Seite 34 |
|
:
1.
Der fürstliche. Stuhl in St. Jürgens
Kirche
zu Wismar.
Von Dr. F. Crull.
Im Jahre vor seiner Vermählung mit der Pfalzgräfin, die am 5. Juni 1513 zu Wismar stattfand, erbaute Herzog Heinrich der Friedfertige auf dem dortigen fürstlichen Hofe den an der Westseite desselben, dem Chore von St. Jürgen gegenüberliegenden Flügel. Da eine Schloßkapelle (M. U.=B. Nr. 8055) vielleicht eingegangen war, und die Fürstlichkeiten in der gedachten Kirche ihren religiösen Pflichten nachkamen, so hielt Herzog Heinrich ein paar Jahre später beim Ordinarius, dem Bischofe von Ratzeburg, um die Freiheit an, einen Gang vom Fürstenhofe über die Straße weg zur Kirche zu haben, um desto eifriger (devotius) dem Gottesdienste beiwohnen zu können, eine Freiheit, welche ihm denn auch unter dem 12. Juni 1516 (Jahrb. V, S. 268) unter gewissen Bedingungen gewährt worden ist. Dieser in Holz ausgeführte, vermuthlich sofort errichtete Gang ist, wie man zur Zeit noch erkennen kann, aus dem oberen Stockwerke des Flügels in einer Höhe von etwa 17 Fuß über die Straße geführt, ist in das östliche Fenster der nördlichen Abseite der Kirche eingetreten, hat dann die nordöstliche (Vickesche?) Kapelle schräge durchsetzt und auf einer zwischen dieser und der Sakristei, bezw. Liberei, belegenen, zweifellos gleichzeitig mit dem Gange erbaueten Empore ausgemündet; allem Ansehen nach war der Gang so schmal, daß zwei Personen nicht neben einander gehen konnten.
Die gedachte Empore ist mit einem Kreuzgewölbe überdeckt, wird erhellt durch ein vierlichtiges Fenster, welches mit einem Stichbogen, gegen den die drei Pfosten stumpf stoßen, abgeschlossen ist, und öffnet sich gegen das nördliche Seitenschiff in einem weiten Spitzbogen, so daß man von der Empore grade auf den Hochaltar sieht. Der Raum unter dieser Empore, das Erdgeschoß, ist gleich=
Seite 35 |
falls mit einem Kreuzgewölbe überdeckt und empfängt sein Licht durch ein einpfostiges, im Korbbogen geschlossenes Fenster. Eine Verbindung zwischen diesem unteren und dem oberen Raume ist und war nicht vorhanden. Zugänglich ist das Erdgeschoß von der Abseite durch eine enge Pforte, welche anscheinend 1592/93 an Stelle der ehemals, vor Erbauung der Empore, hier befindlichen Thüre hergestellt worden ist, während zur selbigen Zeit die noch jetzt vorhandene, im Rundbogen geschlossene und mit zwei tauförmigen Rundstäben eingefaßte Pforte in der oben erwähnten nordöstlichen Kapelle eingebrochen wurde. Von dieser Kapelle aus gelangt man mittelst einer 1584/85 hergerichteten, mit einem gemauerten Mantel versehenen Wendeltreppe auf die obgedachte Empore und ferner auf die Räumlichkeit oberhalb der Sakristei - die vormalige Liberei - , sowie in den Dachraum der nördlichen Abseite.
Die Ueberschrift der Kirchen=Rechnung, betreffend den Bau der Wendeltreppe, lautet: Tho dem windelsteen, alse me inwendigh der kercken vp der fursten gestolthe gahn will. Daraus scheint doch zweifellos hervorzugehen, daß die gemauerte Empore als der fürstliche Stuhl zu verstehen sei; wird ja doch auch die ehemalige fürstliche Empore im Dome zu Schwerin 1572 ein Stuhl genannt, obschon sie auch gemauert war (Jahrb. V, S. 71 f.). Die Vermuthung Dr. Lisch's (a. a. O. S. 14), der oben beregte Gang habe neben dem Hochaltare ausgemündet, ist demnach nicht zutreffend und dadurch entstanden, daß einer unter den an der Südseite des unteren Chores aufgestellten Rathsstühlen auf seiner Docke oder Wange Schild und Helm der Herrschaft Meklenburg zeigt. Aber schwerlich sind diese als Zeichen fürstlichen Eigenthums dort angebracht. Vier der Docken des Rathsgestühls, nämlich die besagte, eine mit dem Schilde der Stadt, eine mit dem des Raths und eine mit dem Salvator, sind laut Inschrift 1562 angefertigt, aber 1584/85 bei Veränderung des Gestühls im Chore sammt zwei mittelalterlichen mit den Bildern St. Jürgens und St. Martins, die man jenen conform zurechtstutzte, an der genannten Stelle placirt. Hätte das Wappen ein fürstliches Recht anzeigen sollen, so würde in damaliger Zeit sicher das ganze, das fünffeldige Wappen angebracht worden und der betreffende Stuhl an die erste Stelle gerückt sein, während er bis zur jetzigen, der Restauration von 1890 entstammenden Anordnung der sechs Docken die zweite, wenn nicht gar die dritte Stelle einnahm.
Unmöglich wäre es allerdings nicht, daß in der Folge an irgend einer Stelle der Kirche ein fürstlicher "Chor" erbaut worden wäre, da man von der Empore aus von der Predigt nichts hören konnte,
Seite 36 |
und es liegt nahe, zu vermuthen, daß deshalb die Wendeltreppe angelegt worden sei, eine Annahme, welche dadurch noch gestützt werden könnte, daß es zur schwedischen Zeit in der St. Jürgens=Kirche einen Tribunalschor gegeben hat, welcher sammt dem oben gedachten Gange zur Kirche 1743 abgebrochen worden ist. Da aber die Landesherren jener Zeit nur sehr vorübergehend nach Wismar kamen, scheint doch kein Grund für sie gewesen zu sein, einen Chor für sich herstellen zu lassen, und kann die Wendeltreppe auch sehr wohl angelegt sein, um einen Zugang zum Dachraume des Chores herzustellen, zumal dieselbe aus Kirchenmitteln erbaut worden ist. Der Jahrb. V, S. 14, N. 2 erwähnte Widerstand der Stadt gegen Errichtung eines fürstlichen Chors im 17. Jahrhundert - 1627 - bezog sich auf die eines solchen in der St. Marien=Kirche.