März 1789 landesherrlich ferner bestimmt, daß die Verkündigung der größeren Patent=Verordnungen von den Kanzeln herab "künftig statt der wörtlichen Verlesung nur mittelst kurzen Auszuges, ihrem Hauptinhalte nach" geschehen solle. 4 )

Noch unter dem 11. März 1801 wird die Vernachlässigung der vorgeschriebenen Ablesung namentlich der Verordnung gegen das Tabackrauchens gerügt und die vorschriftsmäßige Verkündigung abermals eingeschärft; ja in einer Nachschrift zu eben dieser Verordnung werden die Superintendenten angewiesen, die Prediger überhaupt an die ihnen obliegende jährliche Verlesung der herzoglichen Patente "ernstlich zu erinnern" 5 ).

Die seit dem Jahr 1806 hereinbrechenden stürmischen Zeiten machten auch in den meklenburg=schwerinschen Landen eine ungewöhnliche Erweiterung und Beeilung in der Thätigkeit der Gesetzgebung und Verwaltung nothwendig; sie haben die fast gänzlicheAufhebung der Sitte des Ablesens der weltlichen Verordnungen von der Kanzel herab bei uns herbeigeführt. In der landesherrlichen Zuschrift an den engeren Ausschuß


1) Schroeders neueste Gesetzsammlung, Thl. I. S. 20.
2) Schroeder, a. a. O. S. 124.
3) Schroeder, a. a. O. S. 141.
4) Schroeder, a. a. O. S. 193. 194.
5) Schroeder, a. a. O. S. 296. 297.
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vom 16. Januar 1812 1 ), betreffend das an demselben Tage erlassene Gesetz über die Publication allgemeiner Verordnungen und Edicte wird gesagt:

"Daß bei der durch die bedrängten Zeiten veranlaßten Vermehrung allgemeiner Verordnungen das Unbehülfliche und oft Unzureichende des bisherigen Ganges ihrer Publication sich nur zu sehr veroffenbart" habe, weshalb künftig ein eigenes officielles Blatt zur schnelleren und allgemeinen Bekanntwerdung allgemeiner Gesetze auch anderer Notificatorien der Oberbehörden erscheinen werde.

Das "officielle Wochenblatt" ist demnächst noch im Jahre 1812 ins Leben getreten und seit dem Jahre 1813 bis auf die Gegenwart regelmäßig fortgeführt worden. Dem Vernehmen nach werden indessen einzelne Verordnungen vorschriftsmäßig noch heutiges Tages in Meklenburg=Schwerin von den Kanzeln verlesen, wie namentlich die Verordnungen vom 20. Mai 1768, 30. December 1769, 14. November 1782, 15. April 1788. 15. Juli 1800, 24. Juli 1818 und 1. December 1838; ob jedoch Gleichmäßigkeit und strenge Nachachtung in dem Ablesen dieser Verordnungen von Seiten der Prediger in den verschiedenen Landestheilen beobachtet wird, steht dahin.

In den meklenburg=strelitzschen Landen hat sich das alte Herkommen der kirchlichen Bekanntmachung weltlicher Verordnungen und Privatsachen länger erhalten. Die Regierung des Fürstenthums Ratzeburg erließ noch unter dem 29. November 1805 eine Verordnung über die "Gebühren der Prediger 2 ) für die von den Kanzeln zu verlesenden Bekanntmachungen in Privat=Angelegenheiten," in welcher auch die unbedingte Verpflichtung der Prediger zur vollständigen, nicht auszugsweisen, und dabei unentgeldlichen Verlesung aller ihnen zu dem Zwecke von den Landescollegien und Aemtern zugehenden Erlasse ausgesprochen wird. Nach einer weitern herzoglichen Verordnung vom 6. Februar 1811 hatten aber damals die Prediger im Fürstenthum Ratzeburg Beschwerde geführt über die Schwächung und Verhinderung der religiösen Erbauung durch das Ablesen der weltlichen Bekanntmachungen von den Kanzeln. Um nun das zu entfernen, "was der Würde


1) Dittmar's Sammlung Neuerer Gesetze und Urkunden, Bd. II. S. 178.
2) Für dreimalige Verlesung von 1 Bogen starken Bekanntmachungen in Privatsachen sollen die Prediger 12 ßl. dän. Cour. erhalten; - ist die Bekanntmachung über 1 Bogen stark, sollen sie 16 ßl. bekommen; für einmaliges Verlesen nur 3 resp. 4 ßl. Jedoch soll die Bezahlung nicht im Voraus stattfinden, sondern nachträglich.
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und dem Zwecke des Gottesdienstes zuwider ist," wird die Verordnung vom 29. November 1805 dahin erläutert: daß die Bekanntmachungen zwar noch ferner in der Kirche geschehen sollen, jedoch nicht mehr von der Kanzel aus, sondern an einem schicklichen Platze, nach völlig beendigtem Gottesdienste und wenn der Prediger es wünscht, durch den Küster, welcher alsdann die Gebühren erhält.

Endlich ward auch hier das freilich schon ziemlich umgestaltete alte Herkommen mittelst einer Verfügung der Landvogtei des Fürstenthums Ratzeburg vom 27. November 1830 dahin aufgehoben: "Daß von Neujahr 1831 an alle Verordnungen und Bekanntmachungen lediglich durch das neue (Bickersche) Intelligenzblatt geschehen sollen und eine andere Art der Publication nicht weiter stattfinden wird."

Es ist auffallend, daß in Meklenburg=Strelitz selbst erst im Jahr 1838 ein officielles Wochenblatt eingeführt worden ist, nachdem unter dem 4. November 1837 ein großherzogliches Rescript an den Engern Ausschuß 1 ) dieserhalb ergangen war, in welchem unter Andern auf die "bisherige umständliche und lästige Art und Weise der Promulgation" hingewiesen wird.


2. Rechtsgeschäfte und Handelsverkehr in den Kirchen und auf den Kirchhöfen.

Die früher vorherrschende Bekanntmachung obrigkeitlicher Verordnungen und anderer weltlicher Dinge von den Kanzeln herab wird noch im Gedächtnisse einzelner Zeitgenossen, als Zeugen, bewahrt. In einigen Gegenden des nordwestlichen Deutschlands, wie in Schleswig und Holstein, ist sie noch jetzt, jedoch in beschränkter und im Einzelnen abweichender Weise, üblich.

Fast ganz im Leben erloschen ist die früher weit verbreitete Sitte, in den Kirchen und auf den Kirchhöfen Rechtsgeschäfte - sowohl öffentliche als privatrechtliche, gerichtliche und bloße Vertragshandlungen - und täglichen Handelsverkehr zu betreiben. Das ist eine Sitte, welche in der großen praktischen Bedeutung der kirchlichen Elemente für die Zustände des Mittelalters zunächst begründet, sich vorzugsweise in den Städten nach Bedürfnissen des bürgerlichen Verkehrs ausgebildet und nach dem Umsturze der alten Kirchenverfassung, da die meisten Grundzüge des mittelalterlichen Lebens noch bis


1) Dittmar's Sammlung neuerer Gesetze, Bd. II. S. 179.
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in das 17. Jahrh. bei Bestand blieben, längere Zeit theilweise Geltung behalten hat.

