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V.

Rostocker
Ehen in alter Zeit.

Von
Pastor Friedrich Schmaltz =Bremen=Oslebshausen.

 

Vignette
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Bei meiner Beschäftigung mit Rostocker Familiengeschichte, die sich im wesentlichen auf die Zeit vom Anfang des 14 bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts bezog, habe ich in steigendem Maße meine Aufmerksamkeit auf alles gerichtet, was ein Licht auf das in der Überschrift bezeichnete Gebiet wirft. Was sich mir da ergeben hat und was ich nun im folgenden zusammenstelle, wird freilich den einigermaßen mit den gesellschaftlichen Zuständen der Vergangenheit Vertrauten schwerlich Neues bringen, nur neue Belege für Wohlkekanntes. Aber da diese Belege aus der Geschichte Rostocker Familien genommen sind, werden sie für die Mecklenburger doch vielleicht nicht ohne Interesse sein. Es ist doch immer ein Stück längst vergangenen Lebens unserer Stadt, das da seine Augen wieder aufschlägt.

Was sich mir zunächst aufdrängte, war der Eindruck außerordentlicher Heiratsfreudigkeit bei unseren Altvorderen. Freilich ist die Zahl der unverehelicht Bleibenden zumal im Mittelalter nicht gering. Wohl in keinem der alten vornehmen Rostocker Geschlechter fehlen die Söhne, die Priester - viel seltener Mönche - werden, oder die Töchter, die ins Kloster gehen. Auch in der evangelischen Zeit fehlt es nicht an unverehelicht bleibenden Jungfern, wenn sie auch sicher seltenere Erscheinungen sind als heutzutage. Und erst recht scheinen Hagestolze, wie etwa Caspar Elers († 1637), indessen Leichenprogramm sorgfältig die Beschwerden und Sorgen des ehelichen und ehelosen Gebens gegeneinander abgewogen werden (natürlich mit dem Ergebnis, daß das eheliche Leben daran reicher sei) oder der Jurist Caspar Nettelbladt († 1660) und der Rektor Magister Heinrich Friese († 1745), Ausnahmen geblieben zu sein. Bemerkenswert erscheint es übrigens, daß im Mittelalter in den großen reichen Ratsfamilien nicht selten männliche Mitglieder begegnen, die, in engster Besitz- und Erwerbs-Gemeinschaft mit ihren Brüdern und deren Kindern stehend, von diesen beerbt werden, also ohne Leibeserben sind Natürlich kann es Zufall sein, daß über ihr Verheiratetsein keine Nachricht in den Urkunden erhalten ist, aber das Wahrscheinlichere ist doch, daß sie wirklich ehelos blieben. Man hat den Eindruck, daß dies geschah, um einer Zersplitterung des Familienvermögens vorzubeugen, wie etwa jetzt noch in reichen katholischen Bauernfamilien jüngere Geschwister aus diesem Grunde geistlich

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werden. So ist es der Fall bei Gerhard Wulf († nach 1398), Bruder des Ratmanns Johann Wulf, Heinrich Kruse († 1368/69), Bruder des Ratmanns Ludwig Kruse; Peter Frese († 1474), Bruder des Ratmanns Johann Frese und der Wobbeke Preen; vielleicht auch bei Arnold Hasselbek († nach 1427), Bruder des Hermann Hasselbek; Bertold Rode († 1380/1), Bruder des Ratmanns Gerhard Rode, und den beiden Kerkhoffs, Heinrich († 1464) und Hans († vor 1521).

Im allgemeinen aber ist es nicht nur selbstverständlich, daß der gesunde Erwachsene heiratet, sondern die Witwer und Witwen heiraten zumeist bald wieder, "nach der von der Natur und Sitte vorgeschriebenen Zeit". Von 441 Männern, die mir aus den Stammbäumen und Stammbaumbruchstücken Rostocker Familien bekannt wurden und bei denen sich die Feststellungen mit einiger Sicherheit machen ließen, waren 259 einmal, 155 zweimal, 24 dreimal, 2 viermal und einer, nämlich der Bürgermeister Jacob Diesteler, † 1702, fünfmal verheiratet. Von den 259 nur einmal Verheirateten starben 193 vor der Frau, kamen also für eine zweite Ehe gar nicht in Frage, 25 überlebten die Frau; bei 41 ließ sich nicht feststellen, wer zuerst starb. Nehmen wir nun auch an, daß 30 von diesen 41 die Frau überlebten, so ergäbe sich immer noch, daß von 237 Witwern nur 55 nicht wieder heirateten. Von 633 Frauen waren 380 nur einmal verheiratet, 226 zweimal, 27 dreimal. Unter den letzteren ist z. B. auch die erste Rostocker Pfarrfrau, die Frau des Reformators Jochim Slüter, Katharina, die Tochter des Kleinschmieds Hans Gele, die nach ihm noch die beiden Bruchfischer Jochim Buck und Hans Wilms geheiratet hat. Unter den 380 einmal Verheirateten sind 139 vor dem Ehemann verstorben, 167 überlebten ihn, bei 74 mußte die Frage, wer länger lebte, unentschieden bleiben. Rechnen wir, daß von letzteren etwa 50 den Mann überlebten, so ergäbe sich, daß von 470 Witwen nur 217, also weniger als die Hälfte, unverheiratet blieb 1 ). Und zwar waren nicht nur für junge, sondern ebenso auch für ältere und alte Witwen die Heiratsaussichten noch recht erheblich. In wie hohem Maße man damit rechnete, daß eine Witwe auch höheren Alters wieder heiratete, zeigt das Leichenprogramm der


1) Es muß darauf hingewiesen werden, daß es bei den Frauen, wenn sie nur überhaupt wieder in den Urkunden vorkommen, sich fast notwendig zeigen muß, ob sie inzwischen verwitwet oder wiederverheiratet sind, während das bei den Männern durchaus nicht der Fall zu sein braucht. Es mögen daher unter den Fällen, wo nicht festzustellen ist, wer den andern überlebte, wie unter den Fällen, wo überhaupt nicht ausreichende Feststellungen zu machen waren, verhältnismäßig mehr solche sein, in denen der Mann die Frau überlebte. Bei der Art der Quellen, die zumeist benutzt werden mußten, ist es ja überhaupt immer mehr nur ein Zufall, wenn wir über die Eheverhältnisse zumal der Männer ausreichend Sicheres erfahren. Bei einem Mann z. B., der so unzählig oft in privaten und öffentlichen Angelegenheiten in den Urkunden erscheint, wie der Bürgermeister Arnold Kröpelin († 1393/95), wissen wir überhaupt nur daraus, daß er legitime Kinder hinterließ, daß er verheiratet war. Mit wem und wie oft? Das erfahren wir nicht. Immerhin mögen die obigen Zahlen ein einigermaßen zutreffendes Bild geben.
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Emmerentia Kirchhof, der letzten Namensträgerin dieses alten Geschlechtes († 1644). Sie wird darin höchlichst gepriesen, daß sie nach dem Tode ihres Mannes, des Provinzialgerichtsrates Jakob Hein, den sie um 10 Jahre überlebte, zu keiner weiteren Ehe Schritt: Dadurch habe sie sich einer Cornelia, Valeria und anderen Musterfrauen an die Seite gestellt, wie denn auch die alten Römer die Palme der Keuschheit denen erteilt hätten, die sich mit einem Manne begnügt hätten. Dabei war sie bei Heines Tode bereits 64 Jahre alt und 43 Jahre lang mit ihm verheiratet gewesen! Es waren natürlich in erster Linie wirtschaftliche Rücksichten, die zu diesen zahlreichen Wiederverheiratungen führten. Für viele Witwen wird es geradezu eine Notwendigkeit gewesen sein, nach einem zweiten Manne auszuschauen, der das Geschäft des Verstorbenen aufrechterhalten und fortführen und so ihre und ihrer Kinder Versorgung sicherstellen konnte. Auch die Witwen von Beamten und Pastoren waren vielfach für ihre Versorgung auf eine zweite Ehe angewiesen. Gewiß gab es Witwen genug, die das Gewerbe ihres Mannes mit Geschick und Tatkraft weiterführten. So z. B. jene Anna Beselin, die Witwe des Bürgermeisters Bernd Pauls, die, wie ihr Stiefsohn betont, "im Rechnen und Schreiben wohl erfahren, eine verständige matrona gewesen, so ihre Nahrung mit Kornkaufen, Mälzen und Brauen stark getrieben bis auf ihren tötlichen Abfall" (1613); so auch Elisabet Dankwertz, die Witwe des Kaufmanns Jochim Pentzin, die so wohlhabend und so tüchtig in der Besorgung der wirtschaftlichen und geschäftlichen Dinge war, daß ihr zweiter Mann Johann Christoffer Kilian seine Zeit ganz seinen mathematischen Studien und den städtischen Angelegenheiten - er wurde 1694 Senator - widmen konnte. Anna Beselin heiratete freilich noch einmal, den Bürgermeister Jakob Lembke, aber der Heiratsvertrag wahrt in hohem Maße ihre Selbständigkeit: Beide wollen je 1000 Gulden zur gemeinsamen Nahrung einbringen, beider Hopfengärten und auch des Bürgermeisters Amtseinkünfte gemeinsam benutzen,

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auch zieht der Bürgermeister in der Braut Haus und benutzt es mit der Gewandschneide (Tuchladen) und Kessel, Grapen usw., aber alle anderen Güter bleiben getrennt. So führt auch Anna Sossenheimer († 1575), die Witwe des Wandschneiders und Ratmanns Johann Grote († 1557), das Geschäft ihres Mannes weiter. In einem Reichs-Kammergerichts-Prozeß wird eine Zitation, deren Annahme sie verweigert, "auf den Tisch, da sie Gewand abzuschneiden pflegt", niedergelegt. Daraus ersehen wir zugleich, daß diese vornehme und reiche Dame 2 ) ihre Kunden selbst bediente, was übrigens Dietz in seiner Frankfurter Handelsgeschichte auch für die Heimatstadt ihres Geschlechtes von den dortigen Patriziern nachweist.

