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Flachgrab von Wiligrad (bei Schwerin).
(Kat.=Nr. St. 115.)

Im Parke zu Wiligrad, dem früheren Lübstorfer Holze, ist man im Januar 1900 beim Kiesfahren auf eine alte, äußerlich nicht erkennbare Begräbnißstelle gestoßen. Etwa 1 km nordöstlich vom Anhalte Wiligrad entfernt, liegt rechts von der neuen zum Schlosse führenden Chaussee ein rundlicher Kieshügel in natürlicher Schichtung. Bei der Abtragung fand man etwa 60 cm unter der Oberfläche eine Anzahl Gebeine. Eine Untersuchung des Fundortes durch Verfasser am 18. Januar v. Js. und ein Verhör des Chausseewärters Dube, welcher die Aufsicht bei den Arbeiten geführt und einen Theil der Gebeine in Verwahrung genommen hatte, ergab Folgendes:

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Die Skelette lagen in einer rahmenförmigen Steinsetzung aus mittelgroßen Steinen (20-30 cm Durchm.); diese war durch Querschichten kleiner Steine in fünf Abtheilungen getheilt.

Skizze  zur Steinsetzung

Der innere Raum der ganzen Steinsetzung betrug in der Länge 2, in der Breite etwa 1 m; die Richtung war nord=südlich. In jedem der fünf Räume lagen die Gebeine frei im Boden, über jedem Schädel fand sich ein größerer Stein. Der Raum für jede Leiche war nach dem Gesagten sehr klein (1 m x 30 cm), die Gebeine lagen durch und auf einander, zerdrückt und gebogen; an einer Stelle lagen Rippe, Schlüsselbein, Oberschenkelkopf neben einander, die fünf Schädel aber lagen alle in der Mitte des Grabraums und standen alle aufrecht ("stuhr uppsätt", sagte mein Gewährsmann). Brandspuren, Scherben oder Beigaben irgend welcher Art sind nicht beobachtet. - Die meisten Schädel waren sehr mürbe und zerfielen, erhalten geblieben ist nur einer; dieser ist auf Höchsten Befehl Seiner Hoheit des Herzog=Regenten dem Großherzoglichen Museum überwiesen.

Wenn wir das Grab hier bei den steinzeitlichen Funden behandeln, so geschieht das natürlich nur als Vermuthung, zumal die gute Erhaltung des Schädels in so geringer Tiefe eine wesentlich jüngere Zeit wahrscheinlich machen würde; da alle Beigaben fehlen, die Schädelformen allein aber noch nicht als zeitliches Bestimmungsmittel vorgeschichtlicher Begebenheiten verwendbar sind, so bleibt ja nur die Grabform über. Diese ist aber so eigenartig, daß meines Wissens keine andere vorgeschichtliche Periode Analogie bietet als die Steinzeit. Der enge Raum, auf dem die Gebeine beigesetzt sind, und die unnatürliche Stellung des Schädels weisen dahin, daß hier ein Beispiel einer Bestattungssitte vorliegt, wo der Leichnam erst nach Entfernung der Fleischtheile seine letzte Ruhestätte gefunden hat; zahlreiche Beobachtungen auf sehr verschiedenen Gebieten, besonders auch die noch bestehenden Sitten mancher primitiven Völkerstämme machen es wahrscheinlich, daß in solchen Fällen der Leichnam zunächst eine vorübergehende Aufbewahrung gefunden und erst in macerirtem Zustande dem endgültigen Grabe übergeben ist. Es sei dafür auf

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die eingehenden Ausführungen von Cartailhac in dessen la France prehistorique verwiesen, wo S. 257 aus neolithischen Grabhöhlen der Champagne Beispiele einer derartigen Behandlung der Leichen und aufrechter Schädelstellung angeführt sind; vgl. dazu auch Virchow in den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie 1898, S. 283. Ebenda 1900, S. 146 erwähnt Goetze ein jung=neolithisches "Hockergrab" aus der Uckermark, in dem der Schädel ganz wie bei dem unseren aufgesetzt war; auch der Fund aus einem steinzeitlichen Hügelgrabe von Tensfeld im östlichen Holstein, wo die Gebeinreste von zehn Personen auf einem Raum von 0,70x1,15 m zusammengedrängt gefunden wurden, sei hier erwähnt. (Vgl. Mestorf, Mitth. d. anthrop. Vereins in Schleswig=Holstein 12, S. 30.)