Wie oben bemerkt, sind im Mittelalter ohne Zweifel manche eigentliche "Stadtsachen" von den Magistraten in den Kirchen verhandelt. Vermuthet wird sogar, daß in einzelnen Städten in frühester Zeit die eigentlichen Rathsversammlungen in den Kirchenstühlen der Magistrate stattgefunden haben mögen; 1 ) jedenfalls gab es mancher Orten Rathsstühle auf den Kirchhöfen, wie oben nachgewiesen ist.

Gewiß ist auch, daß im Laufe des 15. und des 16. Jahrhunderts manche öffentliche wie privatrechtliche Geschäfte in den Kirchen und auf den Kirchhöfen von Norddeutschland verhandelt worden sind. Es blieb die alte Sitte, fleißig den Morgengottesdienst zu besuchen, bei Bestand. Sie machte fortdauernd den Rathsstuhl zu einem bekannten und leicht zugänglichen Versammlungsorte auch für die Bürger der Stadt, und schon hieran knüpfte sich wie von selbst ein innerhalb der Kirchen stattfindender Betrieb mancher weltlichen Dinge. Außerdem behielten die großen und fast immer offenen kirchlichen Räume an und für sich auch in diesen späteren Zeiten einen bebeutenden Werth für das in mancher Hinsicht noch immer nüchtern und beschränkt erscheinende bürgerliche Leben. Namentlich wurden in Beziehung auf öffentliche Bauwerke, indem es stehende und luxuriöse Staatsbauten noch nicht gab, die vereinigten Kräfte der Gemeinden durch das Bedürfniß der Zeiten fast ausschließlich auf das Streben nach Schutz und Sicherheit gegen außen, also auf Herstellung und Erhaltung von Wällen, Mauern, Thürmen und Zingeln, hingeleitet. Im Uebrigen nahm die, freilich um Regelung und Sittigung des bürgerlichen Lebens sehr verdiente, aber auch häufig übertrieben anspruchsvolle und weltlich strebende Kirche den frommen Eifer der Wohlhabenden für kirchliche Bauten, Begabung von Altären u. s. w. reichlich in Anspruch, so daß nur in einzelnen besonders reichen und ausgedehnten Städten, wie bei uns z. B. Lübeck, Rostock und Stralsund, für mehr ungewöhnliche weltliche Bedürfnisse einige Baulichkeiten vorhanden waren. Endlich mußte schon die örtliche Lage der Hauptkirchen in manchen größeren Städten auf den Geschäftsverkehr einwirken, indem viele dieser Kirchen, wie in Hamburg, Bremen, Schwerin, Rostock, Stralsund, Lübeck 3 ) u. a. O. unmittelbar am Markte oder


2) Im Jahre 1376 beglaubigen mehrere Geistliche die Abschrift einer Urkunde "auf dem Kirchhofe der Marienkirche zu Neubrandenburg in dem beim Chore belegenen Rathsstuhle". Lisch, Gesch. des Geschlechts v. Oertzen, Bd. I, S. 154.


1) Vergl. Brandenburg, Geschichte des Magistrats zu Stralsund, S. 11.
3) Grautoffs histor. Schriften, Bd. I. S. 228.
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doch in dessen Umgegend und gewöhnlich den Rathhäusern ganz nahe gelegen waren, in welchen letzteren bisweilen besondere Zugänge für den Verkehr mit der nahen Kirche eingerichtet und erhalten wurden.

Dem entsprechend findet man auch in den spätern Zeiten manche rechtliche Vorgänge als in den Kirchen der Städte, wie des platten norddeutschen Landes geschehen in unsern Geschichtsquellen ausdrücklich bezeichnet. Namentlich in den größeren Hansestädten kommen im Laufe bewegter Zeiten politische Verhandlungen in den Kirchen nicht selten und noch im 16. Jahrhunderte vor. So erzählt Reimar Kok in dem Berichte über die bürgerlichen Unruhen zu Lübeck im Jahr 1408, wie der Rath früh Morgens in einer Kapelle der Marien=Kirche zusammengetreten, wie die Sechsziger in die Kapelle gedrungen seien, hier mit dem Rathe lange verhandelt und ihm Zugeständnisse abgenöthiget hätten 1 ). In den ersten Jahrzehnten der Kirchenverbesserung traten die lutherisch gesinnten Bürger zu Rostock, Stralsund u. a. O. öfter in den Kirchen zusammen, um über Maßregeln zum Schutze der neuen Lehre zu berathen. Zu Rostock fanden in den stürmischen Tagen um das Jahr 1560 wiederholt amtliche Versammlungen der Sechsziger in der Sanct Johannis=Kirche statt; öfterer kam in den Jahren 1562 und 1563 die ganze Rostocker Bürgerschaft zur Verhandlung der mit dem Rathe obschwebenden Streitigkeiten in der St. Marien=Kirche daselbst zusammen, beonders seitdem die Sechsziger den Friedrich Rode, bisher Studenten zu Leipzig, wider den Willen des Rathes als Syndicus berufen hatten 2 ). Ja, in den Tagen des 8. und 9. Februar 1565 ward der Rath von den Sechszigern gezwungen, fast 40 Stunden lang in der Marien=Kirche mit etwa 3000 Bürgern und Einwohnern Rostocks unmittelbar zu verhandeln!

Im Jahr 1413 wird zu Stralsund ein Schulddocument in Gegenwart eines Burgemeisters vor dem Rathsstuhle in der St. Nicolai=Kirche ("coram stallo consulum in ecclesia Sti Nicolai") ausgestellt 3 ). Noch um 1504 führt Sastrow in seiner Lebensbeschreibung anscheinend als etwas zu Stralsund Gewöhnliches an, wie er von dem Stadtsyndicus Genzkow in Geschäften nach der St. Nicolai=Kirche berufen worden sei 4 ).