So gab es Witwen genug, die, obwohl sie ihre Männer lange Jahre überlebten, zu keiner zweiten Ehe Schritten, "ihren Witwenstuhl nicht verrückten": Metke Make († 1594), die Witwe des Claus Frese, die 40 Jahre Witwe war, Geseke († 1508/21), die Witwe des Bürgermeisters Kord Köne; Geseke von Cölln († 1510/12), die des Konrad von Gnoien; Anneke Willems († nach 1540), die des Ratmanns Johann Frese; Anna Kahle († 1627/32), die des Schiffers Tietke Detloff, die 30 Jahre und darüber als Witwen lebten. Daraus, daß Frauen selbständig und tatkräftig in langem Witwenstande die Erziehung der Kinder, die Fortführung des Geschäfts und des Hauswesens in die Hand nahmen, erklärt sich auch, daß nicht nur in der Zeit, wo die Familiennamen erst vereinzelt auftreten, Männer gleichen Vornamens häufig durch Hinzufügung des mütterlichen Taufnamens voneinander unterschieden werden 3 ), sondern daß dann solche weibliche Vornamen


2) Sie brachte ihrem Manne außer Grundbesitz in der Stadt das Gut Harmsdorf und die Nutzung der halben Warnow bis zur Brücke in Schwaan und daran liegende Wiesen zu. Ihre Familie hatte in Frankfurt a. M. den vornehmsten Geschlechtergesellschaften der Frauensteiner und Alt-Limpurger angehört und galt als adlig, wie ihr Vater allgemein in Rostock Junker Cuntz genannt wurde, nebenbei ist sie, soweit mir bisher bekannt, die einzige unter den Rostocker Frauen, die nicht wie die übrigen mit ihres Mannes Siegel, sondern mit ihrem eigenen, das ihr Wappen und ihre Initialen zeigt, siegelt.
Es erscheint übrigens nicht überflüssig, zu bemerken, daß Wand- oder Gewandschneider Tuchhändler sind, die dem ersten Stande angehören und ratsfähig sind, nicht etwa, wie oft angenommen wird, Leute, die das Schneiderhandwerk betreiben. Diese heißen Schneider oder in früherer Zeit Schröder.
3) So werden auch in späterer Zeit noch Henneke Wulf und Claus Frese als Nelleken, bez. Metken Sohn von gleichnamigen Vettern unterschieden. Beide Frauen waren lange Zeit Witwen.
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als Familiennamen sich weiter vererben. So geht z. B. die um 1300 blühende Familie Lise, gelegentlich auch mit dem vollen Namen Elisabeth benannt, auf einen Hermannus dominae Lyse Hermann Sohn der Frau Lise, zurück, der 1279 im Rat sitzt.

Aber nicht alle Witwen waren so geschäftstüchtig wie die oben genannten. Mancher mag es ähnlich gegangen sein wie Anna Iversen, der Witwe des 1549 verstorbenen Krämers Hans Kahle. Sie ließ als eine "schlechte, blöde, einige Weibsperson und verlassene Wittib" sich von einem gerissenen Geschäftsmann mit glatten Worten überreden, eine Schuld ihres landräumig gewordenen Schwiegersohnes zu übernehmen, wozu sie nicht im geringsten verpflichtet war. Im allgemeinen drängten die Verhältnisse doch zu einer zweiten Heirat, zumal wenn die Kinder noch klein waren, oder das verschuldete Geschäft schwer aufrecht zu erhalten war. In solchen Fällen wurde die Eheschließung von der Stadt dadurch begünstigt, daß dem Bewerber das Bürgerrecht zu geringerem Satz überlassen wurde. Eintragungen wie: 1606 Jacob Eggebrecht, zu Warnemünde bürtig, freiet Jacob Brauers Witwe mit 2 Kindern und viel Schulden: 16 Gulden (für einen Schiffer, denn das waren beide Ehemänner, ein sehr ermäßigter Satz!); 1610 Hinrich Klußmann, ein Kürschner aus Braunschweig, heiratet eine Witwe (nämlich die des Pelzers oder Kürschners Heinrich Schele) mit 6 kleinen Kindern und vielen Schulden usw., 1614 David Kriegel, ein Kopperschlegergesell, so Meister Heinrichs (nämlich des Kupferschmiedemeisters Heinrich Schmidt) Witwe mit zweierlei Kindern und über 2000 Gulden Schulden befreiet, usw., 1636 Märten Brosemann von Grimmelin in Meißen, ein Bortenmacher, welcher sel. Peter Schraders, auch Bortenmachers-Witwe in der Wasserstraße mit vielen Kindern freiet: die Bürgerschaft gelassen zu usw., sind nicht selten im Bürgerbuch.

Lagen solche Witwenheiraten im Interesse der Witwen, so oft nicht weniger im Interesse der Männer. Wenn 1621 Matthias Hinde, zu Nustrow bürtig, von seinen Junkern wohl abgeschieden (d. h. er hatte sich aus dem Hörigkeitsverhältnis zur adligen Gutsherrschaft losgekauft), der von seinen Eltern nichts als das nackte Leben erhalten und 14 Jahre lang bei Bernd Faulen treu gedient, die Langesche (d. h. die Witwe des Kaufmanns Jakob Lange) freiet, die wohl ein Eigentum (ein Haus) hat, aber mit viel Schulden behaftet ist, so trifft das Interesse beider Parteien zusammen. Für den vermögenslosen Handlungsdiener bietet die Heirat die gewünschte Gelegenheit, aus dem drückenden Dienstverhältnis heraus zu einem selbständigen Geschäft zu kommen. Oder eine

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zusammengebrochene Existenz wird durch eine solche Heirat wieder neu begründet: 1613 wird dem aus Lübeck gebürtigen Kaufmann Heinrich Zuckerbecker, so seinen Handel in Schweden gehabt, dem aber, wie er heraußer gekommen, von den dänischen Schiffen all das seine genommen, die Bürgerschaft zu 40 Gulden gelassen, weil er die Friessche (Agneta Techentin, Witwe des Kaufmanns Hans Reimers und dann des Claus Frese oder Friese) mit 6 Kindern freiet. Die Rechnung stimmte freilich insofern nicht recht, als er aus den Schulden nicht herauskam, so daß er auf den Gedanken gekommen zu sein scheint, um sich seinen Verpflichtungen zu entziehen, nach Riga überzusiedeln, schließlich wird sein Haus, allerdings erst nach seinem Tode, im Konkurs verkauft. Doch nicht nur vermögenslose Männer suchten "ihr Heiratsglück" mit einer Witwe zu machen. Die Fälle, daß der junge Mann zunächst eine Witwe heiratet, sind auch bei den Söhnen vermögender, ja reicher Familien überaus häufig. Es ist bezeichnend, daß von den acht männlichen Gliedern der im 14. und 15. Jahrhundert blühenden reichen Ratsfamilie Grentze, über deren Eheverhältnisse wir überhaupt etwas wissen, vier zunächst eine Witwe heirateten. Es war eben immer verlockend, sich in ein bereits gebautes Nest zu setzen. Oft genug war ja auch das Vermögen noch ganz in der Hand des Vaters oder der verwitweten Mutter des Heiratslustigen. Daß auch bei Pastoren diejenigen Bewerber um eine Pfarre, die sich bereit erklärten, die Witwe oder eine Tochter des bisherigen Inhabers zu ehelichen, den Vorzug erhielten, ist bekannt. Die Mecklenburgische Kirchenordnung von 1602 bestimmt das ausdrücklich. Für die Handwerker, wenn sie nicht selbst Meistersöhne waren, schuf die Ehe mit einer Meisterswitwe die Möglichkeit, in den eng geschlossenen Kreis der Zunftmeister aufgenommen zu werden. Es wird für Rostock ausdrücklich bezeugt, daß, während die Meistersöhne freie Wahl hätten, die anderen Bewerber um eine Meisterstelle der Regel nach eine Meisterswitwe oder -Tochter heiraten mußten. Häufig findet sich im Gerberamtbuch von 1600 die Eintragung: N. N. hat auf des N. N. (eines Amtsbruders) Witwe oder Tochter das Amt geeschet. Natürlich kam es auch vor, daß dem Freier einer Witwe, wenn sich ihm die Heirat mit einer Jungfer bot, diese doch verlockender erschien, er abschwenkte und die Witwe schmählich sitzen ließ. So prozessiert 1655 Valentin Kirchbergs Witwe gegen Matthias Papenhagen, der sich mit Peter Ditmers, eines wohlhabenden Essigbrauers, Tochter Vornamens Anna anderweitig verlobt, puncto sponsaliorum. Umgekehrt lag ein Fall, von dem das Gerberamtbuch mit Entrüstung berichtet.

