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IV.

 

Rerik

 

von

Willy Krogmann.

 

Vignette
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Nachdem Robert Beltz 1934 in einem in den "Mecklenburgischen Monatsheften" 1 ) erschienenen Aufsatz die Vermutung ausgesprochen hatte, daß der früher Schloßberg genannte Schmiedeberg im Ostseebad Alt-Gaarz der Überrest der Burganlage der alten nordischen Handelssiedlung Rerik sei, und dann nach den Grabungen im Mai 1935 zu der Überzeugung gelangt war, daß er in dem auf einen natürlichen Kieshügel aufgeschütteten Burgwall tatsächlich Rerik wiedergefunden habe, hat der Reichsstatthalter und Gauleiter von Mecklenburg Friedrich Hildebrandt, als er der Gemeinde Alt-Gaarz nach der Eingemeindung von Wustrow mit Wirkung vom 1. April 1938 das Stadtrecht verlieh, Alt-Gaarz in Rerik umbenannt. Damit ist ein Name aus der Frühzeit der deutschen Geschichte der Vergessenheit entrissen, zugleich aber auch die Frage nach seiner Bedeutung aufgeworfen worden.

In seinem Aufsatz "Rerik, die Wikingerburg" 2 ) hat sich Walther Matthey als erster um eine Antwort bemüht. Er findet an der Nordküste der dänischen Insel Seeland eine Ortschaft Rörvig, deren Lage ihn ganz auffällig an die von Alt-Gaarz erinnert, da sie, wie er behauptet, an einer schmalen Durchfahrt zu einem breiten Haff liegt. Ferner begegnet ihm auf der norwegischen Insel Viken, und zwar angeblich ebenfalls an einer schmalen Durchfahrt, der Ort Rörvik. Den dänischen und norwegischen Namen, den er als "Hafenbucht an einer schmalen Durchfahrt" erklärt, gleicht er mit Rerik. "In


1) S. 322 ff.
2) Rostocker Anzeiger 58. Jahrg. (1938) Nr. 77.
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der Mundart friesischer Seefahrer", meint er, "die nicht selten von Dorstede rheinaufwärts bis Mainz gelangten, konnte wohl das nordgermanische Rörvik zu Rerik werden."

Einen zweiten Deutungsversuch hat Robert Beltz selbst in seinem Aufsatz " Rerik und Thrasiko. Zwei Namen unserer frühesten Geschichte" 3 ) unternommen. Schon in seiner ersten Veröffentlichung hatte er gemeint, daß der Name Rerik schwedisch klinge, und bemerkt, daß in Schweden fast gleiche Namen vorkämen. Auch jetzt betont er, daß im Nordgermanischen verwandte Namensformen allgemein seien, wobei er auf die Personennamen Berik, Horich, Roric, Ruric und Göttrik verweist. Ein nord. + Rörekr liegt seines Erachtens Rerik voraus. Klar ist ihm das zweite Glied -rik = germ. + rika- "mächtig, reich". In re- scheint ihm jedoch eine Verkürzung vorzuliegen. Vielleicht soll es aus + reiki- "Reich, Herrschaft", entstanden sein, sodaß der ganze Name "an Herrschaft mächtig" oder "großmächtig" bedeuten würde. "Daß ein Personenname als Ortsname eintritt", erklärt er noch, "hat nichts Befremdendes und ist gerade in slawischem Sprachgebiet allgemein. Die Namen auf -an (Schwaan, Rogahn, Vellahn usw.) und -un (Dargun usw.) sind durchgängig ursprünglich Personennamen."

Beide Deutungen befriedigen nicht. Vollends die Ansicht von Robert Beltz ist aus sprachlichen Gründen unannehmbar. Sie scheitert schon daran, daß der Ortsname nicht als Personenname angesprochen werden darf. Der Hinweis auf slawische Ortsnamen, die Personennamen darstellen, ist ohne Belang, da Rerik ja nicht slawisch, sondern germanisch ist. Im Germanischen werden aber Personennamen nicht unmittelbar als Ortsnamen gebraucht. Überdies könnte selbst ein Personenname + Rerik nicht "an Herrschaft mächtig" oder "großmächtig" bedeuten. Ich sehe nicht, wie Beltz sich die Entstehung von re- aus + reiki- denkt. Wir brauchen uns um diese Herkunft aber umsoweniger zu bekümmern, als es im Germanischen ein + reiki- überhaupt nicht gibt. Die Grundform von nhd. Reich ist vielmehr german. + rikja-.