Auf dem platten Lande Meklenburgs wurden, besonders im 16. Jahrhunderte, häufig rechtliche Verhandlungen im Laufe öffentlicher oder privatrechtlicher Streitigkeiten in den Dorfkirchen vorgenommen. Die Landesherren erließen


1) Grautoff, die Lübeck. Chroniken, Bd. II. (Ergänzungen zum Detmar) S. 649.
2) Vergl. Wettken, Geschichte der Stadt Rostock, S. 64.
3) Vergl. Brandenburg, a. a. O. S. 11.
4) Vergl. Ebendas. S. 12.
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damals bei der nicht scharf abgegrenzten Gerichtsbarkeit der Hofcanzleien 1 ), namentlich in Streitigkeiten der Lehnleute unter sich oder mit den Domanial=Unterthanen wegen Grenzen, Servituten, Hofdienste u. s. w. häufig Commissionen zur Ausgleichung solcher Händel. Die Beauftragten hielten dann oftmals die erste Sitzung feierlich in der Dorfkirche, wo sie den Parteien den landesherrlichen Auftrag verlesen, die Zeugen beeidigen und bisweilen auch durch Notarien abhören, in andern Fällen Parteischriften vortragen ließen oder Vergleichs=Vorschläge verhandelten. Dieses Verfahren kommt in den Jahren 1560 - 1590 z. B. in der Umgegend von Malchin und Gnoien vielfach actenmäßig vor und öfter wird ausdrücklich in den Protocollen gesagt, daß die Commissarien bei dem betreffenden Vorgange im Chore der Kirche vor dem Altare gesessen hätten. Neben der Rücksicht auf Räumlichkeit mag hier u. A. die Ansicht von der strengeren Bedeutung der Eidesleistung an heiliger Stätte eingewirkt haben, obgleich es auch an Beispielen der Eröffnung und Vollziehung des Auftrags der Bevollmächtigten auf dem Ritterhofe, im Kruge oder auf dem Schulzenhofe in diesen Zeiten nicht fehlt.

Aehnliche Vorgänge in den Kirchen des platten Landes werden öfter in den Acten über die meklenburgischen Grenzirrungen, namentlich mit Pommern, während des 16. Jahrhunderts erwähnt. Bei Beziehung dieser Grenzen halten die landesherrlichen Abgeordneten z. B. in den Jahren 1560 - 1580 wiederholt Sitzungen in den nahe gelegenen Landkirchen, wie zu Bruderstorf, um daselbst Zeugen abzuhören, Vergleiche zu versuchen, Protocolle vorzutragen und auszuwechseln u. dergl. m., obgleich bei diesen Geschäften die Rathhäuser der Grenzstädte oder die fürstlichen Amtshäuser gewöhnlich vorgezogen wurden.

Auch noch im folgenden Jahrhunderte kommen Verhandlungen von mehr öffentlicher Bedeutung in den meklenburgischen Landkirchen öfter vor. So werden im Auftrage der Kammer in Justiz=wie öconomischen Angelegenheiten der Domanial=Unterthanen noch um das Jahr 1670 zuweilen umfängliche Verhandlungen in den Dorfkirchen geführt, wie denn z. B. im Jahr 1664 der Rittmeister S. Krull klagt, daß ihn der Pastor J. H. Linse "in der Kirche zu Petersberge coram commissariis injuriirt" habe. Als eine verwandte Erscheinung in den Städten mag noch angeführt werden, daß die Universität zu Rostock die St. Johannis=Kirche daselbst in den drei letzten


1) Die rein prozessualische Form in den Erlassen der Hofcanzleien um 1560 ist selten; Beilegung durch Vergleichshandlung, Regelung des niedergerichtlichen Verfahrens durch Mandate und endliche Verweisung an das Hof= und Landgericht sind vorherrschend.
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Jarhunderten vielfach zu Promotions=Acten, Redeübungen und Festreden benutzt hat.

Die Sitte, privatrechtliche Geschäfte in den Kirchen abzumachen, hat sich in den norddeutschen Städten lange nach der Reformation erhalten. Die alte katholische Sitte des Morgengottesdienstes ward in der neuen Kirchenverfassung, wenn auch in veränderter Form und in beschränktem Maße, beibehalten. Demgemäß hielten namentlich in Meklenburg und Pommern auch die höhern Stände noch im Laufe des 17. Jahrhunderts die Gewohnheit der Morgenandacht in Ehren. Zu Stralsund 1 ) wie zu Rostock ward sie vom Rathe ehrenwerthes Herkommen oder in Folge neuer gesetzlicher Bestimmungen an wichtigen Tagen, wie auch überhaupt strenge beachtet. So schreibt noch die revidirte Rostocker "Ordnung von Rathgehen vnb Rathschlägen" vom Jahr 1618 vor; "An denselben Tagen (Mittwochs und Freitags) sollen sich alle Rathspersonen in der Kirche zu St. Marien zur Predigt finden. Nach vollendeter Predigt vnd gethanen Gebet auff den Glockenschlag acht sollen die Herren des Rathes ordentlich und bey Paren auß der Kirchen nach dem Rathhause oder der Schreiberey gehen." - Auch am fürstlichen Hoflager blieben die Mitglieder der höchsten Behörden der alten Sitte treu. So pflegten noch um das Jahr 1650 die Räthe der Hofcanzlei zu Güstrow, der Kanzler Johann Cothmann, der Kanzlei=Director Laurentius Stephani und die Räthe Joachim van Nessen und Caspar Koch, die Morgenpredigt im Dome zu besuchen und zuweilen unmittelbar von der Kirche aus nach dem Schlosse in die Rathsstube zu gehen. - In Lübeck, wo altdeutsche Sitte mit seltener Treue bewahrt ist, ward noch bis zum Jahre 1806 der Etting drei Mal jährlich auf freiem Markte gehegt, nachdem zuvor der gesammte Rath in der Marien=Kirche sich versammelt hatte 1 ).

Dieser unmittelbar vor dem Beginne der Tageswerke übliche Kirchenbesuch hat zur Erhaltung der Sitte, Privatgeschäfte in den Kirchen vorzunehmen, natürlich beigetragen, und die lange Dauer dieses den katholischen Zeiten entstammenden Brauches kann in so ferne wenig auffallen, als überhaupt Manches aus der alten Kirchenverfassung in spätere Zeiten übergegangen ist, wie das Begraben der Todten in den Kirchen oder doch in deren Nähe, verschiedene lateinische Gesänge und liturgische Uebungen


1) Hier galt die alte Sitte als Vorschrift, namentlich bei Hegung des Ettings. Vergl. Brandenburg, Geschichte des Magistrats zu Stralsund, S. 13.
1) Hier galt die alte Sitte als Vorschrift, namentlich bei Hegung des Ettings. Vergl. Brandenburg, Geschichte des Magistrats zu Stralsund, S. 13.
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des katholischen Ritus u. s. w. Angeregt und lange mitgewirkt hat ferner der Mangel an Räumlichkeiten in den verkehrsreichen Städten. Sodann ist auch die uralte Ansicht von dem Befriedetsein des Ortes auf die Sitte von Einfluß gewesen. Diese Ansicht ist durch gesetzliche Bestimmungen auch in unseren Gegenden mehrfach anerkannt, indem nach Lübischem Rechte (Revid. Lüb. Recht, Buch VI., Tit. 15, §. 2.) Burgfrieden haben: Der Rathsstuhl, Kirchen und Kirchhöfe, Rathhaus und Gerichtsbude während der Marktzeit, Weinkeller, Markt, Fleischschrangen, Wage und Hafen. Endlich mag größere Aufrichtigkeit und Treue, wie mehr eindringlicher Ernst bei den in den Kirchen vorgenommenen Handlungen des privaten Geschäftsverkehrs lange Zeit vermuthet und auch im Allgemeinen beachtet worden sein.