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1633 eschet Zacharias Bergeshagen das Amt auf Heinrich Flintes Witwe. Diese hatte sich "zuvor fast mehrenteils verlobt mit einem Gesellen von Rudolstadt in Thüringen mit Namen Erhard Treiber, welcher schon auf ihr seinen Geburts- und Lehrbrief geholet. Danach ist sie aber wieder abfällig geworden und ihn nicht mehr haben wöllen, hat es auch beim Herrn Bürgermeister Nic. Scharffenberg soweit gebracht, daß sie ihn mit einem Stück Geld hat abgekauft. Und weil dasselbige zuvor niemalen in unserm Amt ist gehört worden, hat das Amt es nicht ungestraft lassen vorbeigehen können". Da die Flintesche sich aber der Strafe nicht unterwerfen will, kommt die Sache vor den Bürgermeister und schließlich wird entschieden: "weil sie wider das Amt gesündiget, und ein ehrbar Amt ihrethalben etliche Zusammenkünfte gehabt, solle sie dem Amt zur Strafe geben 8 Reichstaler wegen des vorbenannten Gesellen und wegen der Zusammenkünfte, Mühe und Ungemach zwei Tonnen Bier." Erhard Treiber hat sich dann mit einer Meistertochter getröstet, auf die er 1634 das Amt eschet.

Solche Ehen mit Witwen brachten dann häufig für den Freier einen Berufswechsel oder bestimmten endgültig die Berufswahl. Der spätere Bürgermeister Baltzer Gule, ein Wittstocker, studierte in Frankfurt a. O. und Rostock die Rechte. Als er aber um 1553 Agneta Kaffmeister, die Witwe des Brauers und Kaufmanns Jakob Gretemann, heiratete, hängte er die Rechtswissenschaft an den Nagel und widmete sich der "bürgerlichen Hantierung" seines Ehevorgängers. Er riet später seinem Schwiegersohn Heinrich Luders aus Hamburg, der ebenfalls in Rostock die Rechte studierte, zu gleichem Berufswechsel. Nicolaus Dunker aus Sternberg, später Ratsherr in Rostock († 1614), hatte die Schule in Schwerin besucht, fünf Jahre in Rostock Theologie und Philosophie studiert und war dann als Lehrer an die Schule zu Parchim gegangen. Als dann aber gute Freunde ihn nach Rostock zurückriefen und die Heirat mit Katharina Rüter, der Witwe des Brauers Jochim Dick, vermittelten, ging er von den Wissenschaften zur Brauerei über. Und wenn es im Bürgerbuch 1627 heißt: "Friedrich Quilitz, ein Student (er stammte aus Neubrandenburg), welcher seligen Baltzer Gulen (eines Gewandschneiders) Witwe freiet", oder 1633: "David Brandt, ein Student aus Güstrow, so Jochim Dunkers (eines Brauers) auf der Altstadt Witwe freiet", - so haben sicher auch diese beiden ihr Studium aufgegeben und sind zu den von ihren Vorgängern betriebenen Geschäften übergegangen. Die zahlreichen Ehen alternder Männer gingen, wie erklärlich, zum Teil auf das Bedürfnis derselben nach Pflege und Behaglich-

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keit für ihr Alter zurück. Mit großer Offenheit wird das im Leichenprogramm des Advokaten Dr. Caspar Spalkhauer † 1631) ausgesprochen: "Was sollte der Greis tun? Seine Jahre gingen schon zur Neige, und er wurde täglich gebrechlicher; der Kränkliche hatte niemand, der für sein Essen und die übrigen Bedürfnisse sorgte, der den Wankenden gestützt, den Fallenden aufgerichtet hätte, deshalb meinte er, zu diesem letzten Stab seines Alters greifen zu müssen, und betrat tapferen Mutes zum dritten Mal den Ringplatz der Ehe". Und wenn 1396/7 der Bürgermeister Hinrich Katzow der Witwe seines Bruders Johann eine Leibrente von 50 Mark, die dieser ihr in seinem Testament "für ihre Dienste" ausgesetzt hat, zuschreiben läßt, so handelte es sich auch hier um eine solche Altersehe. Eine besondere Form dieser Altersversorgungsehen sind die Heiraten von Männern, die sich im Alter als Pfründner in das Heiligengeist-Hospital zurückzogen, mit Pfründnerinnen. So hat um 1610 PeterKröger, Ältermann des Hakenamtes, "ein alt grau Mann", der seine Frau verloren hat und ohne sie sein Geschäft nicht fortführen kann, eine ziemlich betagte Frau auf des Heiligen Geisthofes Freiheit geheiratet und sich dorthin zu wohnen begeben. Um 1595 hat der Brauer Claus Hermann d. Ä., 72 Jahre alt, der drei Pröven im Heiligen Geist hat und dort wohnt, dort noch einmal geheiratet, eine Anna Rogge, die ihm noch eine Pröve zubringt. Nebenbei: es ist bemerkenswert, daß auch Leute aus den gesellschaftlichen Kreisen des Claus Hermann ins Hospital gingen, denn die Pfründner galten doch in gewissem Sinne als Almosenempfänger. Ein Peter Kröger mußte deshalb seine Ehrenämter - er war nicht nur Ältermann, sondern auch Hundertmann - niederlegen. Von diesen beiden Ehen erfahren wir übrigens nur zufällig durch Prozesse, in denen sie erwähnt werden. Wie manche Altersehen mögen bestanden haben, ohne irgendeine Spur in den vorhandenen Urkunden zu hinterlassen.

Bei der Wahl des Ehegatten spielte die Rücksicht auf den Stand eine ausschlaggebende Rolle. Das ist bei der strengen Gliederung der städtischen Bevölkerung in Klassen oder Stände selbstverständlich. Im Leichenprogramm des Brauers Christoffer Hoyer, der 1618 Agneta, die Tochter des Claus Frese, heiratete, wird ausdrücklich bemerkt, daß, weil in Rostock die Brauer zum ersten Stande gehörten, er seine Gattin aus den ersten Familien wählen durfte. Man blieb in der Regel unter sich. Ja selbst innerhalb der einzelnen Handwerke heiratete man mit Vorliebe, wenn auch keineswegs ausschließlich, untereinander. Auch die in ihrer

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Gattenwahl doch nicht beschränkten Meisterssöhne heirateten gern Töchter oder Witwen von Zunftgenossen. Der Gerber Jdel Schulte, der um 1577 ins Amt kam, hatte die Tochter eines Handwerksgenossen, ebenso sein Sohn Zacharias. Von den beiden andern wissen wir nichts Näheres. Von seinen Enkelkindern war die einzige, über die wir in dieser Beziehung etwas wissen, mit einem Gerber verheiratet. Von seinen Urenkelkindern war Zacharias mindestens in zweiter Ehe mit einer Gerbertochter, Anna mit einem Gerber verheiratet, und von des ersteren sieben verheirateten Kindern blieben wieder mindestens fünf innerhalb des Handwerks bei der Gattenwahl. So sind auch die Bruchfischer- und die Schifferfamilien, und unter diesen wieder besonders die um 1600 aus Warnemünde nachRostock übersiedelnden, vielfach untereinander verschwägert.

Aber so viel Gewicht auf das Innehaltender Standesgrenzen gelegt wurde, Heiraten hinüber und herüber kamen doch vor. Und diese Grenzen waren ja auch gar nicht in allen Fällen so starr, nicht nur, weil immer wieder Familien oder einzelne Zweige derselben in einen höheren Stand aufstiegen 4 ), sondern weil bei manchen Berufen die Grenze gar nicht eindeutig festgelegt war. So gehörten von den Gasthaltern die "fürnehmen" und von den Krämern diejenigen, die ein eigenes Haus und auch sonst ein "ziemliches" Vermögen besaßen, zum ersten Stand. Solche Bestimmungen sind doch nicht eindeutig und machen die Grenzen fließend.