3) Monatshefte f. Mecklenburg 1938 S. 220 ff.
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Anfechtbar ist auch die Erklärung Walther Mattheys, selbst wenn wir ganz davon absehen, daß die von ihm vorgetragene Deutung des dänischen und norwegischen Namens auf das frühere Art-Gaarz keineswegs zutreffen würde. Zwar läßt sich die Annahme, daß Rerik aus der altnord. Entsprechung von dän. Rörvik, norw. Rörvik entstellt sei, nicht unmittelbar widerlegen, doch ist nicht ersichtlich, weshalb eine solche Umbildung erfolgt sein sollte. Daß Matthey sie auf Rechnung friesischer Seefahrer setzt, erhärtet sie jedenfalls nicht, da das Friesische keine besonderen Voraussetzungen für den Lautwandel bietet. Mag man aber auch zugeben, daß sie allenfalls möglich ist, so wird man einer Deutung des Ortsnamens den Vorzug geben müssen, die von der überlieferten Form Rerik ausgeht. Daß sie zur Annahme einer Verderbnis keinen Anlaß bietet, glaube ich jedoch zeigen zu können.

Der Name Rerik wird nur zweimal in den Einhard zugeschriebenen Fränkischen Reichsannalen erwähnt. In ihnen wird unter dem Jahre 808 berichtet, daß der Dänenkönig Göttrik gegen den mit Karl verbündeten Obodritenfürsten Thrasiko 4 ) zu Felde zog, vor seiner Rückkehr einen Handelsplatz an der Seeküste zerstörte, der "lingua danica" Rerik hieß und dem Reiche durch die Zahlung von Abgaben großen Vorteil brachte, die Kaufleute von dort fortführte und zu Schiff mit dem ganzen Heere nach dem Hafen Sliesthorp (= "Dorf an der Schlei") gelangte. Außerdem wird unter dem Jahre 810 angegeben, daß Thrasiko auf Anstiften König Göttriks in Rerik ermordet wurde.

Die Angabe, daß Rerik ein dänischer Name gewesen sei, wird durch die geschichtlichen Ereignisse gestützt. Offenbar hat König Göttrik die Kaufleute nach Haithabu verpflanzt und die Handelsstadt im Gebiete der Obodriten wenigstens teilweise zerstört, weil seine Landsleute und der Ort nach seinem Feldzug gegen Thrasiko gefährdet waren.


4) Daß Thrasiko ein Germane gewesen sei, läßt sich gegen Beltz aus seinem germanischen Namen nicht erschließen. Ebensowenig spricht ja das Auftreten keltischer Namen im germanischen Bereich für keltisches Volkstum.
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Bei der Bestimmung der dänischen Namensform müssen wir bedenken, daß der Schreiber der Fränkischen Reichsannalen ihre Lautung mit den Mitteln seiner Schreibweise wiedergab und daß sie vielleicht schon von seinen Gewährsleuten mundgerecht gemacht worden war. Hatten sie auch keinen Anlaß, ein -vik in ein -ik zu verwandeln, so braucht doch das -e- nicht ursprünglich zu sein. Hinter einem langen e namentlich kann auch altdän. ø oder øy stehen, das einem geschlossenen ø zum mindesten schon sehr nahe stand, wozu es sich bald entwickelte. Da es im Althochdeutschen für diesen Laut kein Zeichen gab, war der Ersatz durch e nur geboten.

Überprüfen wir den germanischen Wortschatz, so sind wir in der Tat gehalten, hinter dem überlieferten Rerik ein altdän. + Røyrik oder daraus entwickeltes + Rørik zu suchen, was übrigens hinsichtlich des ø ja auch Matthey und Beltz wollen. Nur ein altdän. + Røyrik läßt sich nämlich sprachlich rechtfertigen. Ja, es findet sogar im altengl. -ryric = + -rieric "Rohr" seine unmittelbare Entsprechung.

Das altenglische Wort ist im Gedicht über den Walfisch in der Zusammensetzung sæx-ryric "Seerohr" belegt. In ihm heißt es Vers 8 ff., daß das Aussehen des Wales einem rauhen Felsen gleiche und daß es sei, als ob an der Küste des Meeres, von Sanddünen umgeben, das größte Seerohr (særyrica mæst) schwanke, sodaß die Seefahrer glaubten, daß sie mit den Augen auf irgendeine Insel schauten.