In einzelnen norddeutschen Städten, wie Stralsund, Rostock u. A. läßt sich die Geltung der alten Sitte noch gegen Ende des 16. wie im Laufe des folgenden Jahrhunderts mit Sicherheit nachweisen. Als Marcus Lobepreis, Büksengießer und Schütze zu Rostock, in den Jahren 1562 - 1567 mit Gebhard Moltke auf Strietfeld wegen Benutzung des ihm theilweise vermietheten Gildelandes der Bauern zu Petersdorf processirte, ließ er am 7. Mai 1563 "in Sanct Johannis Kirchen zu Rostogk ahn der norden Seiten" von einem Notar ein feierliches Zeugenverhör vornehmen. Ebenso verhandelt im Jahr 1570 zu Rostock der Kaufmann Claus Janecke mit Otto Vieregge in der Marien=Kirche während des Pfingstmarktes über eine Schuldforderung und vergleicht sich daselbst mit ihm in Gegenwart von Zeugen. Am 17. März 1572 bestellt Wolf Lucka auf Bresen im Verlaufe eines Injurien=Prozesses die Gegenpartei in die Marien=Kirche zu Neubrandenburg, um daselbst eine gütliche Ausgleichung der Sache zu versuchen. Jm Jahre 1618 schließen zwei Rostocker Bürger in der Marien=Kirche einen Hauskauf und machen ihn dort "nach übligen Gebrauch vnd Gewohnheit durch den Gottespfennig bundig vnd kräftig." In demselben Jahre handelt der Stralsunder Bürger Segebade mit dem von Braun in der St. Nicolai=Kirche wegen des Gutes Mordorf und bietet ihm dasselbe dort "in Beisein guter Leute" zu Kauf an 1 ). Noch um das Jahr 1650 lassen zu Rostock processirende Bürger nicht selten den Appellations=Act in der Marien=Kirche vornehmen, wohin die Notarien und Zeugen ausdrücklich beschieden werden.

Die Sitte, Eheverlöbnisse in den Kirchen abzuschließen, war noch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhun=


1) Vergl. Brandenburg, a. a. O. S. 11.
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derts in den meklenburgischen Städten allgemein üblich, wie denn auch die Trauungen durchweg von allen Ständen in den Kirchen vollzogen wurden. Bei Eingehung der Eheberedungen war jedoch eine Mitwirkung der Geistlichen nicht nothwendig oder allgemein üblich; auch scheint der alte Brauch, sie in der Kirche vorzunehmen, schon während des dreißigjährigen Krieges in den Städten in Abnahme gekommen zu sein. - Die "Ordenung der Brudlachtes=Kösten" des Rathes zu Rostock vom Jahr 1567 schreibt vor: "Erstlick gebudt ein Radt, wenn dat Gelöffte in der Kercken geholden vnd de Brudegam thor Brudt gheyt, dat se alsdenn an beyden Syden in Alles nicht mehr also veertich Personen vp den Auendt tho Gaste hebben schölen." In den vom Herzoge Ulrich zu Meklenburg im Jahre 1589 zum Zwecke einer neuen allgemeinen Landes=Gesetzgebung von den Stadtobrigkeiten erforderten Berichten über die Rechtsgewohnheiten der einzelnen Städte heißt es in dieser Beziehung:

" Grabow. - Ehestiftungen werden öffentlich in der Kirchen in der Freunde Gegenwart abgeredet vnd vollenzogen 1 ).

Penzlin. - Eheberedungen werden mehrentheils in der Kirchen gehalten vnd zu beiden Theilen Bürgen für den Vorgang gesetzet 2 ).

Plau. - Die Eheberedungen geschehen gemeiniglich in der Kirchen vnd was einer dem andern zusagt, wird nicht allein verschrieben, besondern auch verbürgt." 3 )

Neben diesen, ihrer innern Bedeutung nach, immerhin für die kirchlichen Räume geeigneten Handlungen, fehlt es nicht an Beispielen eines mehr nüchternen, öconomischen Verkehrs in den norddeutschen protestantischen Kirchen, denen das Bilderstürmen im ersten Zeitalter der Reformation fast allen Schmuck an Kunstwerken nahm und denen die späteren Zeiten manche entstellende Chor= und Stuhlbauten im Innern, vielerlei Besudelung und endlich ein radicales Uebertünchen der Wände und gänzliche Absperrung mit Ausnahme der "Kirchenzeit" brachten.

Die in Meklenburg früher oft geübte Gewohnheit, Strandgüter in den Dorfkirchen der Meeresküste zu bergen, mag indessen in ihrer unglücklichen Veranlassung und dem oft wohl unbestreitbaren Mangel an Obdach ihre Erklärung und Berechtigung finden. In Meklenburg sind namentlich in den Kirchen und auf den Kirchhöfen von Kirchdorf auf Poel, Altengartz, Brunshaupten, Warnemünde, Wustrow auf Fischland u. s. w., während der letzten Jahrhunderte häufig geborgene Strandgüter


1) Westphalen, Monumenta inedita, Tom. I., p. 2079.
2) Ibidem, p. 2083.
3) Ibidem, p. 2098.
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in großen Massen aufbewahrt worden 1 ). Dabei geht aus den Acten hervor, daß diese Bergung in den Kirchen nicht selten Wochen lang angedauert und mancher Orten die kirchlichen Räume wesentlich beschränkt hat. Auch ergeben die Acten, daß die geborgenen Schiffsgüter gewöhnlich durch Beamte oder Notarien verzeichnet, zuweilen demnächst in den Kirchen oder auf den Kirchhöfen versteigert wurden, wobei es an Zechereien und Raufereien nicht immer fehlte. Daß auch in den kleinen Städten an der Küste solche Bergung der Strandgüter in den Kirchen vorgekommen sei, beweist u. A. die Erzählung des Reimar Kok von dem Sturme am 19. August 1497, der viele hansische Schiffe an die pommerschen und meklenburgischen Küsten warf. "De hilligen Beginen tho Ribbenitz mit ehrem Pater de lethen sich bedünken, unser Herre Gott hedde so vele frame Lüde vmb dat Leuent kamen laten, dath de Beginen scholen ricke werden; wente de Nunnenlude hedden des Godes so vele gekregen, dat de Nunnen=Kercke vul gelegen waß; hetten dath gerne beholden, auerst dath moth eme nicht glücken."