4) Es war offenbar nicht schwierig, aus einem niederen Stande in einen höheren zu gelangen, - wenn man das Geld dazu hatte. So gehört der Stammvater der Ratsfamilie Nettelbladt, Jost Nettelbladt († um 1535), zunächst dem Bruchfischeramt an, gibt dies Gewerbe auf und wird Hopfenhändler. Sein Zunftgenosse Oloff Buck zieht um 1540 vom Bruch hinauf in die Stadt und wird Brauer, Hans Dankwart († 1651), mit dem seine Familie, die dann Rostock und Lübeck verschiedene Ratsherrn und Bürgermeister gestellt hat, in den ersten Stand aufstieg, war zunächst, wie sein Schwiegervater Jochim Voß, etwa 15 Jahre Grützmacher, ehe er dann Brauer und Kaufmann wurde. Und sein Schwiegersohn, der Brauer und Kaufmann Jochim Wilken, hatte zuerst das Schneiderhandwerk betrieben. Ein anderer seiner Schwiegersöhne, der Gerberältermann und Kirchenvorsteher Zacharias Schauert, wird ebenfalls Brauer, offenbar in Zusammenhang mit seiner zweiten Ehe mit Hillbrand Siefferts Witwe. In einem Reichskammergerichtsprozeß von 1665 werden eine ganze Anzahl Brauer namhaft gemacht, die vorher Handwerker waren. Von einem jedenfalls außergewöhnlichen Aufstieg gibt das Bürgerbuch von 1652 Kunde: Jochim Tarnow, welcher anno 36 das Bürgerrecht als ein Tagelöhner gewonnen, ist folgends ein Träger geworden und will itzo ein Brauer werden, hat deswegen allhie mehr gegeben 30 Gulden.
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Manche Kaufmannstochter verschmähte es nicht, lieber an der Seite eines wohlhabenden Meisters vom Handwerk auf dessen goldenem Boden ein gesichertes Dasein zu suchen, als vielleicht eines wenig vermögenden Kaufmanns unsicheres Geschick zu teilen, und mancher Kaufmann ließ sich eine reiche Handwerkertochter gefallen. Eine der vielen Töchter des Brauers und Kaufmanns Hans Dankwart (s. die vorige Anmerkung) war mit dem reichen Gerberältermann und Kirchenvorsteher Jakob Engelbrecht verheiratet, dessen Tochter heiratete dann wieder einen Kaufmann Christoffer oder Steffen Zander. Wendula Nettelbladt, die sicher der Ratsfamilie dieses Namens angehört und höchst wahrscheinlich eine Tochter des 1624 gestorbenen Brauers Heinrich Nettelbladt ist, von dem auch die freiherrliche Linie abstammt, heiratete nacheinander den Bäckermeister Claus Blüte und den Bortenmacher Marten Brosemann. Ihres Vaters Vermögensumstände scheinen freilich nicht glänzend gewesen zu sein, nach den zahlreichen Anleihen, die er aufnimmt, zu schließen. Und solche Ehen kommen bis in die allerersten Familien hinein vor. Nicht dahin gehört es freilich, wenn um 1562 Anna Krohn, unter deren Ahnen wir mindestens 7 Bürgermeister finden, den Hans Bermann heiratet, der ein Gasthaus am Markt hat (an der Stelle des jetzigen Mannschen Hauses). Denn die vornehmen Gasthalter gehörten ja zum ersten Stand, wie denn auch seine drei Schwiegersöhne im Rat gesessen haben und sein Vorgänger im Besitz des Gasthauses, Herr Gottschalk Hoppenstange, selber Ratmann war. Ebenso gehören die Goldschmiede, denen wir nicht selten als Schwiegersöhnen alter Ratsfamilien begegnen, dem ersten Stande an. Und auch die Barbiere scheinen, wenigstens zum Teil, eine höhere Einschätzung genossen zu haben, wohl weil ihr Beruf die Ausübung der Chirurgie einschloß und deshalb in den des Arztes überging 5 ). Aber etwas anderes und recht Auffallendes ist es, wenn wir 1364 der Tilse, einer Verwandten mütterlicherseits des Johann von Zehna, als Gattin des Schusters Hinrich Kolberg und 1372 als Gattin seines Zunftgenossen Johannes Barold begegnen. Denn dieser Johann von Zehna ist ein Neffe des herzoglichen Gerichtsvogts Wulf von Zehna, und Tilse wird bevormundet von Heinrich von Zehna, dem Vater des Bürgermeisters Vicke von Zehna. Es handelt sich also bei dieser Schustersfrau wirklich um ein Glied jener alten und vornehmen Familie. Auch ein Johann Rugewold, der Tuchscherer, also auch ein Hand-


5) Vgl. De Arste, de den ersten Band heft, de mot den Voget (auf Schonen) "vrygh (frei) barbieren". Denkwürdigkeiten des Jakob Parkow, Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock III, 2 S. 12.
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werker, gehört zu den Erben jenes Johann von Zehna. 1389 werden als nächste Verwandte eines Schusters Nikolaus Pape Bernhard und Heyno Witte, Söhne der Ratsfamilie, bezeichnet, und 1486 begegnet uns ein Ältermann der Schmiede, Claus Goldberg, als Ehemann der Tochter Anneke des Ratmanns Dietrich Slorf. Und das alles sind fraglos nicht etwa Mißheiraten, die zu einem Bruch mit der Familie geführt hätten.

Andererseits verschmähte es auch der Adel nicht, sich mit den Bürgerfamilien zu verschwägern. Und nicht nur solche Adlige taten das, die sich selbst in der Stadt niedergelassen und das Bürgerrecht erworben hatten, wie etwa der Ratmann Vicko Alkun († vor 1368), der Bürger Ulrich von Reden († vor 1566), der Bürgermeister (seit 1574) Christoffer Bützow und der Ratmann (seit 1576) Christoffer Gentschow, vielleicht auch der Ratmann Conrad Unruhe († 1403/6). 1384 begegnet der Knappe Arnd von Gummern als Ehemann der Grete, Tochter des Ratmanns L. Gotland; 1395 der Ritter Matthias Axekow als Ehemann der Geseke, Tochter des Bürgermeisters Engelbert Katzow. Der Hinrich Moltcke, dessen Ehefrau Elisabet von den Bürgermeistern Arnold Kröpelin und Johann von Kyritz beerbt wird, und der Henneke Moltcke, der 1408 Ehemann der Gertrud Unruhe, Witwe des Ratmanns Lambert Kröpelin ist, dürften der Adelsfamilie angehört haben. Von den vier Töchtern des oben erwähnten Ratmannes Johann Grote und der Anna Sossenheimer waren drei an Adligeverheiratet: Margarete mit dem Junker Jürgen Schenk, der aus einer nicht vollbürtigen, aber in Mecklenburg und Hessen als adlig anerkannten Nebenlinie der Schenk zu Schweinsberg stammte, Anna mit dem vorhin genannten Christoffer Gentschow, und die jüngste, Agneta, mit dem Doberaner Amtmann und Offizialisten zu Rostock, Sebastian Barner, Erbherrn auf Schimm. Letzterer war in erster Ehe mit Anna Frese, Tochter des Ratmanns Jaspar Frese, verheiratet, und der Vetter derselben, der wiederholt genannte Claus Frese, Metken Sohn, in erster kinderloser Ehe von 1576-1589 mit der "edlen und tugendsamen" Lucia Pren, wohl einer Tochter des 1578 verstorbenen Jochim Pren auf Gubkow, der auch in Rostock Grundbesitz hatte. Wenigstens läßt ihr ein Achim Pren 1500 Gulden Brautschatz auszahlen, woraus zugleich erhellt, daß es sich keineswegs um ein verarmtes adliges Fräulein handelte. Auch die Ilsabe Weltzin, Schwester des Christoff Weltzin, die um 1582 den Rostocker Bürger Hermann Prenger und danach um 1586 den Brauer Jakob Koch heiratete, war nach ihrer eigenen Aussage "eine Adelsperson". Und obwohl ja Rostock kein eigentliches, wie anderswo in ge-

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schlossenen Gesellschaften zusammengefaßtes Patriziat besaß, galten diese Ehen als ebenbürtig. Wenigstens wird der Sohn der Margaret Grote und des Jürgen Schenk, Johann Schenk, 1575 vom hessischen Landgrafen - er studierte damals in Marburg - als Edelknabe an den mecklenburgischen Hof empfohlen, und die Gentschowschen und Barnerschen Kinder gelten zweifellos als adlig. Enkel des Gentschowschen Ehepaares sind z. B. der Junker Hans Christian Rappe auf Beselin und die Klosterjungfrau Margarete Rappe in Dobbertin 6 ).

Den Ehegatten wählten die Rostocker natürlich zumeist unter den Rostockern. Unter den Nachbarn, aus derselben Straße, aus schon sonst verschwägerten Familien, aus der weiteren Blutsfreundschaft suchte man sich den Gatten gern oder wurde er einem ausgesucht. Aber Rostock stand in viel zu lebhaftem Verkehr mit der Außenwelt, das Leben des mittel- und niederdeutschen und des nordischen Gebietes flutete viel zu mächtig durch die alte Hansestadt, als daß dadurch nicht auch den Rostocker Familien immer wieder frisches Blut zugeführt worden wäre. Soweit her freilich wie der von 1550 bis 1557 in Rostock als Professor der Medizin wirkende, aus Antwerpen stammende Arzt Jakob Bording haben wohl kaum andere sich ihre Ehefrau geholt. Seine Gattin Francisca Nigrona war die Tochter eines genuesischen Patriziers, der nach Avignon übergesiedelt war und dort die Johanna de Rochelle geheiratet hatte. Sie wurde die Schwiegermutter des Professors