Altengl. -ryric ist eine Ableitung von german. + rauza- "Rohr" in got. raus, altisländ. reyrr, altschwed. rør. neuschwed. rør, neugutn. royr, neudän. rør, mittelniederdeutsch, althochdeutsch ror. Der vielfach anzutreffende Vergleich mit althochdeutsch rorahi "Röhricht" 5 ) ist allerdings unzutreffend, da das Germanische kein Kollektivsuffix auf -k- kennt. Daß wir es bei altengl. -ryric nicht mit einem Kollektivum zu tun haben, lehrt ja auch die pluralische Verwendung. In Wahrheit teilt der Ausdruck mit Pflanzennamen wie altengl.


5) Vgl. Grein-Köhler, Sprachschatz der angelsächsischen Dichter (1912) Sp. 564a; Holthausen, Altenglisches etymologisches Wörterbuch (1934) S. 259.
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cammoc, neuengl. cammock "Schwefelwurzel, Himmelsdill, Roßkümmel, Saufenchel (Peucedanum off.)" und altengl. hassuc, neuengl. hassock "rauhes Gras" das deminutive Suffix german. -ika-,-uka-. Daß dieses auch den nordischen Sprachen nicht fehlte, zeigen etwa altschwed. stjælke "Stengel" neben ablautendem mittelengl. stalke und Kosenamen wie altisländ. Sveinki, Brynki, Gjuki = altengl. Gifeca, mittelhochdeutsch Gibeche. German. + rauzika- ist genau so wie altengl. cammoc und hassuc ein Pflanzenname. Das Suffix bringt nur zum Ausdruck, daß es sich beim "Rohr" um dünne "Röhren" handelt.

Der Ortsname Rerik = + Røyrik ist demnach nicht durch "Röhricht", sondern einfach durch "Rohr" wiederzugeben, wobei jedoch zu bedenken ist, daß es sich bei ihm trotzdem um eine kollektive Bezeichnung handelt. Er entspricht dem häufigen deutschen Namen Rohr, den beispielsweise ein Ort im Kreise Schleusingen trägt, für den er 816 als Ror und 824 und 826 dativisch als Rora, Rore bezeugt ist 6 ).

In Übereinstimmung mit Rerik = + Røyrik "Rohr" werden auch die von Matthey angezogenen Ortsnamen dän. Rörvig und norw. Rörvik als "Rohrbucht" zu verstehen sein. Mattheys Auffassung kommt umsoweniger in Betracht, als die beiden Orte in Wahrheit gar nicht an einer röhrenförmigen Durchfahrt liegen.

Sachlich ergeben sich keine Bedenken gegen unsere Deutung des Namens Rerik = + Røyrik. Das Schilfrohr (Phragmites communis Trin.) ist als "Brakwasserröhricht" an geschützten Buchten der Ostsee gut entwickelt und fehlt sogar an der Nordseeküste nicht. Auch der altenglische Beleg zeugt ja hiervon. An der ostpreußischen Küste ist die salzliebende Vegetation zwar wenig ausgebildet, da im wesentlichen nur Dünen und Steilabstürze mit einer schmalen Sandstrandzone die Küste begleiten, doch finden sich in Pommern, Mecklenburg und Schleswig-Holstein Salzsümpfe und salzige Wiesen mit Brackwasser-


6) Vgl. Förstemann-Jellinghaus, Altdeutsches Namenbuch II. 1 (1910) Sp. 551 f.
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röhricht in recht beträchtlicher Ausdehnung 7 ). In Pommern begegnet es so im brackigen Wasser der ostpommerschen Strandseen, vor allem jedoch an den Ufern des Stettiner Haffs, in den Bodden der Insel Rügen und hinter dem Darß. In Mecklenburg treffen wir es beispielsweise an der Wismarschen Bucht und gerade auch am Salzhaff. Das letzte Vorkommen läßt die Ansicht von Beltz über die Lage von Rerik somit wenigstens als möglich erscheinen. Daß heute Schilfrohr nur noch spärlich am Hafen des früheren Alt-Gaarz wächst, ist ohne Bedeutung, da es ihm um 800 durchaus sein Gepräge gegeben haben kann.

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7) Vgl. Kurt Hueck, Pflanzengeographie Deutschlands (1935/36) S. 29 f.; Willi Christiansen, Pflanzenkunde von Schleswig-Holstein (1938) S. 55 ff.