In den Städten fand eine ähnliche Verwendung der Kirchen in Folge eben so unglücklicher Veranlassung oftmals statt; nämlich bei heftigen Feuersbrünsten, wie solche manche mekl. Landstädte um das Jahr 1660 und die, damals viel vor dem Kriege geflüchtetes Gut bergende Seestadt Rostock im August 1677 auf eine bisher beispiellose Weise heimsuchten.

Urkunden=, Acten= und Büchersammlungen wurden in Meklenburg, Pommern und den Hansestädten vielfach in Kirchen aufbewahrt, wie dies z. B. zu Rostock, Schwerin und Lübeck noch in neueren Zeiten stattgefunden hat und vielleicht noch jetzt an einigen Orten vorkommt. Auch in den mekl. Landkirchen wurden von Grundherren wie von Dorfschaften öfter werthvolle Urkunden hinterlegt; wie z. B. seit Alters die Dorfschaften Jördenshagen und Penzin ihre Briefe in der Kirche zu Neukirchen aufbewahrten.

Ungleich anstößiger erscheint die ganz willkührliche private Benutzung, welche sich manche Grundherren, besonders wenn sie Patrone waren, und auch die Prediger selbst hinsichtlich der Landkirchen zuweilen erlaubten, indem sie nach Visitations= und Proceß=Acten des 17. Jahrhunderts dort zu Zeiten Ge=


1) Eine "Fürbitte für den Strand" ist in den meklenburgischen Kirchen längs der Meeresküste Jahrhunderte lang üblich gewesen. Auch bei mehr wohlwollender Auffassung ihres Sinnes, als auf Segen im Fischfange, Bernsteinsammeln u. s. w. gerichtet, behält sie nach dem Wortlaute wohl etwas Zweideutiges und Anstössiges, wie denn Herzog Friedrich, als er diese seltsame Fürbitte im Laufe der Aufklärungs=Periode am 8. October 1777 gänzlich aufhob, in der Verordnung bemerkt: "Da Uns diese Fürbitte, ob sie gleich gegen Uns, bei Unserer - bisher bewiesenen Gesinnung, wohl keiner üblen Deutung jemals fähig ist, dennoch anstößig bleibet" etc. . Vergl. Schröders neueste Gesetzsammlung Th. I. S. 11.
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treide aufzuschütten oder Hausrath aufzubewahren nicht anstanden. In manchen mekl. Landstädten scheint eine solche Nutzung der Kirchen auch von Seiten der Bürger üblich gewesen zu sein, wie denn z. B. im Juli 1644 der Bürger Dieterich Henell zu Neustadt in einer Schuldklage wider den Sprachlehrer Matras ganz unbefangen bemerkt, daß er "in sein Abreisen von Neustadt 8 Drömbt Roggen neustätter Maße hinter sich verlassen und in der Kirche zu Verwarung gelegett" habe. Ebenso bittet im Juni 1710 die verlassene Ehefrau des Capitains von Weltzin von Amsterdam aus den Herzog Friedrich Wilhelm, die drei ihr gehörigen Koffer, welche zu Parchim in der Kirche verwahrlich niedergesetzt seien, ihr verabfolgen lassen zu wollen.

Ein schlimmerer Gebrauch der kirchlichen Räume ist im ersten Zeitalter der Reformation von einzelnen Kirchen=Patronen auf dem platten Lande Meklenburgs bisweilen gemacht worden. Wegelagernde Lehnleute nahmen nämlich die Theilung geraubter Güter in ihren Kirchen vor. So kehrten um das Jahr 1525 eines Abends die Gebrüder Tiepling auf Krekow und Engelke Devitz auf Holzendorf von einem glücklichen Ritte heim und brachten einen großen Wagen voll geraubter Kaufmannsgüter auf den Hof zu Holzendorf: "haben die Guder (so wird amtlich über den Vorgang berichtet) in dye Kirchen gedragen; moest der Gadesmann zvr Mitternacht die Kirchen auffslayssen; haben sy die Guder hynder den Kirchhoff achter der Mewren gedeylt". Ein ähnliches Verfahren wird als ebenfalls im Lande Stargard vorgekommen im J. 1533 von einem gefangenen Straßenräuber, der Genosse von Lehnleuten war, ausgesagt.

Bereits erwähnt ist die ehemals übliche Sitte, die Citationen des Consistoriums in Sponsalien und Ehesachen an den Kirchthüren anzuheften. Früherhin und um das Jahr 1520, da auch in Meklenburg die katholische Geistlichkeit ihre Gerichtsbarkeit auf weltliche Dinge, wie Schuldsachen, ausdehnte, wenn eine der Parteien ihr angehörte, wurden in solchen Angelegenheiten ebenfalls allerlei Citationen an den Pforten der Gotteshäuser befestiget 1 ) und häufig mit Androhung des Bannes verschärft, worüber sich z. B. Achim von der Lühe auf Kölzow, da er mit dem Bischofe Peter Wolkow zu Schwerin wegen Erbschaftshändel in Fehde lag, um das Jahr 1512 beschwerte. Noch im April 1620 läßt Prinz Ulrich, Administrator von Schwerin, ein Urtheil des dortigen Capitel=Gerichts in Injurien=Sachen zwischen dem Schelfvogt Jacob Junge und den Gebrüdern Legede, welche auf der Weinschenke des Capitels Händel gehabt,


1) Vergl Schroeder's Kirchenhistorie des evangel. Meklenburgs. Thl. I, S. 25.
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"an der Thumbkirch an die große Thur nach der Stadt werts affigiren vnd anschlagen". - Auch der Volkswitz scheint ehemals an den Kirchthüren sich ausgelassen zu haben, wie z. B. in Rostock, wo bei den Domstiftshändeln im J. 1486 auf die unbeliebten und verdächtigten Bürgemeister Kirchhof und Hasselbach durch Zeichnungen an den Pforten der Kirchen und des Rathhauses, welche Bilder gewöhnlich Galgen und Rad darstellten, hingedeutet ward. 1 )