6) Ein merkwürdiges Beispiel dafür, daß man sich mitunter auch in vornehmen Kreisen über die Frage der Herkunft völlig hinwegseten konnte, bietet eine allerdings nicht zu den Rostocker Ehen gehörige Ehe. Der Bruder des genannten Rostocker Brauers Junker Jürgen Schenk, der herzogliche Sekretär, Dompropst und dann auch Bürgermeister von Güstrow, Sebastian Schenk († 1546) heiratete die Witwe eines Dr. Schwarzwälder, die auch ihn überlebte. Nach ihrem Tode traten die Erben eines Wismarschen Arztes, Dr. Hellewetter, mit dem Anspruch auf, sie seien deren Erben, da sie eine Bruderstochter des letzteren gewesen sei. Das war offenbar erfunden, wie Jürgen Schenk nachweisen kann, aber über ihre wirkliche Abkunft kann nichts Sicheres festgestellt werden. Die verbreitetste Lesart scheint gewesen zu sein, daß sie oberhalb Deutschlands, in Litauen geboren, von Kaufleuten erkauft und verschenkt und von Dr. Hellewetter als Junge verkleidet ins Land gebracht sei. Ein anderer Zeuge gibt freilich an, sie habe gut meißnisch gesprochen, und die Mägde hätten gesagt, sie sei binnen Leipzig geboren. Auch die Version übrigens lief um, daß sie eines getauften Juden Tochter gewesen. Jedenfalls wußten die nächsten Angehörigen dieser Frau, auf deren zweiter Hochzeit Herzog Heinrich in eigener Person erschien, nichts über deren Abkunft - und aller Wahrscheinlichkeit nach auch sie selber nichts.
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der Theologie Dr. Lucas Bacmeister, des Pastors an St. Petri Mag. Johann Hollenhagen und des Parchimer Superintendenten Anton Bocatius; ihr Sohn Dr. Jacob Bording war Professor in Rostock, später Bürgermeister von Lübeck. Durch sie kommt, soweit ich sehe, der Vorname Johanna zuerst in Rostock auf. Wenn man nun sonst auch nicht so weit her die Gattin holte, über Rostocks und Mecklenburgs Grenzen ging man doch häufig genug hinaus. Im Kaufmannsstande führten die mannigfachen Beziehungen zu auswärtigen Handelshäusern, der oft lange währende Aufenthalt der jungen Kaufgesellen in der Fremde wieder zu Verschwägerungen mit auswärtigen Familien; oder fremde Kaufgesellen führte ihr Beruf nach Rostock und sie blieben dort und freiten Rostocks Töchter. So sind es vor allem Wismarsche, Lübecker und Stralsunder, besonders auch westfälische Familien, mit denen man sich gern verschwägerte. Unter den Wismarschen Familien, die sich fortwährend mit Rostockschen verschwägerten und so zum Teil fast ebenso in Rostock wie in Wismar ansässig waren, sind besonders die Schmidt (Smedes), Tankes, Schwarzkopfs und Eggebrechts zu nennen. Auch den Rostocker Gewerken strömten immer wieder nicht nur aus mecklenburgischen Städten und Dörfern, sondern auch von weiter her, aus Thüringen, Franken, dem Meißnischen und Braunschweigschen z. B., Handwerksgenossen zu, die dann Rostockerinnen, in erster Linie natürlich Meisters-Witwen und -Töchter, heirateten. Dazu führte die Universität aus allen Gauen junge Männer herbei, von denen so mancher hier durch eine gute Heiratsgelegenheit sich fesseln ließ. Auch mancher jüngere oder ältere, dauernd oder vorübergehend dem Lehrkörper angehörende auswärtige Magister oder Professor heiratete gern in eins der guten alten Rostocker Geschlechter hinein. Trotz aller Neigung, bestehende Beziehungen zu pflegen und den Gatten oder die Gattin aus dem nach Art und Vermögensverhältnissen genau bekannten heimatlichen Kreisen zu wählen, gab es doch eine enge, nach außen sich ängstlich abschließende Heiratspolitik nicht.

Über das Alter der Eheschließenden beim ersten Eheschluß ist, da die Kirchenbücher nur zum kleinsten Teil in unsern Zeitraum hinaufreichen, nur da Genaueres festzustellen, wo Leichenprogramme vorliegen. Nicht einmal die Brautschatz-Zuschreibungen und -Quittungen geben sicheren Anhalt für das Jahr der Eheschließung, da sie sehr häufig erst jahrelang nach der Eheschließung erfolgten. Und noch seltener läßt sich das Geburtsjahr feststellen, wenn nicht zufällig der Betreffende als Zeuge in einem Prozeß begegnet und hier sein Alter - übrigens oft auch noch ungenau

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genug - angibt. Sind wir hier somit fast ganz auf Leichenprogramme angewiesen, so gelten auch die nachstehenden Angaben wesentlich für eine bestimmte Gesellschaftsschicht, nämlich für Angehörige des ersten Standes- nur ganz vereinzelte Handwerker sind darunter - und nur für das 16. und 17. Jahrhundert. Es muß auch bemerkt werden, daß es nicht in allen Fällen feststeht, ob die bei den einzelnen Jahren angeführten Personen das betreffende Lebensjahr schon vollendet hatten, da sehr häufig wohl das Jahr, aber nicht der Tag der Geburt und der Eheschließung bekannt ist. Auch sind die Angaben über das Alter in jener Zeit nicht immer ganz zuverlässig. Von 105 Männern heirateten: 1 mit 20 Jahren; 6 mit 21; 6 mit 22; 10 mit 23; 5 mit 24; 6 mit 25; 8 mit 26; 8 mit 27; 7 mit 28; 4 mit 29; 9 mit 30; 9 mit 31; 4 mit 32; 2 mit 33; 4 mit 34; 6 mit 35; 5 mit 36; 1 mit 37; 1 mit 43; 1 mit 44; 1 mit 49 und 1 mit 53. Die Schwankungen im einzelnen sind natürlich zufällig, überhaupt ist die Zahl zu gering, um ein genaues Bild geben zu können. Soviel aber wird man vielleicht sagen können, daß bei den Männern, wie übrigens erklärlich, das eigentliche Heiratsalter mit dem 21, Lebensjahr, dem Jahr des Mündigwerdens, einsetzt, und daß von da ab die Häufigkeit des Eheschlusses für die einzelnen Lebensjahre bis etwa zum 31. ziemlich gleich bleibt und noch bis zum 36. nur geringe Abnahme zeigt. Noch spätere Ehen sind dann wohl mehr vereinzelte Fälle. Gegenüber heutigen Gepflogenheiten in den gleichen Gesellschaftskreisen ist also entschieden ein häufigeres Heiraten in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre festzustellen. Doch aber sind auch Ehen von Männern, die das 30. Lebensjahr überschritten haben, sehr häufig. Lange, bis tief in die Mannesjahre hinein, lebte oft der Kaufmann im Ausland - so die Rostocker besonders auch in Bergen -, um des Geschäftes willen und um den fremden Markt und allen Handelsbrauch gründlich kennen zu lernen, ehe er sich dauernd niederließ. Auch mancher Schiffer blieb bei seinem unruhigen Gewerbe lange unbeweibt, bis er schließlich, wenn er endlich einen Hausstand gründete, wohl auch zu einem seßhafteren Berufe überging, etwa wie der spätere Ratsherr Titke Maß, der 1626 mit fast 37 Jahren freite und dann Brauer wurde. Und die Studierten führten oft an den verschiedensten Universitäten und als Erzieher und Hofmeister ein jahrzehntelanges Wander- und Reiseleben, ehe sich ihnen eine Stellung bot, in der sie eine Familie ernähren konnten. Der Kaufmann Heinrich Pil heiratete 1621 mit 37 Jahren, sein Berufsgenosse Caspar Schwarzkopf 1616 gar erst mit 43. Peter Eggebrecht war 44 Jahr,

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als er als Pastor von Biestow heiraten konnte. Arnold Burenius, der berühmte Gelehrte, Schulmann und Universitätslehrer, zählte schon 53, als er sich 1538 ein Weib nahm, und sein Kollege, der Mathematiker Conrad Pegel, war bei seinem Eheschluß auch schon 49 Jahre alt. Der jüngste Ehemann, der mir begegnet ist, ist der Brauer Markus Lembke, der 1620 mit 20 Jahren heiratete; und mit 21 und 22 Jahren heirateten unter andern Söhne der vornehmen Familien Guhl, Grote, Beselin, Hane, Lembke, junge Brauer, Kaufleute und Gewandschneider.

Was das Heiratsalter beim weiblichen Geschlecht betrifft, so heirateten von 114 Frauen: 1 mit 14 Jahren; 2 mit 15; 4 mit 16; 7 mit 17; 11 mit 18; 7 mit 19; 12 mit 20; 17 mit 21; 8 mit 22; 11 mit 23; 11 mit 24; 7 mit 25; 6 mit 26; 1 mit 27; 3 mit 28; 1 mit 29; 1 mit 30; 2 mit 32; 1 mit 39; 1 mit 40 Jahren. Das sich so für das weibliche Geschlecht ergebende Bild unterscheidet sich nicht nur darin von dem für das männliche, daß das gewöhnliche Heiratsalter um etwa 5 Jahre früher einsetzt und um mehr als 6 Jahre früher endet, sondern auch darin, daß es deutlich ein allmähliches Ansteigen und dann wieder Herabsinken der Häufigkeit des Eheschlusses für die einzelnen Lebensjahre zeigt, wobei der Höhepunkt um das 21. Jahr liegt. Heutzutage dürfte der Höhepunkt entschieden später liegen. Mit 14 Jahren "in der ersten Jugendblüte" heiratete Anna Kellermann 1524 den späteren Bürgermeister Bertold Kerkhof; und Katharina Papke war erst 15 Jahre alt, als sie dem Mediziner Heinrich Pauli vermählt wurde. Auch Ilsabe von Hervorden, die 1604, "sobald sie angefangen hatte, ehefähig zu sein", den Heinrich Steding heiratete, wird kaum mehr als 15 Jahre alt gewesen sein. Ebenso kann Margarete Dunker, die Braut des oben genannten 43jährigen Kaufmanns Caspar Schwarzkopf, bei ihrer Heirat höchstens eben das 16. Jahr vollendet haben. Alle vier sind Töchter von Ratsfamilien. Andererseits ist Margarete Hake 29 Jahre alt, als sie dem Dr. iur. Johann Domann, Anna Sandhagen 30, als sie dem Professor der Theologie Georg Bindriem, und Agneta Grote und Elisabet Lüschow 32, als sie 1581 dem Amtmann Sebastian Barner und 1668 dem Pastor Roloff an St. Petri die Hand reichen. Ja, Gertrud Laurenberg, die Tochter des Professors, hat erst mit 39 Jahren geheiratet, und Katharina Dunker, eine Tochter des Pastors an St. Petri, gar erst mit 40 Jahren den Pastor Kraft in Jesendorf. Jedenfalls, wenn Luther bekanntlich für den jungen Mann 20 und für das junge Mädchen 16 Jahre als das passende

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Alter zur Verehelichung ansieht - allgemeine Regel war das so wenig, daß vielmehr die weitaus meisten beim Eheschluß erheblich älter waren.