Zur Grabform selbst. Steinzeitliche Flachgräber ohne wesentlichen Steinschutz sind in den letzten Jahren sehr in den Vordergrund gerückt worden. Auf Grund eines sehr bedeutenden Materials hat Sophus Müller, Aarbøger 1898, S. 157 flgd. nachgewiesen,. daß die besonders auf der Westseite von Jütland häufigen "Einzelgräber" in mehrere zeitlich zu trennende Gruppen zerfallen, von denen die älteste den "Riesenstuben" gleichzeitig, aber in der ganzen Ausstattung verschieden ist, während die jüngste, den Steinkistengräbern gleichaltrig ist und sich auch in der Ausstattung nähert; Müller sieht in den Einzelgräbern die Bestattung eines neu eingedrungenen, den Erbauern der Hünengräber stammfremden Volkes. Aehnliche Gräber mit ähnlichem Inhalte finden sich in Schleswig=Holstein, Meklenburg, den nördlichen Theilen von Brandenburg und im Gebiete der unteren Oder, und man nimmt an, daß diese Begräbnißform fremd, in einem jüngeren Abschnitte der neolithischen Periode von Süden her eingedrungen ist. (Schumann, Nachr. über deutsche Alterthumsfunde 1898, S. 89.) Die wenigen bisher in Meklenburg bekannt gewordenen Beispiele sind Jahrb. 64, S. 88 besprochen. Ueberall stnd es überwiegend gestreckt gebettete Leichen, doch kommen auch liegende Hocker (z. B. in Ketzin Ost=Havelland, Goetze a. a. O.) oder regellos beigesetzte Gebeine in der Art der Wiligrader vor. Eine so überzeugende Gliederung dieser Grabformen, wie sie für Jütland gelungen ist, ist auf deutschem Boden noch nirgends möglich; eine völlige Analogie für die Form des Wiligrader Grabes weiß ich nirgends nachzuweisen; wir müssen uns begnügen, es in diesem Zusammenhange aufzuführen, genauere Auskunft von weiterer Erforschung des Landes erwartend.

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Das einzige Fundstück, welches erhalten geblieben ist, ist der Schädel. Die folgenden Maaße desselben sind gegeben nach den Messungen des Herrn Dr. Asmus in Teterow, welcher sie uns zu diesem Zwecke mit dankenswerther Bereitwilligkeit zur Verfügung gestellt hat. Gerade Länge 179 mm, größte Länge 181 mm, Intertuberal=Länge 177,5 mm. - Größte Breite

Schädel

143,5 mm, Stirnbreite 101,5 mm, Ohrbreite 129 mm, Hinterhauptsbreite 115 mm. - Länge der Schädelbasis 103 mm. Breite der Schädelbasis 104,5 mm. - Ganze Höhe 139 mm, Ohrhöhe 118 mm. - Horizontalumfang 530 mm. - Stirnbogen 135 mm, Scheitelbogen 135 mm. - Vertikaler Querumfang 325 mm.- Gesichtslänge 117 mm, Obergesichtslänge 68 mm, Jochbreite 134,5 mm, Gesichtsbreite 94 mm. Foramen magnum bis Oberkiefer 87,5 mm, F. m. bis Kinn 108 mm, Augenhöhe 31 mm, Augenbreite 41,5 mm, Nasenhöhe 53 mm, Nasenbreite 27,5 mm,

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Gaumenlänge 48 mm. Gaumenbreite 45 mm, Unterkieferwinkelbreite 108 mm, Astbreite des Unterkiefers 35 mm, Kinnhöhe 31 mm. - Indices: Längenbreitenindex 79,3, Längenhöhenindex 76,8, Breitenhöhen 96,9, Gesichtsindex nach Kollmann 86,9, Obergesichtsindex nach Kollmann 50,6, Gesichtsindex nach Virchow 124,5, Obergesichtsindex nach Virchow 172,3, Nasenindex 51,9, Augenindex 74,4, Gaumenindex 93,7.

Das Geschlecht bestimmt Herr Dr. Asmus als männlich, das Alter auf etwa 30 Jahre.

Der Schädel ist ziemlich fest, gut erhalten bis auf einige Verletzungen, die er bei der Entnahme aus dem Boden davon getragen hat. Die Zähne sind gut und vollständig bis auf drei nach der Auffindung verlorne, die Nähte beginnen zu verknöchern.

Nach den oben gegebenen Maaßen ist der Schädel als hochgradig mesocephal, fast brachycephal (breitköpfig), hypsicephal und mittelhoch zu bezeichnen; die Hohe ist bedeutend für einen so breiten Schädel. Der Typus nähert sich ziemlich dem meklenburgischen Wendenschädel, wie ihn neuerdings Asmus ("Die Schädelformen der altwendischen Bevölkerung Meklenburgs", S. 9) festgestellt hat, unterscheidet sich aber durch größere Annäherung an Brachycephalie und durch Länge des Gesichtes.

Ueber steinzeitliche Schädel aus Meklenburg fehlt noch eine zusammenfassende, alle erforderlichen Momente berücksichtigende Untersuchung; die von Brückner (26. Jahresbericht des Museums von Neubrandenburg 1898) behandelt sie nur nach dem Verhältniß des Längenbreitenindex; danach sind die aus neolithischen Steinkammern stammenden Schädel durchweg dolichocephal; eine zweite Gruppe sehr alter Schädel ("Torfschädel" und Schädel aus "Urvolkgräbern") dagegen überwiegend brachycephal. Das stimmt durchaus mit den Beobachtungen in den skandinavischen Ländern, wo neben vorwiegender Dolichocephalie ein starker Procentsatz brachycephaler Schädel in der Steinzeit beobachtet ist. Dagegen würde, nach gefälliger Mittheilung des Herrn Dr. Schumann in Löcknitz, in Pommern ein Schädel von so hochgradiger Mesocephalie, wie der Wiligrader, eine Ausnahmestellung einnehmen. Danach würde also der besprochene Schädel sich in die Reihe der altwendischen Schädel leichter einreihen lassen als in die der steinzeitlichen, aber seine Zugehörigkeit zu der letzteren ist doch sehr wohl möglich.