Neben den Kirchen selbst werden in Meklenburg und den Nachbarländern die Kirchhöfe sowohl in den Städten, wie auf dem platten Lande als Schauplatz gerichtlicher und staatsrechtlicher Handlungen nicht minder des privatrechtlichen und gewerblichen Verkehrs bestimmt bezeichnet. Gerichtsacte auf den Kirchhöfen sind namentlich in größeren Städten, welche Bisthumssitze waren oder doch viele und reiche Kirchen besaßen, und wo die Stifts= und Capitels=Gerichte in der Nähe der Kirchen und Domhöfe Recht zu sprechen pflegten, nachzuweisen. Auch die Magistrate haben sich früher auf den Kirchhöfen amtlich versammelt, dort berathen oder daselbst gerichtliche und polizeiliche Vollstreckungen ausgeführt. In Bremen gab es um das Jahr 1300 einen "Schopenstol", Kaak, der auf oder dicht am Marienplatze stand. Ein enger Gang führte vom Dome zwischen dem erzbischöflichen Pallaste und dem Rathhause nach dem gen. Kirchhofe, wo bisweilen öffentliche Gerichtssitzungen stattfanden und ein Gefängniß stand. 2 ) Von Stralsund deuten die Chroniken etwas Aehnliches an, indem z. B. erwähnt wird: "Anno 1411 wurde erschlagen en Prester vmb sines velen Geldes willen, vnd dat dede sin egen Fruntschop, de hete van Soesten. Disser werd gefencklich ingetagen vnd erstlich op St. Nicolaus=Kerckhaue vp ene Ledder geseddet, Jedermann tho Hohn vnd Spott; darna wurd he in den Herrenstall beschmedet, allda doet tho hungern". 3 ) Hinsichtlich Rostocks bestimmt noch die Polizeiordnung v. J. 1576: "Wurde auch Jemand vnter der Predigt in der Kirche oder auff dem Kirchhofe Buberei treiben vnd darüber betroffen werden, soll er ins Halseisen daselbst etliche Stunden gespannet vnd verhalten werden." Auf den Kirchhöfen der Dome zu Schwerin und Lübeck sind noch bis in die neueren Zeiten Gerichtsacte, besonders strafpolizeiliche, vollführt worden und noch jetzt lassen sich Spuren von Kaak= oder Prangerstellen daselbst nachweisen. Auf dem Kirchhofe des Städtchens Wittenburg werden um das Jahr 1680


1) Vergl. Wettken, Geschichte der Stadt Rostock, S. 45.
2) Deneken, Geschichte des Rathauses zu Bremen, S. 14.
3) Mohnike und Zober Stalsund. Chroniken, I, S. 175.
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mehrmals Missethäter, welche Kirche und Umgebung beschädigt haben, mit dem Halseisen und dem "spanischen Kragen" bestraft.

Auf dem platten Lande Meklenburgs kommen noch im Laufe des 16. Jahrh. Gerichte "by der Linden vp dem Karkhove" vor, namentlich im Lande Stargard in mehreren Dörfern um das Jahr 1540. Das Landrecht des Alten Landes v. J. 1588 bestimmt im Artikel: "Van Twiepart: Wor ock Lüde im Lande twistig weren, de mögen de Landschwaren vp eren Karkhouen vordragen." 1 )

Der Huldigungsplatz im Lande Stargard lag am Kirchhofe des Gutes Kölpin, wie noch jetzt der Augenschein einigermaßen andeutet; v. Behr sagt bestimmt: "Im Stargardschen ward zu Kölpin unter der Linde am Kirchhofe Musterung gehalten." 2 )

Häufig hielt man während des Mittelalters und bis um das Jahr 1540 in staats= und privatrechtlichen, wie kirchlichen Dingen "Handlungstage" auf den Kirchhöfen, woher denn viele Urkunden am Schlusse die Angabe haben: "datum in coemiterio".

Chemnitz erzählt im Leben des Herzogs Heinrich des Friedfertigen von Meklenburg beim Jahre 1506 über den Verlauf der Fehde mit Lübeck, daß damals zu Herrnburg "die Herrn Unterhendler die mekl. Abgesandte auff den Kirchhoff vor sich gefordert" hätten. Im Jahre 1528 hält der Official Friedrich Suerker zu Friedland mit dem dortigen Burgemeister Hans Sundemann auf dem Kirchhofe eine amtliche Verhandlung in kirchlichen Sachen. In demselben Jahre findet zwischen mekl. Lehnleuten ein Handlungstag über Privatstreitigkeiten auf dem Kirchhofe zu Schwichtenberg statt. Ebenso hatten die Stargardschen Vasallen v. Helpte im Juni 1532 wegen eines Erbschaftsstreites mit dem Cleriker Liborius Schwichtenberg einen Vergleichstag auf dem Kirchhofe zu Eickhorst, wo aber die Verhandlung damit endigte, daß Jürgen v. Helpte den genannten Geistlichen zu Boden schlug und gefangen hinwegführte. In dem Streite zwischen dem Bisthum Ratzeburg und dem Herzoge Magnus zu Sachsen=Lauenburg wegen der ratzeburger Capitelsgüter ward am 10. Februar 1532 ein Theil der eingezogenen Güter feierlich rückerstattet, wobei "die Leute zu Slavestorp vor dem Kirchhofe wieder an das Capittel gewiesen wurden". 3 )

Ohne Zweifel hat die weitverbreitete altdeutsche Rechtssitte, unter freiem Himmel besonders auf Anhöhen und bei


1) Dreyers Vermischte Abhandlungen, Th., I, S. 532.
2) Jahrbücher des Vereins für meklenb. Geschichte, XI, S. 495.
3) Vergl. Schroeder's Evangel. Meklenburg, I, S. 67, 68.
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alten Bäumen Gericht zu halten, sodann aber die Geltung der Kirchhöfe als befriedeter Stätten auf die Gewohnheit, solche zu benutzen, den wesentlichsten Einfluß ausgeübt.

Am längsten hat sich die uns anstößige Sitte, Handels= und gewerblichen Verkehr auf den Kirchhöfen dicht vor den Pforten der Gotteshäuser zu treiben, in unseren Gegenden erhalten. Von der Macht des Herkommens getragen, hat sie die strenge didactische Richtung unserer protestantischen Kirche bis in die neuesten Zeiten gestattet. Ihren Ursprung hat sie theils im Anschlusse an die altkirchlichen Dinge durch Handel mit Gegenständen des katholischen Cultus, theils im Mangel an Räumlichkeiten in den enge gebaueten und dicht bevölkerten Handelsstädten gefunden.

Schon im dreizehnten Jahrhunderte wurden auf den Kirchhöfen vieler norddeutschen Städte kleinere Gebäude, wie Wohnungen für Pfarrer und Kustoden, auch Schulgebäude, Beinhäuser u. a. m. neben den Kirchen errichtet. In der folgenden Zeit ward dies mißbräuchlich ausgedehnt, indem man auch zu anderweitigen Zwecken Häuschen und Buden zwischen den Außenpfeilern der Kirchen und sonstig auf den Kirchhöfen bauete. Schlaffheit und Eigensucht der katholischen Geistlichen gestatteten dies, da die Innehaber jener Buden theilweise mit Rosenkränzen, Heiligen=Bildern und dergleichen handelten und in der Regel einen Miethszins an die Kirche erlegten. So sind allmälig fast alle Kirchen und Kirchhöfe zu Lübeck und Hamburg, Wismar und Rostock, Schwerin und Stralsund und an vielen anderen Orten durch niedrige, dürftige und nicht selten verfallende und schmutzige Anbauten entstellt und verunehrt worden. Manche Ueberbleibsel derselben haben sich noch das vorige Jahrhundert hindurch und bis in das unsrige erhalten, welches erst in den letzten Decennien mit größerer Beschämung und mit mehr Nachdruck, als unsere protestantischen Vorfahren gezeigt, nach Beseitigung dieses Bauunflathes gestrebt hat.