Daß die Frauen älter waren als die Männer, kam natürlich häufig vor, da, wie wir gesehen, aus praktischen Gründen zunächst eine Witwe geheiratet wurde. Wenn der ungefähr 1523 geborene Brauer Claus Harmens in erster Ehe Anna Kegeben, die Witwe eines Claus Dunker, mit dem sie schon 1530 verheiratet war, freite, so war er jedenfalls beträchtlich jünger als sie. Agneta Kaffmeister war mindestens 1532 schon mit Jakob Gretemann verheiratet; ihr zweiter Mann, der spätere Bürgermeister Baltzer Guhl, ist eigener Angabe zufolge um 1530 geboren. Des bei seiner ersten Eheschließung 27jährigen späteren Ratsherrn Nikolaus Dunker erste Frau, Katharina Rüter, war 10 Jahre lang Witwe gewesen, und da sie aus erster Ehe mehrere Kinder hatte, auch mehrere Jahre verheiratet gewesen, also jedenfalls auch älter als er. Wendula Nettelbladt, die Witwe des Ratsherrn Jochim Wedege, die 37jährig 1613 den Michel Siebrand heiratet, war gewiß beträchtlich älter als dieser "junge Mann aus dem ersten Stande". Wendula Kleinschmidt, Witwe des Daniel Elvers, heiratet 1687 den Dr. iur. Johann Joachim Beselin, sie ist 32, er 26 Jahre alt. Und das sind sicher nur einzelne Beispiele eines häufigen Vorkommens. War die erste Frau so oft erheblich älter, so war die zweite dann zuweilen unverhältnismäßig viel jünger. Heinrich Sültemann, Ratsherr 1599, † 1611, heiratete um 1584 Anna Frese, die Witwe des Kaufmanns Peter Pentzin, mit dem sie schon 1546 verheiratet ist, die also bei ihrem zweiten Eheschluß beträchtlich über 50 Jahre alt war; nach deren wohl 1604 erfolgten Tode führte er dann die damals kaum 20jährige Bürgermeistertochter Agneta Tanke heim. Die zweite Frau des Senators Adam Borchart († 1646), Katharine Dunker, eine Enkelin des Pastors an St. Petri, war 19 Jahre alt, als ihr altersschwacher Mann sie zwei Jahre vor seinem Tode heiratete.

Vielleicht war es jene zweite Ehe der Anna Frese, die die spöttische Bemerkung des Lizentiaten Joachimus Reimers in einem Brief vom 4. Nov. 1584 aus Wittenberg an seinen Schwager Bernd Türkow in Rostock veranlaßte: daß er durch seinen alten Stubengesellen Ewald Brummer erfahren, "wie bei Euch die alten reichen Frauen in so großen Ehren gehalten werden, daß sie auch junge Gesellen freien, welches zwar einen nicht geringe wundern mag, aber was tut Geldgeiz nicht! Gott gebe aber, daß es wohl mit ihnen sämtlich und ihrem Ehe

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Stande geraten möge, aber die Zeit wird es geben." Also die Unnatur solcher Bündnisse empfand man doch. Er selbst wurde freilich durch die Sorge bedrückt, sein eigener alter, schon zweimal verwitweter Vater werde noch einmal heiraten. Sein Stubengeselle hat aus Rostock die Nachricht erhalten, es sei dort "eine gemeine Sage", daß der alte Herr die älteste Pegels Tochter freien werde. Und noch 27. 4. 1586 schreibt Reimers aus Heidelberg an seinen Schwager: "Ich gedenke ja nicht, daß er des Pegels Tochter gefreiet habe oder werde, das wäre uns beiden sonsten übel gelegen! Ich weiß, daß Sie damit umgegangen sind, . . . Ist er ein alter Mann und will noch, da er auf seine Grube mit der Zeit gehet, nun ein jung Weib nehmen! Ich hoffe, Gott der Herr wird hindern und dem Pegels-Gesindichen, die uns nach dem Unsern gar listig stehen, es nicht lassen gut sein. Zwar unsern Vater meinen Sie nicht, besondern sein und unser Gütlein, wie das ein jeglicher, der nur einen Sinn hat, wohl verstehen wird können." Die Gefahr ging übrigens wirklich vorüber.

Mit grausamer Strenge wurde in gewissen Kreisen darauf gesehen, daß das junge Paar in vollen Ehren zusammenkam. Ein Fehltritt verschloß dem jungen Handwerker für immer die Aufnahme in die Zunft. Um 1585 hatte sich der Gerbergesell Peter Daber mit des Gerberältermanns Hans Murlemey Tochter vergessen. Trotzdem der Rat für ihn eintrat, konnte er nur so viel erreichen, daß er als Meister ohne Gesellen arbeiten durfte; in die Amtsgilde und andere Zunft-Zusammenkünfte durfte er nicht kommen. Um dieselbe Zeit wurde Jakob Bunsendorf, der mit seiner Frau vor der Ehe ein Kind gehabt, zwar in die Gilde der reitenden und gehenden Diener des Rats aufgenommen - hier war man also nicht ganz so streng -, aber seine Frau durfte bei den Zusammenkünften in ihrem Schütting nicht erscheinen. Und als dann ein Sohn des Paares, Paul Bunsendorf, die Aufnahme in das Gerberamt begehrte, wurde ihm das freilich auch aus andern Gründen, aber doch auch um des Fehltritts der Eltern willen verweigert. Die Zunftanwärter mußten nachweisen, daß sie nicht nur selbst ehelich und ehrlich, sondern auch von unberüchtigten und ehrlichen Eltern geboren seien. Es ist also nicht nur die unmaßgebliche Ansicht eines einzelnen Fanatikers, sondern die herrschende Anschauung dieser Kreise, die sehr fühlbare Wirkungen hatte, wenn in der Bunsendorfschen Sache 1607 der Hufschmiedeältermann Claus Behrens erklärt: wenn ein Mädchen Ehre und Rosenkränzlein (also damals noch nicht die bräutliche Myrthe!) verscherzet, so könne sie ihre Ehre nicht wiedergewinnen, und

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wenn sie mit ihrem Manne hernach in der Ehe auch 10 oder 20 Kinder hätte; sie bleibe eine Hure. Paul Bunsendorf hat seine Sache bis vor das Reichskammergericht gebracht und, wie es scheint, doch mit Erfolg. Denn das Gerberamtbuch notiert zwischen 1611 und 1613, daß er das Amt geeschet habe. Auffallenderweise aber bringt es seinen Namen nicht in der Liste der Amtsbrüder auf dem ersten Blatt, in der sonst alle Neuaufgenommenen bis 1629 nachgetragen sind. Ob er doch nicht als vollberechtigter Amtsbruder anerkannt wurde? Wenn übrigens der 1613 als Amtsmeister aufgenommene Hans Daber ein Sohn des oben genannten Peter ist, so wäre auch das ein Beweis, daß jene rigorose Anschauung sich doch nicht durchsetzte. So wenig, wie 1535 die Straßburger Kannengießergesellen mit ihrer Ansicht durchdrangen, daß die uneheliche Geburt des Vaters des Aspiranten die Aufnahme unter die Gesellen unmöglich mache. Andere Kreise haben wohl sicher weniger streng gedacht in diesem Punkt. Von dem in Frankfurt a. M. nachweisbaren Brauch, daß außereheliche Kinder des Hausherrn mit fast gleicher Stellung neben den legitimen im Hause aufwuchsen, habe ich allerdings in Rostock keine Spur gefunden 7 ).

Daß die Ehen jener Zeit sehr viel kinderreicher waren als die modernen, ist bekannt. Freilich, überblicken wir die Stammbäume Rostocker Familien, soweit für ihre Feststellung weder Leichenprogramme noch Kirchenbücher in dieser Beziehung herangezogen werden konnten, so hat man diesen Eindruck zunächst nicht. In der älteren Familie Frese (etwa 1284-1600) z. B. kommen auf jedes verheiratete Mitglied 3 Kinder; bei den Grentzes (etwa 1316-1445): 2 6/7; bei den Kerkhofs (etwa 1382-1600): 4 2/13; bei den Kröpelins (etwa 1308-1500): 2 3/4; bei den Kruses (etwa 1325-1415): 2 2/9; bei den Makes (etwa 1375-1675): 3 1/5; bei den Türkows (etwa 1378-1610): 3 6/11; bei den Wulfs (etwa 1372-1510): 3 4/7; und, um diesen Ratsgeschlechtern noch eine Schiffer- und eine Handwerkerfamilie hinzuzufügen: bei den Eggebrechts (etwa 1566 bis etwa 1700): 3 3/4; bei den Engelbrechts,


7) Um die Fürsorge eines Geistlichen für seine illegitime Familie handelt es sich offenbar in einer Rentebucheintragung von 1522, worin der Anna Smedes, Hermann Smedes' Tochter, "nu tor tyt myt hern Doctori Nicolao Louwen in denste wesende", und ihren Kindern eine Rente zugeschrieben wird, und in einer gleichen von 1523, wo sie als desselben "Kokesche" bezeichnet wird. Um was es sich hier handelt, dürfte zweifellos sein. Es gereicht dem bekannten Humanisten und Kirchenrechtslehrer, - er wird sicher das Kapital hergegeben haben, - nicht zur Unehre, daß er auf diese Weise für seine Familie, der er seinen ehrlichen Namen nicht geben durfte, sorgte.
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soweit sie hier in Betracht kommen (etwa 1535-1670): 2 1/3. Aber der Eindruck ist falsch, nicht nur weil hier doch hie und da einmal auch sonst ein Sproß zufällig in den Urkunden nicht vorkommt - das wird nicht sehr häufig der Fall sein -, sondern weil hier zumeist alle im frühsten Kindesalter verstorbenen und auch manche ältere, aber vor den Eltern verstorbenen fehlen. Das Bild wird denn auch ganz anders, wenn man nur Ehen in Betracht zieht, deren gesamte Kinderzahl wir aus Leichenprogrammen oder Kirchenbüchern kennen. Da ergibt sich, daß 378 Männer - zum Teil aus mehreren Ehen - im Durchschnitt 7 Kinder hatten, wobei noch zu beachten ist, daß eine ganze Anzahl dieser Männer so früh starb, daß bei längerem Leben die Zahl der Kinder vermutlich beträchtlich höher geworden wäre. Bei 472 Frauen ergibt sich ein Durchschnitt von 5,75 Kindern, oder, wenn wir die Frauen, deren Ehen nur kurze Zeit währten, abrechnen, bei 419 Frauen ein Durchschnitt von 6,45 Kindern. Damit würde keine Statistik moderner Ehen den Vergleich auch nur entfernt aushalten. Daß der Durchschnitt bei den Männern etwas höher ist, hat seinen Grund darin, daß diese, verwitwet, doch noch regelmäßiger wieder heiraten als die Frauen. Daß Frauen 9, 10 und mehr Kinder hatten, war keine Seltenheit. Wenn freilich von Katharina Lange, Ehefrau des Brauers Heinrich Nettelbladt († 1624), als einzige Erinnerung in ihrer Familie die Nachricht fortlebte, daß sie Mutter von 14 Kindern gewesen sei, so galt dies doch als eine außergewöhnliche Leistung. Mir ist denn auch nur eine Rostockerin bekannt geworden, die es weiter gebracht hat: Ilsabe Voß, die Gattin des schon genannten Kaufmanns Johann Dankwardt († 1651), die ihm 18 Kinder gebar. Sie erreichte damit zwar nicht die Leistung der Eltern des oben erwähnten Bürgermeisters Christoph Bützow, die 22 Kinder miteinander hatten, aber doch die eines Bremers Johannes Wilmanns († 1720) und seiner Gattin. Es hätte also auch von ihrem Manne gerühmt werden können, was eine Gedächtnisrede in der Rostocker Universitätsbibliothek von jenem rühmt, daß, wenn auch von vielen Eheleuten etliche durch Gottes Segen noch mehr Ehepflanzen erhalten hätten, gleichwohl die Zahl mit einer Ehefrau erzielter 18 Kinder seltsam bleibe; wodurch er erweislich gemacht, daß nicht die Gelehrten allein, sondern auch ungelehrte und ehrliche Bürger zuweilen einen reichen Ehesegen dem Stifter des Ehestandes zu verdanken haben. Von diesen 18 sind bei dem Tode des Vaters übrigens schon sechs in jugendlichem Alter verstorben, wie denn überhaupt, soweit ich sehe, nur selten alle Kinder groß werden,

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oft die meisten wieder jung versterben. So wurde die Fruchtbarkeit der Ehen durch die große Kindersterblichkeit, die natürlich auf der mangelhaften Entwicklung der ärztlichen Kunst und der Hygiene beruhte, in ihrer Wirkung wieder aufgehoben, wie das ja die oben mitgeteilten Angaben über die Kinderzahl in einzelnen Rostocker Familien beweisen. -

Was im Vorstehenden über die Ehen unserer Altvorderen zusammengestellt ist, wird den Eindruck erwecken, daß es dabei im allgemeinen sehr nüchtern und geschäftsmäßig zuging, und dieser Eindruck wird richtig sein. Das Herz wurde wohl nicht allzu oft befragt. Es ist bezeichnend, was der alte Stralsunder Bürgermeister Bartholomäus Sastrow, der 1538-41 in Rostock studiert hat, in seinen Lebenserinnerungen erzählt. Sein Bruder hatte sich in Eßlingen vorbehaltlich der elterlichen Zustimmung mit einer Bürgerstochter verlobt, die auch nach seiner, des Bartholomäus, Meinung sehr liebenswert ist und aus angemessenen Verhältnissen stammt. Aber die Eltern versagen die Einwilligung, und von Stund an hat er seinen Bruder nicht mehr froh gesehen. Hier lag offenbar eine tiefe Herzensneigung vor, aber sie führte nicht zum Ziel. Was dagegen Sastrow über seine eigene Verlobung und junge Ehe erzählt, klingt so frostig nüchtern und zeigt so gar keinen wärmeren Ton, daß es sich hier um eine Neigung kaum gehandelt haben kann. Im allgemeinen war es selten der Trieb des Herzens, der die Ehegatten zusammenführte, sondern sehr praktische Erwägungen, der Rat und Wille der Eltern oder guter Freunde. So hätte der Essigbrauer Peter Detmer d. Jüngere († 1638) gern noch sein Studium, namentlich auf medizinischem Gebiet, fortgesetzt, aber auf Wunsch der Eltern schreitet er zur Ehe, oder der erwähnte Nicolaus Dunker wird von guten Freunden nach Rostock zurückgerufen, um dort seine Brauerswitwe zu heiraten. Als der oben erwähnte Bernd Türkow die Freite zwischen seinem Schwager, dem jungen Kaufmann Hans Reimers, und seiner Schwestertochter Agneta Techentin betreibt, nimmt er erst die Vermittlung einer anderen Schwester, der Pfeilschen, in Anspruch, um dann die Sache bei der Mutter der Agneta selbst zu betreiben. Ihre Bedenken, daß die Tochter noch zu jung sei, werden mit der Vorstellung aus dem Felde geschlagen, daß Hans Reimers Vater eine Heirat seines Sohnes wolle, und daß er guten Vermögens sei, d. h. also, daß sonst eben eine andere die gute Partie machen werde. Der Eltern Wille, der Verwandten Rat und die Rücksicht auf die Vermögenslage geben den Ausschlag, Davon, ob bei dem jungen Ding eine Neigung

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für den Bewerber bestand, hören wir nichts, und sie ist auch wohl nicht danach gefragt worden.

Und wie gestaltete sich nun das Zusammenleben in solchen Ehen? Darüber sagen uns die vorhandenen Nachrichten leider wenig. Sie beziehen sich meist auf Regelung der Vermögensverhältnisse. Wieviel stilles Glück oder Glücklosigkeit, wieviel Schuld und Versäumnis, oder wieviel Hingebung und treue Pflichterfüllung gegeneinander die Ehen, von denen wir da hören, umschließen, davon verraten diese trockenen Notizen nichts. Daß es auch in jenen Zeiten mit der ehelichen Treue und überhaupt mit dem Verhalten der Eheleute nicht immer stand, wie es sollte, weiß man, ja man erfährt zuweilen Erschreckendes darüber. An Betrübendem hat es da auch in Rostock nicht gefehlt. 1606 sollte der Brauer Heinrich Detloff, der sich mit seiner eigenen jungen Hausfrau, der Lübeckerin Katharina von Münster, nicht begnügt, sondern seinen Gang zu anderer guter Leute Kinder genommen und seine eigene Hausfrau in einem Warmbier zu vergiften versucht hatte, mit dem Schwert gerichtet werden; aber eben seine junge Hausfrau selbst und die Verwandtschaft bat für ihn und erreichte, daß er zu Stadtverweis begnadigt wurde. Er zog nach Ribnitz und seine Frau zog dorthin zu ihm. Das kann doch nur die Tat einer Liebe von großartiger Kraft des Verzeihens und des Vertrauens gewesen sein. 1606 müssen auch Henricus Knuppert - er war mit einer Schwester des aus Rostock stammenden Professors der Rechte Christian Ohm in Königsberg verheiratet - und Dorothea Nettelbladt, wohl eine Base seiner Frau, öffentlich Kirchenbuße tun, weil sie in Unzucht und Ehebruch miteinander gelebt. Und wenn der für den Rat vorgeschlagene Albertus Tunder 1582 mit der Begründung zurückgewiesen wird, daß er zwar sonst fromm und geschickt genug sei, aber kein Regiment über seine Frau habe, so besagt dieser Ausdruck doch wohl Ernsteres, als daß sie die Hosen anhatte. 1613 schwebt ein Reichskammergerichts-Prozeß zwischen Thomas Dobbin und seiner Ehefrau Margarete Dase. Beide sind Kinder von Ratsfamilien, sie klagt wegen Nichtgewährung des Unterhalts, er wegen böswilliger Verlassung. Die Ehe war von vornherein sehr unglücklich. Schon in der Brautzeit hatte sein launenhaftes und oft rücksichtslos verletzendes Verhalten es soweit gebracht, daß seine Verwandten nur mit Mühe einen Bruch verhinderten: Wenn sie erst unter eine Decke kämen, werde es besser werden. Aber es wurde nicht besser. Man hat fast den Eindruck krankhafter Reizbarkeit und Eifersucht bei dem jungen Ehemann, über die rohsten Mißhandlungen selbst im Wochenbett wird geklagt.