In Stralsund kommen schon um das Jahr 1300 Anbauten und Gemüsebuden auf den Kirchhöfen vor 1 ); zu Lübeck hatten sich im Laufe des 15. Jahrhunderts Amuleten=Krämer, Bilder= und Buchhändler ganz nahe den Kirchen seßhaft gemacht 2 ) und Bäcker und Schlachter ihre Schrangen theils auf den Kirchhöfen selbst, theils dicht am Rande derselben aufgeschlagen 3 ). Daß in Rostock und Wismar die Umgebungen der Kirchen


1) Vgl. Fabricius, Stralsund in den Tagen des Rostocker Landfriedens, S. 16.
2) Grautoff's histor. Schriften, Bd. I, S. 254.
3) Ebendas. S. 219 - 225.
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sich damals ähnlich gestaltet haben, geht aus schriftlichen Nachrichten wie bildlichen Darstellungen des sechszehnten Jahrhunderts hervor. In Rostock wurden zu jener Zeit auch die meisten städtischen Feuerlöschmittel auf den Kirchhöfen aufbewahrt, welche zugleich als Sammelplätze der Bürger in Feuers= und anderen Nöthen bestimmt waren.

Der in Folge der Niederlassungen von Buchhändlern, Kuchenbäckern, Fleischern und Goldschmieden vor den Pforten der Gotteshäuser stattfindende Verkehr fand zunächst in der vorwiegenden Geltung der kirchlichen Elemente, dem fast täglichen Gottesdienste, den vielen Kirchenfesten u. s. w. seine Nahrung. Zudem waren viele Kirchen am Markte oder doch demselben sehr nahe in der Mitte volkreicher Städte und also an sich dem Verkehre günstig gelegen. Sodann mag die ehedem herrschende Ansicht von der Steuerfreiheit der auf den Kirchhöfen befindlichen Wohnungen auf die Vermehrung solcher Anbauten eingewirkt haben. Gewiß ist, daß in Meklenburg, als beim Steigen der Staatsbedürfnisse um die Mitte des 16. Jahrh. zur Tilgung der landesherrlichen Schulden eine nachhaltige Besteurung der Unterthanen eingeführt wurde, sich ausdrückliche Bestimmungen über diesen Punct vorfinden. So heißt es z. B. in dem meklenburg. Contributions=Edicte vom 1. Nov. 1572: "in diese Contribution der Steuern vnd Hülffen sollen auch mit eingezogen werden die Häuser vnd Wohnungen, so auf den Kirchhöfen vnd andern Orten gelegen vnd bishero frey gewesen." Ferner wird hier der Umstand von Einfluß gewesen sein, daß im ersten Zeitalter der Reformation manche Prediger der neuen Lehre beim Widerstande des katholischen Clerus, der ihnen die Kirchen verschloß, öfter veranlaßt waren, auf den Kirchhöfen unter freiem Himmel ausführliche und polemische Vorträge dem Volke zu halten. Daß dies in Meklenburg z. B. zu Rostock, Ribnitz 1 ) u. a. O. um das Jahr 1526 mehrfach geschehen sei, wird von Zeitgenossen gezeugt. In Folge dessen trieb sich viel niederes Volk Stunden, auch wohl Tage lang auf den Kirchhöfen umher, wo es neben der geistigen zugleich nach leiblicher Speise verlangte. Ebenso war es bei dem damals noch üblichen privatrechtlichen und öffentlichen Geschäftsverkehr in den Kirchen, der, wie wir bereits erwähnt haben, noch um die Mitte des 16. Jahrh. z. B. zu Rostock bisweilen sehr zahlreiche und aufregende Zusammenkünfte der Bürger mit sich brachte, wobei es ohne Erfrischungen nicht abging.


1) Vgl. Schröders Evangel. Meklenburg, S. 113, 118.
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Dem entsprechend findet man in der kirchlichen Gesetzgebung Meklenburgs um die Mitte des 16. Jahrhunderts Bestimmungen, welche auf Ausschweifungen in dem den Kirchen allzu nahe gerückten weltlichen Treiben unverkennbar hindeuten. So heißt es z. B. in der Anweisung zu der allgemeinen meklenburg. Kirchen=Visitation vom Jahre 1552 und in der zur Visitation im Lande Stargard vom Jahre 1560:

"Es sollen auch die Jahrmärkte oder Kirchmessen auf den Sonntag oder Festtagen zu halten abgeschaffet, vnd das Brandtewein= vnd Bierschenken auch Spazierengehen in den Kirchen, auf dem Kirchhoue oder fur dem Thore, weil man in der Kirchen singet oder prediget vor Essenszeit bei einer namhaftigen Poene vorbotten sein."

Die Consistorial=Ordnung vom Jahre 1570 bestimmt in Titel III, daß die Jurisdiction des Kirchengerichtes unter Andern eintreten soll, "wenn in den Kirchen oder auff den Kirchhofen Vnzucht, Freuel oder sonsten etwas ungeburliches Mutwillens begangen wurde." Ebenso bebroht die Rostocker Polizei=Ordnung vom Jahre 1576 diejenigen, welche während der Predigt in den Kirchen oder auf den Kirchhöfen "Buberei" verüben, mit dem Halseisen. Aehnliche Bestimmungen finden sich in Pommern und in in mehreren nahen Hansestädten und erscheinen dort, wie auch in Meklenburg, theilweise noch später. Wirklich beweisen noch aus neueren Zeiten actenmäßige Nachrichten ziemlich häufige Niederlassungen von Krämern, Bäckern, Wein= und Bierschenkern in bedenklicher Nähe der Kirchen sowohl in Städten, wie auf dem platten Lande Meklenburgs. Besaß doch selbst das Dom=Capitel zu Schwerin eine am Domkirchhofe daselbst belegene Weinschenke, welche besonders in der Mitte des 17. Jahrh. nicht selten der Schauplatz von Gelagen war, in deren Folge Raufereien entstanden, die auf dem nahen Kirchofe ausgefochten wurden. Daß zu derselben Zeit in unsern Seestädten ein häufiger unziemlicher Verkehr zwischen den nahe am Markte belegenen Kirchen und den eben dort befindlichen Apotheken und Rathskellern zumal in den Morgenstunden stattfand, wird in gleichzeitigen Acten behauptet. Auf dem platten Lande Meklenburgs gab es z. B. in der Gegend von Wittenburg und Boizenburg um das Jahr 1670 einzelne Landkirchen, die auf oder dicht an den Kirchhöfen Wittwenhäuser hatten. In mehreren derselben trieben die Wittwen und zwar besonders an Sonntagen kleine Krämerei und schenkten dabei Bier und Branntwein aus, welches Geschäft sie "zu ihrer bessern Erhaltung" ergriffen hatten, wie sie auf Anzeige der benachbarten

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Städte aussagten. Auch heißt es in einer Beschwerdeschrift der Stadt Wittenburg vom 13. Juni 1708 unter Andern: "3. Beschweren sich die Becker, daß in der Nachbarschafft undt in specie zu Zarrenthin und Pritzier sich einige Becker zu wohnen gesetzet, die allerhandt Weißbrodt backten undt - vor den Kirchthüren damit außstünden." Doch dieses und Aehnliches haben wir noch in unserm Jahrhunderte in manchen größeren Städten, wie zu Schwerin und Lübeck, wo noch um das Jahr 1820 Kuchen= und Buchbinder=Buden in oder sehr nahe bei den Kirchen sich befanden, wahrgenommen und noch heute zeigt uns "Meklenburg in Bildern" 1 ) einen stattlichen Fleischschrangen am Fuße des schönen Thurmes der Marien=Kirche zu Rostock.

In der wenig geregelten und sorglos ausgeführten Beseitigung 2 ) der meisten altkirchlichen Kunstwerke im ersten Reformations=Zeitalter, in der Jahrhunderte hindurch fortdauernden Zulassung von formlosen und ärmlichen An= und inneren Ausbauten der protestantischen Kirchen, so wie in der lässigen Gestattung des weltlichen Alltagsverkehrs vor den Pforten der Gotteshäuser ist Mangel an kirchlichen Würde, Mangel an Pflege der kirchlichen Interessen von Seiten des Staates, der doch die kirchliche Lehre beschränkend überwachte, wie Mißachtung der Kunst nicht zu verkennen. Es darf nicht verhehlt werden, daß guten Theils im Gefolge dessen eine niedrige und schändliche äußere Verunehrung die protestantischen norddeutschen Kirchen und ihre nächsten Umgebungen betroffen hat. Man hat Kirchen und Kirchhöfe nicht bloß baulich entstellen, sondern auch baulich verfallen lassen. Dann hat man, selbst an Orten hoher Stifte, stehende "Bauhöfe" und Lagerplätze an den Grundmauern der Kirchen angelegt. Man ist mit dem Beispiele der Häufung von Schutt und Schmutz auf den geweiheten Kirchhöfen vorangegangen, ein Beispiel, welches die Abstumpfung und Schamlosigkeit des niedern Volkes in den seit der Mitte des 17. Jahrh. verdumpften und verarmten Städten allerdings noch übertroffen hat. Endlich hat man in der "Aufklärungs=Periode" (1750 - 1806) "pflichtmäßig" die zum Theil noch schmuckreichen alten Kirchenmauern mit Kalk und Schmutzfarben übertünchen lassen.


1) Meklenburg in Bildern, herausgeg. von Lisch, Jahrg. 1844.
2) Nach der Anweisung des Herzogs Joh. Albrecht I. für die Kirchen=Visitatoren vom Jahre 1552 sollen die (nicht anstößigen) Bilder in den Kirchen an die Wände genagelt, die "schedtliche vnd ergerliche Bild" ("so man hat pflegen anzubethten") aber hinweg geschafft werden. Nach gleichzeitigen Acten war vielen Visitatoren das Zerschlagen und Zerreißen der Kunstwerke nicht genügend; die Trümmer mußten verbrannt werden.
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Diese äußere Verunehrung der protestantischen Kirchen und Kirchhöfe hat im sechszehnten Jahrhunderte begonnen, jedoch erst später in den heillosen Zeiten, welche dem Schlusse des dreißigjährigen Krieges folgten, da in Frankreich das "goldene Zeitalter" blühete, überhand genommen. Schon die rostocker Polizei=Ordnung vom Jahre 1576 sagt: - "so sollen die auf den Kirchhoffen angetroffene Schweine zum ersten vnd andern Mahl gepfendet vnd zum dritten Mahl in die Gottesheuser gebracht, geschlachtet vnd vnter die Armen daselbst außgetheilt werden." Alle Redactionen des revidirten lübischen Rechts schärfen die Bestimmung in Bausachen ein: " Priuet oder Heimlichkeiten sollen den Kirchhoffen neher nicht, denn auff 5 Fuß gebawet werden." Die wismarsche Bürgersprache vom Jahre 1610 schreibt in §. 4. vor: Niemand soll die Kirchhöfe verunreinigen, auch ein Jeder sein Vieh davon abhalten; und in §. 10.: Niemand soll Misthaufen an den Kirchhöfen liegen haben. Aber das Bild der protestantischen Kirchen und ihrer Höfe in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird durch Thatsachen nur zu bestimmt bezeichnet. So liefen nach amtlichen Berichten auf dem Domkirchhofe zu Schwerin im Jahre 1680 täglich Schweine und Gänse umher; in der Kirche selbst wurden sogar an Sonntagen die Gänge und Stühle durch den Koth "gottloser Buben" verunreinigt und die Schlösser und Gehänge von den Stuhlthüren und Klappen abgebrochen. Gleichzeitig lag z. B. der Kirchhof zu Wittenburg durch Jahrzehnte (sicher 1673 - 1688) unbefriedigt, so daß "großes und kleines Vieh" die Gräber durchwühlte und beschmutzte, zuweilen auch in die Kirche selbst eindrang. Im Jahre 1698 hatten "gottlose böse Leute" todte Schweine auf den Domkirchhof zu Schwerin geworfen, wo sie Tage lang die Luft verpesteten. Um das Jahr 1710 nahm das Tragen "von allerhand Mist" an denselben Ort überhand und im Jahre 1731 ward zu Schwerin zum vierten oder fünften Male von der Kanzel des Domes herab das Verbot erneuert: "auf dem Kirchhoffe und in denen Kreutzgängen allerhandt Außkehrigt und Schuttwerck, auch wohl Mist und Unflath hinzubringen und niederzuwerfen." Ganz dieselbe "unaufhorliche freche Verunreinigung" der Kirchen und Kirchhöfe fand damals und in noch späterer Zeit in vielen anderen Städten nach amtlichen Berichten statt, wie denn das Ablagern von Auskehricht und Koth auf dem Domkirchhofe zu Güstrow so arg war, daß wiederholte und geschärfte landesherrliche Polizeierlasse, wie ein solcher noch unter dem 29. März 1780 erging, dem Unwesen lange Zeit wenig erfolgreich begeg=

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neten. Daß Eigennutz und Willkühr der unzulänglich überwachten Kirchen=Oeconomie=Beamten, so wie der tiefe Verfall der Kirchen= und Schulzucht am Schlusse des vorigen und im Anfange unsers Jahrhunderts auch in dieser Beziehung, dem Wesen der "Aufklärungs=Periode" entsprechend, noch mitgewirkt haben, wird durch Acten, wie durch das Zeugniß von Mitlebenden außer Zweifel gesetzt.

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