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Einmal ist das Paar zu einer Geselligkeit geladen und der Gastgeber will die junge Frau, die guter Hoffnung ist, in seinem Schlitten abholen. Aber der Ehemann zwingt sie, in seinen Schlitten zu steigen, und jagt mit der Geängsteten in toller Fahrt wiederholt um den Hopfenmarkt und den Kaak auf dem Markt, bis er schließlich den Schlitten umwirft. Ein andermal höhnt er die aus dem Fenster Schauende, sie sähe wohl nach ihrem Galan aus; und als sie nach seiner Angabe ihm mit einer unglaublich rohen Gebärde antwortet, nach ihrer aber schweigend an die Wiege ihres Kindes tritt, schleudert er ihr das Buch, in dem er gerade liest - und es wird nicht versäumt, zu bemerken, daß es ein kalvinistisches, also ketzerisches war -, in den Nacken, übrigens erfahren wir aus diesem Prozeß zugleich von einem anderen Ehepaar der Gesellschaft, bei dem auch die Frau ihrem Manne, Christoffer Klevenow, wegen Mißhandlung entlaufen ist. Sehr unglücklich war auch die zweite Ehe der Tilsche Engelbrecht († 1594), Witwe des Kleinschmieds Brand Falkenberg, mit dessen Zunftgenossen Hermann Dreier. Er mißhandelte sie und schlug noch die alte Frau so jämmerlich, daß sie zu ihrer Tochter flüchtete und der Pastor in ihrer Leichenrede erklärte, ihr Mann habe sie zu Tode mißhandelt. Und daß solche Roheiten damals doch häufiger waren, als zu unserer Zeit, darf von vornherein angenommen werden. Derber und gewalttätiger war das damalige Geschlecht ohne Zweifel. Auch daß junge Frauen, wie wir das etwa von Ottilie Möller († 1577), der ersten Frau des Ratssekretärs Joachim Wendt, hören, sich häufiger für längere Zeit in das elterliche Haus flüchteten, mag damals öfter vorgekommen sein als heutzutage, auch ohne daß, wie es freilich dem Herrn Ratssekretär vorgeworfen wird, schlechte Behandlung von Seiten des Mannes vorlag. Denn bei der nüchternen Art der Eheschließung mußten die jungen Frauen sich doch zunächst immer wieder nach der Wärme des Mutterhauses zurückgezogen fühlen, ehe das Leben sie mit dem Ehegatten auch innerlich zusammenwachsen ließ.

Von einer vornehmen Rostockerin, die mit dem Manne, dem man sie verheiratete, innerlich nichts verband, die dann ihr heißes Blut und ihr leichter Sinn auf schlimme Abwege brachte, bis sie schließlich in einem Dirnen- und Abenteuerleben zugrunde ging, berichtete die Rostocker chronique skandaleuse des 17. Jahrhunderts. Margarete Meyer, die Tochter eines sehr reichen Lakenhändlers, Schwester eines Rittmeisters Meyer, ist von ihrem Vater gezwungen, den an Alter und Sitten ihr sehr ungleichen Dr. Marquard Gerdes zu heiraten. Der Vater meinte, damit eine Dank-

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barkeitspflicht gegen dessen Vater erfüllen zu müssen. Die junge Frau redet bald schimpflich und verächtlich über ihren Mann, hält es mit verschiedenen Kurtisans und muß schließlich, da der Skandal zu groß wird, fliehen. In Lübeck lernt sie einen Hauptmann von Schock kennen, der sich in sie verliebt und sie auf ein Landgut bei Hamburg bringt. Dort hat er bisher mit seiner Frau zusammen gelebt, die er durch Entführung ihrer Mutter, einer reichen Hamburgerin, abgetrotzt hatte. Nun, wo er ihr in frivoler Rücksichtslosigkeit seine Mätresse ins Haus bringt, flieht sie zu ihrer Mutter zurück. Das Paar lebt dann in Mölln, wo ihm ein Sohn geboren wird, und in Ratzeburg. Ihren Unterhalt bestreiten sie von dem, was sie von ihrer Mutter, die in zweiter Ehe den Ratsherrn Dr. Buck geheiratet hatte, dadurch erpressen, daß sie deren Sohn an sich zu locken verstanden haben und ihn als Geißel mit sich herumführen. Als er aber entflieht, hört diese Quelle auf zu fließen, und nun verläßt der Hauptmann die Unglückliche, nachdem er sie mißhandelt und beraubt hat. Sie wandert in erbettelten Bauernkleidern nach Lübeck und wendet sich von dort an die Mutter. Von den Angehörigen in einem "Zuchthause" in Riga untergebracht, entweicht sie, um schließlich in Hamburg an der französischen Krankheit zugrunde zu gehen. Die Sterbende wendet sich an einen Rostocker, den Oberküster von St. Michaelis, Georgius Maß, und er vermittelt ihr ein ehrliches Begräbnis in dieser Kirche, so erzählt uns der Ratsherr Matthias Priestaff in seinem Tagebuch zum Jahre 1680.

Das sind einzelne Spure; eine Durchforschung namentlich der Gerichtsakten in dieser Richtung würde zweifellos noch manches Traurige ans Licht ziehen. Schon eine flüchtige Durchsicht der Verzeichnisse ergibt die Häufigkeit der wegen Mißhandlungen und böswilliger Verlassung geführten Prozesse. Wie sollte das auch anders sein, die Menschen waren damals nicht anders wie heute. Aber wie war das Verhältnis in den äußerlich korrekten Ehen? Darüber verraten uns die Akten wenig. Daß häufig die Gattin in den Urkunden von ihrem Ehegatten als seine freundliche, liebe Hausfrau bezeichnet wird, besagt nicht viel, das ist eine stehende Floskel. Die Leichenprogramme rühmen oft die Zärtlichkeit, die Wärme und den Frieden des ehelichen Verhältnisses und schildern mit starken Ausdrücken den Schmerz des Überlebenden, aber bei ihrer grundsätzlichen Neigung, in den höchsten Tönen zu loben, darf man auch da nicht alles für vollwichtige Münze nehmen, und etwaige Unstimmigkeiten würden natürlich mit Schweigen übergangen. An anderen Quellen fehlt es. Wenn von der erwähnten

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Anna Beselin eine Äußerung, die sie über ihren zweiten Mann, den Bürgermeister Jakob Lembke, im Hause ihrer Schwester, der Hermannschen, getan hat, aufbehalten ist: "Lembke schweige nur stille, er ist aus meinen Gütern um mehr denn 10000 Gulden gebessert", so klingt das ja nicht gerade sehr freundlich, gibt aber doch als Gelegenheitsäußerung kein Recht, auf eine ungenügende Temperatur dieser Ehe zu schließen. Ganz hübsch ist es ja, daß man bei dieser Gelegenheit erfährt, daß der Brauch, daß Frauen ihre Männer, wenn sie von ihnen, und dann doch wohl auch, wenn sie zu ihnen sprachen, mit ihrem Familiennamen bezeichneten (ein Brauch, den ich in meiner Kindheit mit Verwunderung bei älteren Damen zuweilen bemerkte), schon damals bestand. Über das innere Verhältnis der Ehegatten zueinander erfahren wir also kaum etwas. Aber meiner Meinung nach wäre es grundfalsch, aus der uns reichlich nüchtern und geschäftsmäßig anmutenden Art, wie die meisten dieser Ehen zustande kamen, zu schließen, daß es diesen Verhältnissen im allgemeinen an Wärme und Hingabe gefehlt habe. Man darf diese Ehen keinesfalls mit jeder modernen Geldheirat, bei der die eigene Persönlichkeit bewußt und mit oft zynischer Unterdrückung besseren Empfindens verkauft wird, auf eine Stufe stellen. Man muß auch beachten, daß die ganze Zeit viel weniger individualistisch gestimmt war, und ihr das Recht und die Bedeutung der Persönlichkeit noch nicht, oder nicht bewußt aufgegangen war. Man braucht sich auch nur zu erinnern, daß es auch heute noch Volksschichten gibt, in denen ebenso ganz selbstverständlich praktische Erwängungen ausschlaggebend sind. Wer sie kennt, weiß - trotz allem Häßlichen, das auch da in Erscheinung tritt -, wieviel ganz selbstverständliches, schlichtes, treues Zueinanderstehen, ja wieviel gemütvolle Herzlichkeit sich oft auch in diesen Ehen aus dem gemeinsamen Erleben und Arbeiten, vor allem aus dem streben und sorgen für die gemeinsamen Kinder entwickelt. Es wird bei den Ehen unserer Altvorderen nicht anders gewesen sein.